L’Oustau de Baumanière ‒ wie Gott, in Frankreich
Nach sechs Tagen ‒ und damit nicht weniger als achtzehn verspeisten Michelin-Sternen in ein und demselben Restaurant ‒ kann ich einfach nicht anders als diese abgedroschene Redewendung im Titel aus dem Hut zu zaubern. Das Komma ist dabei eine kleine, aber entscheidende Abweichung, denn das Relais & Châteaux Baumanière ist tatsächlich in Frankreich.
Ich wollte schon viele Jahre lang hierher, doch meine Reisepläne führten mich immer um das berühmte Haus herum. Die über dem Restaurant neu leuchtenden drei Michelin-Sterne waren dann ein Weckruf. Die Entscheidung, hier fast eine ganze Woche zu verbringen, fiel ebenfalls nicht schwer. Wie enttäuschend könnte der Aufenthalt in so einem berühmten Haus in einer so wunderschönen Gegend mit einem derart ausgezeichneten Restaurant schon sein? Zur Not säße ich einfach den ganzen Tag auf der schattigen Terrasse am Pool mit Blick auf die eindrucksvollen Felsformationen von Les Baux-de-Provence zu provenzalischem Rosé, Brot und Olivenöl, z. B. das vom Produzenten Castelas gleich nebenan.
Und wie, außer göttlich, sollte ich diese Terrasse nennen, deren knorrige Linden achtundzwanzig Grad kühlen Schatten spenden? Schon am ersten Abend fühle ich mich so wohl wie selten in einem Restaurant, überhaupt wie nur an wenigen Orten. Allein einige penetrante Parfümwolken von Nachbartischen, die mich an zwei Abenden dazu veranlassen, den Platz zu wechseln ‒ selbst hier draußen bei milder Brise ‒, reißen mich manchmal aus dieser Idylle heraus. Da sehne ich mich nach der japanischen Sitte auf Hinweise in der Reservierungsbestätigung, von (starker) Parfümierung beim Essen abzusehen. Derartige Restriktionen wären an diesem Ort allerdings in etwa so weltfremd wie den Damen zu verbieten, eine Chanel-Handtasche mit an den Platz zu nehmen.
Überhaupt ist das hier kein Ort der Verbote, sondern ein Ort der Verführung. Die Speisekarte bietet zwei Degustationsmenüs sowie eine A-la-carte-Auswahl an, die gerade für längere Aufenthalte prädestiniert ist. Der klare Produktfokus liest sich wie ein Gedichtband. Dazu gibt es einen Weinkeller mit fünfundzwanzigtausend Flaschen. Und was für Flaschen! Ich verbringe Stunden damit, mir die verschiedenen Optionen für meinen Aufenthalt herauszusuchen. Viele Weine sind so rar und doch so geschickt bepreist, dass ich mir einige besonders unvernünftige Optionen notiere, um in Momenten der Unvernunft schnell handeln zu können.
Es gibt so viel nachzuholen. Meine erste längere kulinarische Reise seit dem vergangenen Sommer beginnt nicht zufällig hier. Es ist ein Bekenntnis zu Frankreichs grandioser Küche, zum Selbstverständnis von gehobener Gastfreundschaft, zur Lebenskunst.
Das Anwesen Baumanière erstreckt sich über zwei knapp einen Kilometer voneinander getrennte Grundstücke. Der etwas höher gelegene Teil des Anwesens befindet sich direkt unterhalb des historischen Dorfkerns von Les Baux-de-Provence und beherbergt das Gourmetrestaurant, einen sehr weitläufigen Poolbereich und das Haus mit den Zimmern höherer Kategorien.
Im anderen, deutlich größeren, Teil des Anwesens gibt es weitere ‒ auch nicht bescheidene ‒ Behausungen inmitten von weitläufigen, malerisch gepflegten Gartenanlagen. Hier befindet sich auch das andere Restaurant des Hauses, La Cabro d’Or, mit etwas bodenständigerer Küche (Bericht folgt).
Bereits beim Reservierungsprozess wird man darauf hingewiesen, seine gastronomischen Ambitionen möglichst früh kundzutun, denn die Restaurants sind sehr gut besucht. Vor allem das Gourmetrestaurant ist sieben Tage die Woche mittags und abends voll besetzt. Viele Gäste kommen von außerhalb ‒ bei drei Michelin-Sternen natürlich sogar aus aller Welt. An freigehaltene Tische für spontan entschlossene Hausgäste ist hier nicht zu denken. Daher bin ich heilfroh, dass meine Reservierungen stehen.
Meine kulinarische Strategie sieht vor, am ersten Abend das Degustationsmenü zu probieren und dann an allen Folgeabenden à la carte zu wählen. Diese in Frankreich so häufig gebotene Freiheit, selbst auf kulinarischem Spitzenniveau beliebige Gerichte auswählen zu können, ist herrlich.
Das Degustationsmenü (»La Ballade des Baux«, € 240) ist eine Ode an die Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, an die Kontraste von Landschaft und Düften, zwischen südlichen Alpen und Mittelmeer.
Erdnah und waldig ist zum Beispiel der hier öfter servierte Auftakt mit einer Variation um Champignon, von einem würzigen, belebenden Pilzkraut-Blatt mit Champignonextrakt über eine Tartelette mit geräuchertem Aal, Champignoncreme und Erdnuss bis zu einem saftig-fleischigen »Keks« in Pilzform aus rohen Champignons. (8,9/10)
Die Schnecken aus dem pittoresken Nachbarort Saint-Rémy-de-Provence bringen das (schwierige) Thema Knoblauch so elegant auf den Tisch wie ich es bisher kaum erlebt habe. Ein luftig leichter Knoblauchschaum, der fast als eine Art »Bärlauch-Parfüm« durchgehen könnte, trägt dabei die süffig-salzige Kombination von zarten, dennoch bissfesten, Schnecken mit gehaltvollem Champignonjus in höchste Genusssphären. (10/10)
Von Wegen und Wäldern geht es weiter ans Meer, mit einem fein gewürzten Tartar von der Rotbarbe, die man in dieser selten präsentierten Form glatt mit einem Krustentier verwechseln könnte. Den Fisch, noch elegant und frisch, kontrastiert eine intensive Mousse aus den Knochen und Häuten des Tiers, die man zusammen mit Socca, der Teigspezialität aus Nizza, genießt. Die Hände wandern dabei entspannt zwischen Messer, Brot, Tellern und Weinglas. (9/10)
Noch im Glas ist ein 2014er »Dolia« von der Domaine Hauvette hier aus der Region (€ 115), gerade geöffnet wird ein 2009er Chambolle-Musigny von der Domaine George Roumier (€ 250). Das sind noch zaghafte Bemühungen, größeren Versuchungen zu widerstehen.
Ein quaderförmiger »Croque« mit Kabeljau ist danach nicht weniger großartig. Der saftig gegarte Fisch, flankiert von zwei goldbraun gerösteten, buttrigen Toastscheiben, verbringt sein letztes Bad in einer gehaltvollen Sauce auf Kabeljaubasis, die fast wie ein Kalbsjus daherkommt. Eine mild-würzige Sauce gribiche mit Estragon fügt aromatische Leichtigkeit hinzu. Das wäre an sich schon ausreichend famos, doch dazu gesellt sich à part ein Töpfchen mit einem süffigen Zwiebelkompott mit weiteren Komponenten, bei denen mehrfach das Wort Kabeljau fällt. Man kann das süffige Schälchen entweder auslöffeln oder die Gabel mit einem Stück vom Toast immer wieder dort eintunken. Erneut mischt sich Ungezwungenheit mit kulinarischer Perfektion und größtmöglichem Wohlgeschmack. (9/10)
Beim nächsten Gang dieses grandiosen Menüs in dieser sagenhaften Umgebung sorgt ein Carabinero für eine Fortsetzung aller Großartigkeit dieses Orts. Das aus der Umgebung von Korsika stammende Tier wurde sanft über Holzkohle gegrillt und kommt – fast roh, aber eben nur fast – in einem intensiv duftenden Krustentierjus auf den Teller. Ein gebratenes und mit Zitronenconfit gefülltes Salatblatt sowie kleine Carabinero-Chips begeistern dazu in Form von eleganten Kontrasten, die die harmonischen Gegensätze dieser Region eindringlich – und unvergesslich – widerspiegeln. (10/10)
Der nächste Gang thematisiert Milchlamm, eines der charakteristischsten Produkte der Region. Auf dem Hauptteller befinden sich vorportionierte Tranchen vom Karree, heiß, wunderbar zart und dabei mit gehaltvollem Schmelz und feinem Geschmack. Der an den Lippen haften bleibende Jus ist klassische Perfektion, und doch wirkt das Gericht leicht und modern. Auf den Fleischstücken findet man Spinat und ein unerwartet süßes, aber doch passendes, Tomatenkompott. Nicht weniger als sensationell ist dann das auf einem separaten Tischgrill warmgehaltene panoufle, ein sehr schlemmerhaftes Stück vom Lamm, dessen Übersetzung ich nicht recherchieren konnte. Es ist an Zartheit und gehaltvollem Schmelz kaum zu überbieten. Das ist großartige, schlichte Produktküche auf rarem Spitzenniveau. (8,9/10)
Mir ist noch lange nicht nach Aufhören, daher bitte ich vor Käse und Desserts noch nach einem kleinen Zwischengang nach Wahl der Küche. Es wird eine »Pizzaladière« (€ 40), ein Wortspiel aus Pizza und Pissaladière, dem Zwiebelkuchen aus Nizza, der aus dem alternativen vegetarischen Menü eingeschoben wird. Die Speise kommt in Form eines hauchdünnen gewellten Teigdeckels, der ein verführerisches Kompott von süßlich eingekochten Zwiebeln und Tomaten überdeckt. Kräuter und Blüten unterstreichen die Eleganz dieses süßlich-süffigen Wohlfühlgerichts, dem man erneut nichts anderes als ein Weltklasseniveau attestieren kann. (9/10)
Es folgen noch Käse vom Wagen sowie leichte, exzellente Desserts, z. B. eine Kreation mit riesigen, saftigen Kirschen, die mit einem Basilikum-Kokos-Schaum in leicht exotischem Gewand daherkommt, ohne die Region ganz zu verlassen. (8,5/10)
Die weiteren fünf Abende ziehen wie ein langer Traum an mir vorbei. Auf Puligny-Montrachet von Etienne Sauzet folgt Château Lafleur, auf Lafleur folgen Echézeaux und Romanée-Saint-Vivant von der Domaine de la Romanée-Conti, Chambolle-Musingy von Comte Vogüé … Es gibt Momente, in denen man einfach weiß, dass sie richtig sind für derartige Eskapaden. Viele Menschen warten auf »spezielle Ereignisse«, um die besonders guten Dinge zu zelebrieren und meinen damit meist fest im Kalender stehende Feste. Für mich sind spezielle Momente keine Feste mit Namen, sondern Momente wie diese. Diese sechs Tage, diese Terrasse.
Damit könnte ich diesen Text eigentlich beenden, doch es gibt noch so viel zu erzählen.
Von den Stabmuscheln, zum Beispiel, die zusammengebunden und aufrecht stehend serviert werden (les pieds dans l’eau, »die Füße im Wasser«), dazu ein Basilikumjus und Basilikumblätter (€ 47). Mit einer speziellen Pinzette lassen sich die warmen Muscheln ganz leicht aus ihrer Schale lösen. Das puristische Gericht hat das Niveau eines Klassikers. Es ist so bestechend köstlich – und angenehm schlicht –, dass ich es an zwei Abenden bestelle. (10/10)
Die einzige relative »Enttäuschung« ist ein Stück Kalbsbries, als perfekte Kugel serviert und mit gegrilltem und gerösteten Buchweizen ummantelt, das mit Karotten serviert wird, deren Zubereitung einen achtzehnfach wiederholten Prozess beinhaltet (€ 83). Die Karotten mit ihrem intensiven, interessant erdigen Geschmack in allen Ehren, erreicht das Bries meinen Platz eindeutig zu kalt. Allenfalls handwarm geht es hier durchaus um mindestens zehn Grad, die dem Genusserlebnis fehlen. Die Tatsache, dass der Gargrad perfekt ist (und daher mehr Hitze abbekommen haben muss), weist auf eine zu lange Ruhezeit bei zu geringer Temperatur hin. Mein Ersatzteller ist besser, aber auch nicht perfekt. Zieht man das handwerkliche Problem ab, bleiben dennoch zwei Zutaten – Karotte und Bries – auf hohem qualitativen Niveau im Mittelpunkt des Geschehens. (8/10)
Wunderbar frisch und »parfümiert« ist auch der »gepresste« Salat (€ 46), bei dem ein Kopfsalatherz unter Druck und mit vielen Aromaten weichgekocht wurde und mit Basilikumjus und Kräutern serviert wird (8,5/10). Hervorragend ist auch der Thunfisch als Tataki (€ 75), serviert in einem kreisrunden Arrangement mit einer Mousseline von mit Olivenöl gegrillten Auberginen aus der Gascogne und frittierten Kapern (8,9/10).
Weitere grandiose Gerichte sind unter anderem eine Vorspeise mit gegrillten und mit einer süffigen »Toast-Creme« lackierte Sardinen, die mit samt ihrem komplett essbaren, kross gebackenen Kopf serviert werden – zu Brot, ganz einfach (€ 47). (9/10)
Der absolute Klassiker des Hauses ist Lammkeule, »natürlich vom Milchlamm!«, mit Ausrufezeichen, genau so steht es in der Karte (€ 165 für zwei Personen). Die Keule ist klein, braun, appetitlich glänzend und in einem denkwürdigen, silbernen »Keulenhalter« eingespannt. Routiniert tranchiert der Kellner das Stück Fleisch auf einer heißen Platte und richtet es ganz pur auf dem Teller an.
Die Farbe des Fleischs geht von Grau über Altrosa bis zu Goldbraun; die gehaltvolle Zartheit und Saftigkeit ist mit dem bloßen Auge offenkundig; eine Gaumenprobe ist dafür nicht nötig. Sie lohnt sich aber umso mehr; es ist eines der besten Stücke Lamm, die ich je probiert habe. Ein fabelhafter Jus – sehr konzentriert und mit authentischem Lamm-Aroma – steht dazu bereit, doch das Personal bittet augenzwinkernd um genaue Abwägung, ob der Jus wirklich benötigt wird. Er wird es nicht, aber wie könnte man nur dieses Kännchen Jus ungeleert übrig lassen?
Eher beiläufig entdecke ich noch den dazu servierten Gratin Dauphinois, der wegen einiger obsessiver Details der beste ist, den ich je gegessen habe. Es ist sogar überbackener Käse im Spiel, eigentlich ein Sakrileg, aber hier ausnahmsweise ein Zünglein an der Waage zum Genussmoment des Augenschließens. Das Gericht ist eine Referenz fürs Leben, eine Produktsensation, unnachahmbar und unvergesslich. Ich bestelle die Keule an zwei Abenden. (10/10)
Es gibt auch weniger Großartigkeit. Die A-la-carte-Patisserie begeistert mich zum Beispiel nicht immer. Ein Klassiker des Hauses, eine Kreuzung von Crêpe und Soufflé mit Grand Marnier (€ 29) liegt nach wenigen Löffeln wenig appetitlich wie ein Schaumbad auf meinem Teller (dennoch 7/10 wegen des offensichtlich komplexen Handwerks und der geschmacklich sehr guten Orangensauce); und ein Dessert um Joghurt und Aprikose schmeckt am Ende, trotz aufwändiger Konstruktion, nach nicht besonders viel (6,9/10).
Hervorragend ist dann aber wieder ein wabenförmig konstruierter Millefeuille, gefüllt mit einer Creme mit Madagaskar-Vanille, dazu Pistazien und eine himmlisch gute, an dulce de leche erinnernde Karamellsauce (8,5/10).
Auch nach sechs Abenden habe ich von dieser wunderbaren Terrasse nicht genug. Als kleiner Wermutstropfen bleibt der regelmäßige Kampf zwischen den feinen Aromen auf meinem Teller und in meinen Gläsern und den olfaktorischen Tsunamis von Parfümduft und Zigarettenrauch von Nachbartischen. Aber wie schrieb Sarte schon? »L’enfer c’est les autres« (die Hölle sind die Anderen). »Eh bien, continuons.«. Also, machen wir weiter. Die Anderen möchte ich hier ja auch nicht missen. Nur manche. Aber man kann sich eben auch in Baumanière nicht alles aussuchen.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | L’Oustau de Baumanière (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Glenn Viel |
Ort: | Les Baux-de-Provence, Frankreich |
Datum dieser Besuche: | 26.06.-01.07.2021 |
Guide Michelin (F 2021): | *** |
Meine Bewertung dieser Essen: |
(27.06.) (28.06.) (29.06.) (30.06.) (01.07.) |
(26.06.)
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