Epicure – von Elfen und Glühwürmchen
»Das Wichtigste«, sagt Restaurantleiter Stéphane Aignel, sei ja, dass man »einen wundervollen Abend« habe. Es ist seine Antwort auf meine Frage bezüglich einer sinnvollen Anzahl an Gängen sowie Portionsgrößen beim Auswählen der Speisen à la carte. (Es gibt auch ein Menü für € 395, aber eine eigene Auswahl bereitet mir am meisten Freude.) Was Aignel damit sagen möchte ist: Hier ist alles machbar, machen Sie sich keine Gedanken, wir kümmern uns um alles. Es ist die routinierte Antwort von jemandem, der nicht nur weiß, wie man Gäste souverän und humorvoll durch den Abend führt, sondern sich auch selbst genau in die Situation der Gäste hineinversetzen kann.
Das Epicure im Hotel Le Bristol ist einer der großartigsten Schlemmertempel in Paris und der ganzen Welt. Jedes Mahl, das ich hier genossen habe, war unvergesslich und prägend. Das betrifft sowohl die kulinarischen Aspekte als auch das gesamte Drumherum, vom charmanten Service über die edle Ausstattung bis hin zum unkomplizierten Kontakt.
Ein Umstand ist heute aber neu. Ich speise zum ersten Mal auf der Terrasse. Sie ist Teil des prachtvollen, begrünten Innenhofs des Hotels – eine Oase der Ruhe, mit kleinem, plätscherndem Brunnen und weiteren Tischen des Gastronomiebetriebs Le Jardin Français.
Die Stimmung hier draußen ist magisch. Durch die hohen umliegenden Gebäude ist der Innenhof komplett windgeschützt – ideal an diesem lauen, vorsommerlichen Abend –; und als später die blaue Stunde beginnt, wähnt man sich in einem Märchen.
Mittlerweile steht die Auswahl meiner Gerichte. Ein erster Wein ist auch schon im Glas, ein 2013er Meursault von der Domaine Coche-Dury (€ 495), der sich am Tisch noch während der Amuse-Bouches zügig seinem Ende zuneigt und dann von einem 2009er Nuits-Saint-Georges 1er Cru »Les Pruliers« von Henri Gouges (€ 240) abgelöst wird.
Als eine von drei gleichzeitig servierten Petitessen gibt es zunächst eine Zubereitung mit gezupftem Taschenkrebs und einer Creme mit Yuzu und Rettich. Letztere ergänzt das süßliche, schneeweiße Krebsfleisch um die säuerlichen, floralen Noten der asiatischen Zitrusfrucht sowie um an Senf erinnernde Aromen, was die elegante Speise etwas bodenständiger erscheinen lässt – absolut passend für eine französische Aperitifspeise. (9/10)
Der zweite Snack ist ein Reiscracker mit Garnelen, ganz schlicht, aber präzise umgesetzt, kurzweilig am Gaumen und mit qualitativ hervorragendem Meerestier (8,5/10). Das Ende des Amuse-Trios macht eine hauchdünne Tartelette mit Avocadocreme und leuchtendgrünen jungen Erbsen – ätherisch und frisch, aber nicht ganz an die grandiosesten aller Erbsenqualitäten heranreichend (8,5/10).
Ein weiteres Amuse-Bouche ist ein Schaum vom Schellfisch, der auf ein Blumenkohlpüree und ein Gelee von roten Zwiebeln aufgetragen ist. Die kühl servierte Speise ist deutlich raffinierter als man es erwarten könnte, wenn ein »Schaum« im Mittelpunkt steht. Doch die Aromen von Fisch und Zwiebel sind ganz klar und fast schon schelmisch herausgearbeitet. Geschmacklich erinnert mich das Ganze sehr an ein Fischbrötchen. Kleine Zwiebelstücke unterstreichen dabei erneut eine Art Bodenständigkeit, der man in Frankreich in der Spitzenküche öfter begegnen kann. Keine Frage, die federleichte, elegante Speise ist auf Weltklasseniveau. (9/10)
All das, in dieser großartigen Atmosphäre, steigert die Vorfreude auf das Kommende.
Der erste von mir gewählte Gang huldigt Morcheln (halbe Portion € 60). Sie sind mit Kalbsbries und Landschinken farciert und in einem leichten, mit Vin Jaune aromatisierten Jus angerichtet. Diese Kombination allein ist für mich schon eine Reise wert. Die fingerhutgroßen Morcheln sind hocharomatisch, bissfest gegart, Bries und Schinken könnten kaum besser dazu passen. Am Gaumen entsteht eine »ländliche«, waldige Herzhaftigkeit, die sich mit ihrer offenkundigen Gefälligkeit aber nicht allzu breit macht, sondern von der leichten Säure der Sauce im Zaum gehalten wird. Dazu zeugen »Schwämme« aus Kresse davon, dass man auch im Epicure nicht vor neuartigen Zubereitungen zurückschreckt, sie spielen hier aber eine angenehm zurückhaltende Rolle und liefern geschmacklich einen sinnvollen, frisch-herben Akzent. Der fehlenden anderen Hälfte des Gerichts trauere ich jetzt schon nach. (9/10)
Doch die mit Foie Gras, schwarzem Trüffel und Artischocke gefüllten und mit Parmesan gratinierten Makkaroni »Candele« lassen keinen Frust aufkommen (halbe Portion € 58). Tatsächlich vergehen nur wenige Tage im Jahr, an denen ich nicht zumindest einmal kurz an diesen Klassiker denken muss. Wer sich mit diesem kulinarischen Tinnitus nicht sein Leben lang herumplagen möchte, sei hiermit vor einer erstmaligen Kostprobe dieses Gerichts gewarnt. Zu verführerisch ist der intensive Umami-Geschmack von Kalbsjus und Parmesan, zu einprägsam die dichte Sauce und die bissfesten, dickwandigen Nudeln. Was von dem Exzess bleibt, sind klebrige Lippen und eine Erinnerung fürs Leben, die ich von Zeit zu Zeit auffrischen muss. (10/10)
Der nächste Gang ist ein weiterer Klassiker – und für mich eine Premiere hier. Es geht um die Poularde de Bresse »en vessie« (€ 320 für zwei Personen). Ein Bresse-Huhn wird dafür in einer Rindsblase gekocht, wodurch es maximal saftig und aromatisch bleibt. (Schweinsblasen, die für diese Zubereitung sonst gängiger sind, werden hier aus Rücksichtnahme vor vielen muslimischen Gästen nicht verwendet, erläutert man.) Die Präsentation der kugelrunden Blase am Tisch auf einem Silbertablett mit nachgeahmten Hühnerfüßen ist legendär.
Richtig ergreifend ist der Moment, in dem das Tier am Tisch tranchiert wird. Allen Beteiligten, uns Gästen und sogar dem Personal, steht die Freude über diesen Akt ins Gesicht geschrieben. Und das, obwohl das Gericht hier jeden Abend dutzendfach die Küche verlässt. An so etwas kann man einfach nicht die Freude verlieren. Entsprechend routiniert sitzt jeder Handgriff, und wenig später ist der erste von zwei Gängen angerichtet.
Dieser präsentiert sich in Form eines Bruststücks, das mit Vin-Jaune-Sauce übergossen wird und an das Morcheln und Stücke von grünem Spargel gegeben werden. Mit frisch gemahlenem Pfeffer aus einer großen Mühle wird das Gericht abrundet, was mich etwas schmunzeln lässt, weil es Parallelen zu manch zweifelhaftem italienischem Restaurant aufweist. (Es kommt eben immer darauf an.) Der Gang ist erhaben. Eine derart saftige, aromatische Hühnerbrust habe ich bisher noch nicht gegessen. Die Vin-Jaune-Sauce ist dicht und mit einer appetitanregenden, leichten Säure ausgestattet, Morcheln und bissfest gegarter grüner Spargel bereichern das Gericht um Frische und eine leichte Süße. Aufgrund eines sonderbaren Bezugsproblems, das ich nicht genau verstehe, werden heute Abend keine Flusskrebse dazu serviert, die normalerweise ebenfalls dazu angerichtet werden. Man käme natürlich nicht auf die Idee, dass solche hier fehlten. Der Teller ist bereits in dieser Form vollkommen und unvergesslich. Von einer »gefährlichen«, herzhaften Brioche mit Schinken und Tomate ist auch noch etwas da, um den Teller blitzblank zu putzen.
Der zweite Gang beinhaltet die Keulen und Pfaffenstückchen (Sot-l’y-laisse), die in eine Lauchsuppe mit ausgekochtem Huhn geschnitten wurden. Das heiße, intensive Elixier ist vielleicht die beste Suppe, die ich je probiert habe. Klebrig vom Kollagen des Huhns, heiß und aufwühlend, geschmacklich sehr intensiv – und bei allen Extremen dennoch leicht und elegant. Unbegreiflich gut. (Alles 10/10).
Angenehme zwei Stunden sind jetzt vergangen. Die blaue Stunde lullt den Garten ein wie Nebel, das warme Licht aus dem Gebäudeinneren wirkt gemütlich der Dunkelheit entgegen, und ein kleiner Burgunderlagen-Vergleich in Form eines 2009er Gevrey-Chambertin »Vielles Vignes« von Denis Mortet (€ 305) und eines 2007er Gevrey-Chambertin »Vielles Vignes« von der Domaine Sérafin (€ 270) endet am Tisch mit einem genussvollen Patt.
Es ist jetzt eigentlich Zeit für das letzte Drittel des Abends – und für die Antwort auf die Frage, ob man vor den Desserts noch Käse wünscht. Aber ich lasse mir noch einmal die reguläre Speisekarte reichen und den Gedanken an ein baldiges Ende des Festmahls in die Ferne rücken. Dass man einfach nur Spaß haben soll, daran erinnert der Maître noch einmal nachdrücklich, als ich frage, ob jetzt noch ein herzhafter Gang möglich sei.
Wenig später steht ein Gericht mit Kalbsbries vor mir (halbe Portion € 65). Die goldenen bis dunkelbraunen Röstspuren weisen bereits appetitlich auf die leicht knusprige Kruste des faustgroßen Stücks hin, von dem ich vermute, dass man die »halbe Portion« etwas großzügig ausgelegt hat. Die Besonderheit dieses Gerichts ist eine Kombination mit maritimen Begleitern. (Dieses spannende Surf-and-turf mit Bries und Meerestier habe ich interessanterweise kürzlich schon mal im Le Taillevent erlebt; es war dort der beste Gang.) Das Bries hier wurde in Algenbutter ausgebraten und ist mit Sardellen gespickt, ein handwerklich geschickter Kniff. Die grüne Sauce, in der das Stück Bries thront, ist ein »Salatjus«, der entsprechende Bitternoten mitbringt. Diese passen hervorragend zu einigen ausgelösten Stab- und Herzmuscheln, die man auch noch auf dem Teller findet. Ein Austernblatt unterstreicht das maritime Leitmotiv des Gerichts, das sich jedoch nicht in der Vordergrund drängt, sondern äußerst elegant die recht »spezielle« und ab einer bestimmten Menge schnell überfordernde Konsistenz des Bries durch die Meeresaromen und etwas Bitterkeit kontrastiert. Es ist ein überragendes Gericht mit Bries und für mich eine neue Referenz. (10/10)
Ein Campari-Grapefruit-Sorbet leitet nach dem herzhaften Exzess dann die Desserts ein. Gekonnt spielt man abermals mit leichter Bitterkeit; zusammen mit der Fruchtsüße und der samtigen Textur des Eis wirkt dieses kühle Intermezzo beruhigend und belebend zugleich. Das ist ein Pré-Dessert auf höchstem Niveau. (9/10)
Beim eigentlichen Dessert (€ 40) folge ich einer Empfehlung des Maître, die ich sonst vermutlich nicht gewählt hätte. Es geht um Rhabarber in einer Zubereitungsform, die man schnell überliest, die aber das eigentliche Highlight darstellt. Dabei sind Rhabarberstücke zusammen mit einem Perilla-Blatt in einer Kruste aus Zucker gegart. Ganz ähnlich wie ein Teig- oder Salzmantel behält auch hier das Gargut seine Saftigkeit, der Zucker sorgt aber auch noch dafür, dass der Rhabarber seine aggressive Säure verliert und mit einer für dieses Dessert genau richtig dosierten Süße ausgestattet ist.
Angerichtet werden die zarten Gemüsestücke auf wiederum anders präparierten Rhabarberstreifen, dazu gibt es noch etwas knusprig gepufftes Getreide und ein unerhört gutes, cremiges und fruchtbetontes Rhabarber-Champagner-Sorbet. Das Dessert ist eine weitere Kreation der Superlative aus diesem Haus und endgültig der Beweis dafür, dass man genau hier an diesem Platz im wahrhaftigen Schlaraffenland sitzt. (10/10)
Die stadtbekannten Macarons, etwas spielerischer Marshmallow und intensive Schokoladenpralinen festigen meinen Eindruck, dass es hier nicht ganz mit rechten Dingen zugeht. Es fehlen eigentlich nur noch Elfen und Glühwürmchen in diesem Zaubergarten. Aber wenn ich ganz genau hinsehe, erkenne ich sie sogar.
Informationen zu diesen Besuchen | |
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Restaurant: | Epicure (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Eric Frechon |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 14.05.2022 |
Guide Michelin (F/MC 2022): | *** |
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