AM par Alexandre Mazzia – Gin and Juice
Küsten-Fisch, geröstete Bierhefe. Kristallisierter Kohl mit Safran, Bottarga von Kaviar. Süßsaure Zucchini, Maniok-Blatt, Cidre-Creme. Rohe Rotbarbe, Essig von gegrillten Fischköpfen, Sumach-Tomatenessenz. Algen, Süßkartoffelpüree, Lakritz, Bottarga. Galgant-Knusper, Rind gegensätzlich gegart, Campari. Nordseegarnele, Katsuoboshi aus Köpfen, Öl von grüner Paprika. Parmesan, Pistazie und Granatapfel. In Sake marinierter Forellen- und Lachsrogen, geräucherte Milch. Pflanzlicher Keks, krautig-jodige Creme, Blüten. Räucheraal und Schokolade. Über Holzkohle geräuchertes Milchweißbrot, gesalzene Butter mit Kaffir-Limette. Seespinnenfleisch mit ihrem Jus; in Sake, roter Bete und Garum marinierte Dorade. Miesmuscheln, Makrele, Hering, Kokosnuss; Würze mit Mojito, Estragon und grünem Saft. Grieß mit Zitrusfrüchten und Orangenblüte, Rettich und Krustentierjus. Foccacia mit Nussbutter, Piment d’Espelette mit Lakritz, Schwarzkümmelbutter und Kräuter. Kaisergranat, Ingwer-Karotte, Maniok und Eggnog. Kaisergranat, Zitrone-Geranie, Algen-Popcorn. Weißer Gänsefuß als Tempura mit Vodka, Hechtkaviar, Nelke, Krustentierstaub. Mit Austernschalen aromatisierte Hühnerconsommé, dulce, gerösteter Abrieb von Zitrusfrüchten. Grüne Bohnen, Püree von gegrilltem Geflügel, Pancetta, Entenjus mit Pfeffer und Eisenkraut, Gewürzkirsche. Spinat, Curry-Fadennudeln, grüner Jus »Saté«, Schweinejus mit roter Bete. Erbsen, Brokkolipüree, Baconpuder, Matjeshering. Zucchiniblüte, gewürztes Cashewnuss-Püree, Passionsfrucht. Rettich-Wasabi-Eis und weißer Senf. Milchkonfitüreneis mit Matcha-Tee. Textur-Pudding mit Fleischsaft, Tamarinde, Hibiskus, Erdbeere. Fermentierte Banane, Puffreis, süße Erdnuss, Kumquat. Wassermelone mit Gin, Basilikum-Segel, »Get 27«. Meloneneis, Melonenwasser mit grünem Curry, Gin-Spray. Weiße Schokolade, Avocado, Senfkörner, Mohn, Kreuzkümmel. Sand-Textur, gewürztes Süßkartoffelpüree, Zitrone, Basilikum.
Genau so, nur auf Französisch, steht es auf dem Menü (€ 275), das man in Anbetracht der Informationsdichte erst hinter seinem Mahl bekommt. Zu Recht. Was sollte man dazu auch sagen? »Könnten Sie bei mir bitte den Galgant-Knusper auslassen? Und könnte ich das Seespinnenfleisch lieber ohne rote Bete bekommen?« Absurde Vorstellungen eines auf dem Papier geradezu unvorstellbaren Menüs, das sich den in der Kulinarik inflationär verwendeten Begriff »kreativ« wirklich verdient hat. (Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es zum Mittag auch weniger umfangreiche Varianten gibt.)
Die Rede ist von einem Mittagessen in Frankreichs neuestem Drei-Sterne-Restaurant von und mit, man könnte es aus dem Namen schließen, Alexandre Mazzia.
Der gebürtige Kongolese hat einen für einen Spitzenkoch unkonventionellen Lebensweg hinter sich. Früh prägten ihn laut seiner Aussage die Aromen von Krustentieren und gegrilltem Fisch, die Gerüche eines kleinen Hafens und die Küche seiner Mutter; und als Jugendlicher prägte ihn ein Mahl bei Joël Robuchon in Paris. Doch es folgte zunächst keine Kochkarriere, sondern eine als Basketball-Profi. Währenddessen arbeitet Mazzia immer wieder in hochdekorierten Restaurants, u. a. bei Martin Berasategui, Michel Bras und Alain Passard.
Im Jahr 2010 ließ sich Mazzia in Marseille nieder, vielleicht die ideale Stadt für jemanden, der Schönheit in etwas schmuddeligen Hafenbecken, chaotischem Verkehr und viel Sonne findet.
Mazzia hat jedenfalls viel mitzuteilen. Er tut das auf einer sehr schlichten Bühne. Sein kleines Restaurant in einer Seitenstraße ist mit Abstand das schlichteste Drei-Sterne-Restaurant der westlichen Welt. Es gibt einige karge, eng gestellte Holztische mit pandemiebedingten, aber in diesem kleinen Saal vermutlich völlig nutzlosen, Plexiglastrennwänden. In der Mitte gibt es noch einen kleinen Tresenbereich mit Blick auf das spannende Treiben in der offenen Küche.
Das Menü eröffnet mit sieben Petitessen, die ein maritimes »Klima« einleiten, und das auf höchst unkonventionelle Weise. Geheimnisvolle Würzungen, unerwartete Fruchtakzente, schmeichelndes Umami, etwas Süße, blumige Schärfe … man entdeckt so viel, dass man deutlich mehr Zeit bräuchte, um das alles differenziert zu erfassen. Doch trotz aller Komplexität kann man sich auch nur auf ein »äußerst deliziös und hochwertig« einigen und diesen Auftakt mit einem erleichterten tiefen Durchatmen quittieren.
Ebenfalls hoch spannend sind nachfolgende Kreationen mit einer zitrusfrischen, blumigen »Schnitte«; Aal mit Schokolade (leicht pikant); und Forelleneier mit Raucharomen, leichter Schärfe und angenehmer Süße.
In zügigem, aber wegen der kleinen Portionen angemessenem Tempo, geht das Menü Schlag auf Schlag weiter. Nicht selten stehen sieben bis acht Speisen vor mir, man kommt aus dem Probieren und Staunen eigentlich gar nicht heraus.
Zusätzlich zu den immer wiederkehrenden Aromen aus dem Meer spielt Mazzia oft mit etwas Schärfe, manchmal mit Süße, und findet dabei Produktkombinationen, die einen wirkungsvoll aus seiner Komfortzone herausmanövrieren.
Eine mit Cashewnuss-Püree farcierte Zucchiniblüte findet man zum Beispiel in einem Passionsfruchtjus wieder, der zunächst Assoziationen an ein Dessert hervorruft, aber hier – durch nicht vorhandene Süße – eigentlich nur fruchtige Säure beisteuert, wie Zitrone, nur eben mit einem viel blumigeren Aromaspektrum.
Oder das pikante Rettich-Wasabi-Eis mit Senfblüte, das unerwartet elegant daherkommt und durch die kühle Temperatur sozusagen eine Linderung für seine eigene Schärfe gleich mitbringt.
Weiter staune ich über grüne Bohnen, die mit einem süffigen Püree von gegrilltem Geflügel (!) serviert werden und ihr süffiges Geschmacksbild aber mit säuerlich-süßer Gewürzkirsche und ätherischem Eisenkraut in etwas viel Komplexeres verwandeln.
Die Desserts charakterisieren spannende, mitunter auch mal unbequeme Widersprüche. Wenn Mazzia zum Beispiel eine Praline mit Avocado und weißer Schokolade mit Sesam kombiniert, ist das geschmacklich zwar nicht ganz schlüssig, aber immer noch hervorragend. Der Grund dafür, dass selbst Unschlüssiges hier nie nachlässig wirkt, liegt in der Sinnhaftigkeit, die der Autor seinen kleinen Werken verleiht. Er erreicht das durch Authentizität, durch Augenzwinkern und durch das kulinarische Erzählen seiner quirligen Lebensgeschichte. Die ist auch manchmal einfach nur lustig, wenn z. B. eine Kreation, mit Puffreis, Banane, Erdnuss und Kumquat irgendwie nach Kellogg’s Smacks schmeckt und damit eben durchaus auch eigene Assoziationen zulässt, anstatt dass man bloß passiver Konsument dieser Geschichte ist. Man wird irgendwie Teil von ihr, und das frappiert mich in diesem Menü besonders.
Dass all das nicht forciert wirkt, ist vielleicht die größte Kunst dieses fulminanten Menüs. Die Kreativleistung von Mazzia ist zweifellos eine der höchsten in seiner Zunft. Man muss hier auch den Hut vorm Guide Michelin ziehen, der mit der Höchstwertung hier alles richtig macht. So eine Küche verdient nichts anderes als höchste Weihen. Selbst den Anspruch an allerfeinste Produkte erfüllen die Gerichte von Mazzia scheinbar en passant. Das unterscheidet ihn auch von anderen Kreativschmieden wie beispielsweise dem von mir sehr verehrten Disfrutar in Barcelona, über dem »nur« zwei Sterne leuchten, bei dem es aber eben auch etwas mehr um Technik geht als um die natürliche Güte der Produkte (obwohl diese sich auch dort nicht verstecken müssen).
In den Waschräumen unten läuft Hip-Hop; der Wu-Tang Clang spielt »C.R.E.A.M.«, und Snoop Doggy Dogg singt den Hit »Gin and Juice«. Das passt zu Mazzias Basketballpassion genauso gut wie zu seiner Küche. Der Herd ist jetzt ohnehin sein neues Spielfeld, und den wichtigsten Drei-Punkte-Wurf seiner Karriere hat er auch dort schon erzielt. Vermutlich ist noch lange kein Abpfiff.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | AM par Alexandre Mazzia (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Alexandre Mazzia |
Ort: | Marseille, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 30.06.2021 |
Guide Michelin (F 2021): | *** |
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