Kei – die neue Drei
Paris’ jüngstes Drei-Sterne-Restaurant heißt Kei, benannt nach dem Küchenchef Kei Kobayashi. Das Restaurant versteckt sich hinter einer scheinbar geschlossenen Eingangstür und einer undurchsichtigen, großen Fensterfront eines herrschaftlichen Wohngebäudes in der Nähe des Palais Royal.
Geht man tagsüber daran vorbei, könnte man glauben, hier würde renoviert, und das Schild an der Eingangstür wiese auf eine temporäre Schließung hin. Doch der Hinweis entpuppt sich als Speisekarte – mit Menüs zwischen € 165 und € 320. Keine Spur auch von der prestigeträchtigen Michelin-Plakette, die man in Paris ohnehin nicht allzu oft an den Fassaden sieht.
Mit etwas mehr Prunk geht es im Inneren des Restaurants zu. Die Farbgebung bleibt reserviert, aber Wände aus Marmor und Glas, aufwändiger Deckenstuck und ein Kronleuchter strahlen Extravaganz aus. Der Kontrast zwischen schlichter Außengestaltung und opulenter Innendekoration ist erster Hinweis auf die Symbiose von Japan und Frankreich, die hier durch den japanischen Küchenchef unweigerlich Thema ist.
Eine besonders kalt eingestellte Klimaanlage, die grelle Beleuchtung und – in diesen Zeiten – immer noch ungewohnt enge Tischabstände lassen meine Stimmung aber noch nicht sofort erhellen. Ein Glas 2012er Bollinger »La Grande Année« (€ 40) hilft ein wenig.
Ein Kellner erläutert das Konzept der drei Menüs. So unterscheiden sich diese trotz der großen Preisspanne nicht in Hinblick auf die Menge, sondern nur in Bezug auf die Güte (oder besser: den Preis) der verwendeten Zutaten. Dieses Prinzip kennt man besonders aus japanischen Kaiseki-Restaurants, die oft schon bei der Reservierung ein Budget abfragen.
Ich wähle heute Abend die teuerste Variante (»Menu Horizon«), um bei meinem ersten Besuch möglichst das gesamte Potenzial der Küche auszuschöpfen. Für Pariser Verhältnisse auf diesem Niveau ist das immer noch bescheiden: Für den Preis des Einstiegsmenüs hier im Kei gibt es bei Pierre Gagnaire gerade mal eine Vorspeise à la carte; das große Menü bei Guy Savoy kostet inzwischen fünfhundertdreißig Euro, ohne Getränke.
Unabhängig vom gewählten Menü werden zum Aperitif die ersten Amuse-Bouches serviert. Es gibt, ganz klassisch, Gougères, deren feiner Käsegeschmack mit einem dazu servierten, etwas mächtigen, Käsecracker betont wird (7/10); eine dicke Scheibe Gurke mit Misocreme ist angenehm frisch und würzig (7/10); und eine sehr fein gearbeitete Tartelette mit einer Creme aus geräuchertem Aal setzt das deutlichste Ausrufezeichen hinter Präzision und Harmonie (9/10).
Der erste Gang präsentiert eine Melange aus, unter anderem, kleinen, rohen Garnelen und Kaviar auf einer Pfirsichemulsion. Hierbei erlebt man geschmacklich einen spannenden Verlauf von einer Art zunächst vorherrschenden »Flüchtigkeit«, um nicht zu sagen Neutralität, bis zu einem dann komplexeren Zusammenspiel von Aromen aus dem Meer, die sich durch den Pfirsich und einen Akzent Basilikumöl mit einer sommerlichen Unbeschwertheit paaren. Überraschend und elegant. (8,9/10)
Meine Weinauswahl steht ebenfalls. Ein 2011er Puligny-Montrachet 1er Cru »Champs Canet« von der Domaine Jacques Carillon (€ 300) wird von der Sommelière karaffiert und zeigt zich bereits beim ersten Schluck von einer hervorragenden Seite, die Opulenz mit Eleganz kombiniert.
Der zweite Gang ist ein voluminöses Salatkonstrukt, das an Arbeiten von Enrico Crippa (Piazza Duomo) oder Michel Bras erinnert. Auch hier im Kei steht eine Kombination mannigfaltiger Salatkräuter, Blüten und Gemüse im Mittelpunkt, die jedoch nicht ausschließlich für sich selbst sprechen, sondern von einem (weißen) Tomatenschaum im wahrsten Sinn zusammengehalten werden. Eine Raukecreme sowie einige Stückchen geräucherten Aals sorgen dazu für Üppigkeit. Der Teller ist eine kurzweilige, abenteuerliche Entdeckungsreise. Man entdeckt in erster Linie Qualität und Frische; die Aromen sind fast surreal intensiv. Immer wieder stößt man auf neue geschmackliche und sensorische Kombinationen, von denen alle gefallen, diverse begeistern und nur wenige verwirren. Trotz der vielen Luft bleibt das Konstrukt jedoch ein mächtiger Teller, bei dem man letztlich froh ist, ihn geschafft zu haben. Ein solches Gefühl ist, bei aller Großartigkeit, immer ein kleiner Wermutstropfen. (8,9/10)
Umso erleichterter bin ich bei der Portionierung des nächsten Gangs. Es gibt eine kleine Tranche Wolfsbarsch, nicht größer als so manches Stück Nigiri-Sushi, mit knusprig frittierten Schuppen, dazu ein an Ratatouille erinnerndes Tomatenkompott, Gurkenblüte, Zitronenkaviar und eine Creme, die geschmacklich an Vitello Tonnato erinnert. Das ganz und gar mediterrane Arrangement frappiert durch eine regelrecht auf die Spitze getriebene Reduktion, die aus japanischer Hand umso schlüssiger erscheint. Was benötigt man mehr als ein zur Perfektion gegartes Stück Wolfsbarsch – saftig, heiß, schneeweiß –, den Umami-Wohlgeschmack reifer Tomaten und anderer sommerlicher Assoziationen? Die Präzision der Zubereitung, die Produktqualitäten und der Wohlgeschmack sind hier auf höchstem Niveau, doch auch dieser Teller erlaubt sich eine kleine (aber gewollte) Unstimmigkeit in Form der scharfkantigen Schuppen, die man mitunter schnell mit einem Schluck Burgunder aus der Speiseröhre spülen muss. Hier hätte mich eine präzise, hauchdünn und kross gebratene Haut ohne Schuppen noch mehr begeistert. (8,9/10)
»Wir haben Ihnen diesen Gang noch einmal neu zubereitet«, gesteht mir der Service beim Servieren des nächsten Gangs, was offenbar meiner kurzen Abwesenheit vom Platz in Richtung der Waschräume zuzuschreiben ist. Das irritiert mich etwas, aber für das schlechte Timing kann ich nichts. Der Satz ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern als Hinweis auf die kompromisslose, japanische Taktung aus der Küche. Nötig wäre dieser Einschub aber nicht gewesen.
Immerhin hinterlässt es kein schönes Gefühl beim Gast, dass man Schuld daran sein könnte, dass so kostbare Zutaten wie ein korsischer Kaisergranat auf einem Bett von Kaviar einmal in den Mülleimer wandern – sofern das überhaupt zutrifft. Aber die Idee ist da. Gleichwohl ist die luxuriöse Kreation exzellent. Das ausgelöste, nur sehr behutsam gegarte Krustentier ist mit einer Bloody Mary-Sauce und Quinoa ummantelt, was ein kontrastreiches, aber gelungenes Zusammenspiel von Bitterkeit und nussiger Süße ergibt. Die jodigen Aromen des Kaviars vervollständigen dabei den Rest des Geschmackserlebnisses wie eine Welle, die alles ausfüllt, was noch nicht besetzt ist. Ungeachtet des formidablen Gerichts (9/10) existiert bei mir eine Art »Krustentiermüdigkeit«, die oft eintritt, wenn die Tiere ganz oder überwiegend roh verarbeitet werden. Das war ganz am Anfang beim Pfirsich der Fall, wo auch schon Krustentier mit Kaviar kombiniert wurde, und wiederholt sich hier nun bei der langoustine.
Es folgt ein schnörkelloser Fleischgang im besten Sinn. Ein großes Stück vom Entrecôte eines Kagoshima-Rinds liegt gegrillt und rosa-weißlich schimmernd auf dem Teller. Zu der sehr üppigen Portion gibt es eine recht klassische Demi-glace (die man kaum benötigt) sowie ein komplettes Stück gegrillten Fetts, von dem es sich genauso lohnt, immer eine kleine Portion mit auf seine Gabel zu nehmen, wie auch etwas von dem Kräuterpesto. Separat dazu gibt es noch ein Tartar des üppigen Fleischs, das mit blumigen Kräutern wie Perilla serviert wird. Und wem das alles zu low carb ist, genießt noch ein paar Kartoffelkroketten dazu. Das Gericht ist ein geradezu amüsanter Kompromiss aus japanischem Purismus – eigentlich bräuchte man sogar nur die Hälfe des großen Fleischstücks und nichts weiter – und der französischen Idee eines Fleischgangs mit Gemüse und Kartoffeln. Das ist qualitativ und handwerklich makellos, aber die hier oft präsente Üppigkeit macht sogar mir ein wenig zu schaffen. Doch der Service beruhigt, es kämen jetzt nur noch Desserts. (9/10)
Ich genieße noch die letzten Schlucke aus einem Glas offenen Rotwein, den ich zum Fleisch wählte, ein 2016er Gevrey-Chambertin von der Domaine Geantet Pansiot (€ 27).
Den süßen Teil leitet ein Schaum aus Ziegenkäse mit Olivenöl ein, abermals sehr gehaltvoll, kombiniert mit einem Blaubeersorbet und vietnamesischem Pfeffer – absolut stimmig (8/10).
Das eigentliche Dessert ist dann eine handwerklich aufwändig konstruierte, teils offene Baiser-Sphäre mit Rhabarbergeschmack, darin verschiedene Eiszubereitungen auf der Basis von Himbeere, Basilikum und Vacherin glacé. Die kleine Eisbombe schmeckt gut, aber nach drei Löffeln passiert auch nichts mehr. Wenn ich das aufesse, muss man mich hier raustragen. (7,5/10)
Eine allerletzte Überraschung – und die ist groß – erlebe ich bei den Pralinen. Eine Schaummakrone mit karibischem Geschmacksbild durch Kokos, Limette und Passionsfrucht ist schon grandios, doch dann, eine kleine Tartelette mit grandioser dunkler Schokolade und einer verführerischen kleinen Knupserschicht im Inneren ist – mit Abstand – die beste Praline, die ich je probiert habe. Ich habe unzählige Vergleiche; man denkt, auf höchstem Niveau eigentlich nur noch Ähnlichem zu begegnen. Doch das hier ist eine andere Welt. Die leichte bittere Schokolade, das verzaubernde knusprige Element im Inneren, etwas Karamell … Das ist eine kleine Sensation. Ich bestelle die Pralinen nach, ebenfalls ein Novum, und kann meine Begeisterung nicht verstecken. (10/10)
Das eindrucksvollste Element dieses Menüs war zweifellos die japanische Handschrift, mit der Küchenchef Kobayashi seine Idee einer französischen Küche erzählt. Dass man die »Fusion« von Japan und Frankreich dabei nicht in Form von Aromen und Zutaten wiederfindet, sondern in Handwerk, Qualität und Philosophie, ist ein eindrucksvolles Alleinstellungsmerkmal nicht nur unter den Pariser Drei-Sterne-Restaurants. Es sind andere drei Sterne als bei den Pariser Platzhirschen. Es sind neue drei Sterne. Nicht nur für das Kei, sondern auch für Paris.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Kei (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Kei Kobayashi |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieser Besuche: | 21.08.2021 |
Guide Michelin (F 2021): | *** |
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