Le George – Tarte Tatin, Tarte Tatin!

In Paris gib es ein neues Drei-Sterne-Restaurant namens Kei (Bericht folgt). Natürlich hat es nicht lange gedauert, bis ich einen Kurztrip in die französische Metropole im Kalender stehen hatte. Doch von den wenigen gastronomischen Erlebnissen, die mir während meines 40-Stunden-Aufenthalts überhaupt möglich sind, freue ich mich am meisten auf ein Mittagessen beim Innenhof-Italiener meines Hotels.

Zugegeben, das war jetzt etwas viel Understatement. Der Innenhof ist nicht weniger als einer der schönsten in ganz Paris; meine Bleibe, das Four Seasons George V, ist mit »Palast« deutlich treffender beschrieben; und der »Italiener« ist ein Sternerestaurant mit einer Speisekarte, die eine unmissverständliche Sprache spricht: die Sprache von vergnüglichem, ungezwungenem mediterranem Genuss auf kosmopolitischem Niveau.

Die Hotelkette Four Seasons – nicht zu verwechseln mit vielen Hotels, die bei uns zulande die Wörter »Vier Jahreszeiten« im Namen tragen – ist kulinarisch und gastronomisch ohnehin eine der am hochkarätigsten aufgestellten der Welt. Es ist kein Zufall, dass es in Deutschland keine Dependance gibt, sondern konsequent. Also, Maske auf, ab ins Flugzeug nach CDG und rein in die Four-Seasons-Welt.

Sofern man draußen sitzen kann, genießt man sein déjeuner an weiß gedeckten Tischen auf einem Marmorfußboden, mit Blick auf die Fensterfronten aller drei Hotel-Restaurants: Le George, L’Orangerie und Le Cinq – insgesamt fünf Michelin-Sterne. Es ist der entspannten Speisekarte, und, noch viel mehr, dem souveränen und charmanten Personal zuzuschreiben, dass selbst in diesem luxuriösen Rahmen kein Gefühl von Steifheit aufkommt. Die genauen Details auszumachen, die einen solchen Service so hervorragend machen, fällt nicht leicht. Wichtige Punkte sind Humor, authentische Freundlichkeit und eine Art, sich weder über noch unter dem Gast zu positionieren. Es ist in etwa so als wäre man bei neuen Freunden zum Abendessen eingeladen, die einem auch versuchen, alles recht zu machen, aber eben nicht aus Unterwürfigkeit, sondern aus Nettigkeit. Das sinniere ich zumindest bei meinem ersten Glas 2015er Meursault »Les Grands Charrons« von der Domaine Michel Bouzereau (Glas € 36), eingeschenkt in exzellente Mark Thomas-Weingläser. (Immer schön, wenn man seine Gläser zu Hause lassen kann.)

Ich eröffne mein Mittagessen mit drei Gerichten aus dem Speisekartenabschnitt »Crudo«, der mit einem halben Dutzend Gerichten um überwiegend rohen Fisch signalisiert, dass es hier um leichte Einstimmungen geht, die man sich auch problemlos teilen kann.

Es gibt mit Zitrone und Yuzu marinierte Gelbschwanzmakrele, perfekt temperiert, mit gehaltvollem Schmelz und appetitlicher Säure (€ 18). Schon der erste Happen offenbart eine Produktqualität der Superlative (7,5/10). Wolfsbarsch, ebenfalls roh (€ 25), begeistert mit einer blumigen, ätherischen Schärfe von grünem Pfeffer, kandierten Tomaten und einer Sauce, die geschmacklich an Vitello Tonnato erinnert (8/10). Thunfisch, in diesem Fall minimal gegart, ist schlicht kombiniert mit äußerst aromatischen Scheiben von australischem Trüffel (€ 28). Ein Gedicht von luxuriöser Opulenz (8,5/10). Überflüssig, zu erwähnen, dass man hier nicht mit Trüffelöl malträtiert wird.

Einer weiteren Vorspeise mit dünnen Scheiben von über Holzkohle gegrilltem Oktopus mit Haselnuss-Crumble, Kalamata-Oliven und kandierten Tomaten muss man überraschenderweise aber mit etwas Olivenöl und Meersalz am Tisch nachhelfen. Ein Pluspunkt, dass beides in sehr guter Qualität bereitsteht. (6,9/10)

Das nächste Gericht trifft mich dann wie ein Blitz. Die Kreation präsentiert eine Tarte Tatin mit kandierten Tomaten und Cacio e pepe-Eis (€ 15). Die üppig portionierten, dicht geschichteten Tomatenfilets bieten ein aufwühlendes Geschmacks-Decrescendo von Umami über Süße bis zu leichter Säure und werden von einem luftigen, knusprigen Blätterteig getragen. Am Tisch platziert man darauf noch die an den römischen Pasta-Klassiker angelehnte Kugel Eis, die es schafft, den Pecorino- und Pfeffer-Geschmack so zu transportieren, dass das für ein Eis nicht merkwürdig wirkt, sondern mit einer leichten Herzhaftigkeit, die an Salzkaramell erinnert. Das Eis schmilzt langsam über der Tarte, während meine Sinne wieder zu sich kommen. Am Ende bleibt ein beklagenswert leerer Teller übrig, der noch kurz zuvor ein unvergessliches Gericht enthielt. Es dürfte der Teller mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis der Spitzengastronomie sein. Die Idee, hier morgen noch einmal einzukehren, ist geboren. (10/10)

Natürlich koste ich auch etwas Pasta. Es gibt hausgemachte, perfekt al dente gekochte, hauchdünne Agnolotti mit einer Kalbfleischfarce, dazu Austernpilze und ein vor Umami strotzendes Saucen-Duo, bestehend aus einer süffigen Parmesan-Sauce und einer reichhaltigen Demi-Glace (€ 38). Salbei und Erbsenkraut bringen frische Kontraste. Hier ist alles auf höchstem Niveau, von der handwerklich makellosen Pasta bis zu den teils aufwändigen Saucen. Ein Pastagericht mit glücklich machendem Wohlgeschmack, das man auch in einem italienischen Drei-Sterne-Restaurant auftischen könnte. (8,5/10)

Ein Semifreddo-Petit-Four zu genauso gutem Espresso runden eines der angenehmsten und besten Mittagessen seit langem ab.


Am nächsten Tag bleibt mir nicht viel Zeit. Das Restaurant öffnet um 12:30 Uhr, um 13:10 ist mein Uber zum Flughafen gebucht. Doch das Restaurant-Team brilliert. Nichts anderes würde man in diesem Haus erwarten. Wetterbedingt sitze ich heute im Wintergarten des Restaurants, mit Blick auf den Innenhof.

Zum Snacken gibt es, wie auch schon gestern, frittierte Nordseekrabben mit Haut und Haar, besser als jede Chipstüte.

Danach folgt ein Essmarathon, wie selbst ich ihn noch nicht absolviert habe. Es gibt erneut die Tarte Tatin mit kandierten Tomaten (€ 15), die meine Euphorie von gestern ungedämpft noch einmal aufflammen lässt (10/10); dann ein Kalbsschnitzel à la Milanaise (€ 60) mit demselben grandiosen Kalbsjus wie bei den Agnolotti sowie separat serviertem Gemüse, scheinbar trivial, tatsächlich auf den Punkt genau gegart und fantastisch mit Kräutern betont (8/10); ebenfalls auf dem Tisch stehen Ravioli del plin (€ 38) mit Tomaten – Tomaten im Teig, Tomaten als Sauce, Tomaten überall – mit abermals viel Umami, Hitze, Handwerk zum Stauen und unendlich viel Wohlgeschmack (7,9/10).

Diese Gerichte habe ich zwischen 12:36 Uhr und 12:49 Uhr verspeist als wäre es mein letztes Mahl. Um 13:01 liegt die Rechnung auf dem Tisch, besser hätte man mich bei meinem kühnen Plan nicht unterstützen können. Fragt sich nur, wann ich mich durch den Rest der Speisekarte probieren kann.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le George (→ Website)
Chef de Cuisine: Simone Zanoni
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieser Besuche: 21.08.2021, 22.08.2021
Guide Michelin (F 2021): *
Meine Bewertung dieser Essen: 8 (Was bedeutet das?) *
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*) Die wiederholte Tarte Tatin beim zweiten Essen habe ich nicht mitgezählt, daher haben beide Besuche einen Schnitt von 8/10.