Christopher Coutanceau – weder Fisch noch Fleisch
Die Leidenschaft fürs Fischen begleitet den 42-jährigen Küchenchef Christopher Coutanceau schon sein ganzes Leben. La Rochelle ist sein Geburtsort, das Restaurant an der Strandpromenade seit Jahrzehnten im Familienbesitz. Coutanceau kennt hier – und da draußen auf dem Meer – vermutlich jede »Ecke«, jedes Wetter, jeden Fisch und jedes Boot. Diese persönliche Prägung interessiert mich an einem von Frankreichs neuesten Drei-Sterne-Restaurants besonders.
Einen geeigneteren und authentischeren Ort könnte es für Coutanceaus Meeresküche kaum geben. Und mit einem Panoramablick über die Bucht von La Rochelle ist das Meer auch optisch ständiger Begleiter des Essens. Die wellenförmigen Deckenpaneele wären dafür gar nicht nötig.
Die Speisekarte bietet ein achtgängiges Menü (€ 230) sowie einen A-la-carte-Teil, für den ich mich entscheide. Es gibt, wie erwartet, ausschließlich Fisch und Meeresfrüchte. Die Preise sind happig, mit Vorspeisen von im Schnitt knapp € 100 und Hauptgerichten um die € 90 – ein interessantes, aber auf Frankreichs produktorientierten Speisekarten nicht ungewöhnliches, Gefälle.
Ein erstes Amuse-Bouche erreicht den Tisch noch während ich mit der Weinkarte hantiere. Die Speise, ein geeister Taler mit Plankton, Makrele und Alge, ist großartig, spült mich mit seinen jodigen Aromen weg wie eine große Welle, um mich dann, leicht konsterniert, in flacheren Gefilden wieder auszuspucken als ob nichts gewesen wäre. Aufwühlend und verheißungsvoll. (9/10)
Die Situation, dass man die Weinkarte ständig auf- und wieder zuklappen muss, weil neue Speisen an den Tisch gelangen, ist kein alleiniges Problem dieses Restaurants, aber regelmäßig ein Thema, das man geschickter angehen kann. Nach meinem Empfinden sollte mit dem Servieren von Speisen zumindest nicht begonnen werden, solange man mit großformatigen Weinkarten herumhantieren muss.
Die Weinfrage klärt sich dann aber im Dialog mit der sympathischen und kundigen Sommelière. Die Antwort ist ein 2016er Corton-Charlemagne von der Domaine des Croix (€ 390), mir bis dato unbekannt, aber nun eine exzellente Entdeckung.
Eine Trilogie weiterer Amuses folgt. Ein Stück angegrillter Thunfisch ist von hoher Qualität, nur die äußere Garung ist eher hinderlich, um das Produkt in seiner vollen Güte wahrzunehmen, weil ein minimal trockener Eindruck entsteht. Dazu passt aromatisch eine Auberginencreme mit Zitrone, die mediterrane Akzente setzt. Eine gegrillte Auster mit Algenbutter und Toast, das etwas knuspriger sein könnte, setzt das maritime Geschmacksbild fort, und ein grüner Krabbenchip mit Tomate und Cognaccreme bietet einen intensiven Krustentiergeschmack, der durch die leichte, frische Creme etwas abgemildert wird. Die Speisen sind auf hohem Niveau, wirken aber noch keinesfalls so als wollte ein fischender Spitzenkoch seine Ausnahmeprodukte bestmöglich in Szene setzen. (8/10)
Mit einem vierten Amuse-Bouche lässt sich dieser Gedanke fortsetzen. Es geht um einen Zweiklang von Melone und Dorade. Die Frucht kommt in dreierlei Zubereitungsarbeiten: gegrillt, als Coulis und en nature mit einem Pineau-des-Charentes-Gelee. Das Stück Dorade ist mariniert, dadurch leicht gegart, und weist leichte Raucharomen auf. Das ergibt ein sommerliches, qualitativ auffällig gutes Häppchen. Etwas beliebig wirkt es dennoch. (7,5/10)
Meine erste Vorspeise heißt »tout le homard« (»der ganze Hummer«, € 110) und ist ein Klassiker des Hauses. Das Gericht wird an einem Servicewagen finalisiert, indem ein vorgegarter und in Ingwer und Zitrone marinierter Hummerschwanz über einer beheizten Platte aus Himalayasalz fertiggegart wird. Die Stücke werden dann auf einem bereits vordekorierten Teller angerichtet. Ein bisschen viel Show um so ein schlichtes Thema, doch es geht darum, den perfekten Garpunkt genau am Tisch abzupassen.
Der Teller selbst enthält zu dem Hummer noch Dutzende kleine Saucentupfen sowie diverse Meerespflanzen, die das süßlich-nussige Hummerfleisch in jeweils unterschiedlich aromatischer Bitterkeit (etwas harsch) kontrastieren. Dazu gibt es noch einen befremdlich stabilisierten Krustentierschaum, der wenig ansehnlich in der Tellermitte platziert ist und weitere Intensität beisteuert. Die Qualität des Hummers ist zweifelsfrei, aber der Teller für sich betrachtet keinerlei Referenz.
Besser ist das separat servierte Tartar aus dem Scherenfleisch, das mit Liebstöckel und einem zitrusfrischen Gelee, ebenfalls aus Hummer, sehr stimmig ist. Dass »sehr stimmig« in einem Drei-Sterne-Restaurant bei einer Speise für über hundert Euro das Highlight eines Gerichts bleibt, ist jedoch mindestens so ernüchternd wie der aus den Karkassen hergestellte Hummerchip. Die Kreation ist »pappig« und sehr kaubedürftig, da gibt es viel spannendere Möglichkeiten, Karkassen zu verarbeiten. Hohe Qualitäten und gekonntes Handwerk blitzen überall auf, aber wirklich überzeugend – im Sinn einer Präsentation eines mutmaßlich hervorragenden Hummers – ist das nicht. (7,5/10)
Eine auch am Tisch verkostete Vorspeise mit Seespinne in zwei Gängen für ebenfalls einhundertzehn Euro, kann auch nicht begeistern. Zu viele Komponenten verschleiern in zwei sehr ähnlichen Arrangements das subtile Aroma des edlen Tiers.
Mit einer gelbgrünen Farbwelt geht es weiter. Bei dieser Vorspeise (€ 80) geht es um Bouchot-Muscheln, eine Miesmuschelart, die, aus dieser Region Nordwestfrankreichs stammend, zu den besten zählt. Coutanceau präsentiert die aromatischen Muscheln gegart in einer milden, aber sehr aromatischen Curry-Nage, dazu gibt es allerlei Pflanzen aus dem Meer, unter anderem eine Art Queller, der wie eine Gurke aussieht. Hier greift alles perfekt ineinander, die exotische Sauce mit der süßlichen Muschel, die leicht jodigen Pflanzen sowie die teils höhere Temperatur, die für Duft und Entspannung sorgt. Exzellent dazu sind auch ein »Senfeis«, das einen kühlenden Kontrast bietet, sowie eine Tartelette mit rohen Muscheln und Kräutern. Mehr als hervorragend – und ein denkwürdiges Gericht um das Thema Miesmuschel. (8,5/10)
Mein Hauptgericht lautet auf Tintenfisch und präsentiert das Tier »von den Tentakeln bis zum Mantel« (€ 85), also unter der Verwendung von möglichst vielen verschiedenen Teilen des Tiers. Das Gericht ist optisch markant. Zwischen Algen und unterschiedlichen Stücken des Mollusks wurde eine tiefschwarze, zähflüssige Sauce aufgetragen, die einen vermuten lässt, Jackson Pollock lebte noch, und zwar hier in der Küche. Nichts gegen Tintenfischtinte. Das Gericht weist ganz andere Probleme auf. Zunächst ist die Sauce extrem salzig, was allerdings nicht von der eigentlich recht neutral schmeckenden Tinte selbst herrührt. Das Salz, in Kombination mit der schwarzen Farbe, legt sich rasch wie Schweröl über alle Komponenten des Gerichts, es sei denn, man schafft es, irgendein Stück unbeschadet herauszufischen. Gut sind dann die gegrillten Teile und auch die aus dem Tier hergestellte »Blutwurst«. Weniger vorteilhaft sind vier Portionen von hauchdünn aufgeschnittenem, rohem Tintenfisch, die man wie kleine Türmchen angerichtet hat, ähnlich wie Ingwer zu Sushi. Die schleimige Textur des Fischs – in dieser Menge, mit dieser Sauce – ist alles Andere als ein Genuss.
Das ist alles zu viel, alles zu extrem, alles zu schleimig, alles zu hässlich. Nach einigen verzweifelten Happen gebe ich auf. Ich bespreche alles mit dem freundlichen Maître, der Interesse und Verständnis an meinen Ausführungen zeigt und das Gericht später von der Rechnung nimmt. Ich habe bereits grandiose Gerichte mit Tintenfisch gegessen – von kleinen, perfekten Häppchen in Japan über das unvergessliche »Sandwich« von Heinz Beck bis zu einem geheimnisvollen, tiefschwarzen Teller im Uliassi –, dieser Teller bleibt leider auf andere Art unvergesslich. (5/10)
Etwas (sehr guter) Käse vom Wagen rettet mich über den noch vorhandenen Appetit bis zu den Desserts, die mit einem Pfirsich mit Verjus-Sauce eingeleitet werden. Ich verstehe die Idee, mit etwas Säure zum süßeren Teil überzuleiten, verstehe aber nicht, warum man hierdurch die Aromen eines vermutlich sehr guten Pfirsichs überspielen muss (6/10).
Eine der besten Speisen des Abends ist dann eine himmlisch gute, wenngleich auch beliebige, Kreation mit Cognac-Eis, Gujana-Schokolade und leichten Räucheraromen (9/10); glasierte Erdbeeren sind ebenfalls sehr gut, nur das Gebäck, auf dem sie präsentiert sind, ist ziemlich hart und zersplittert zwischen den Zähnen mit lautem Krachen (7/10).
Das Restaurant will »nur Fisch« sein, aber diese Kostprobe war weder Fisch noch Fleisch. Das größte Rätsel bleibt die Frage, warum ein passionierter Koch und Fischer (»cuisinier pêcheur«, so seine Eigenbezeichnung) seine Produkte so wenig authentisch in Szene setzt. So gut wie nie war es möglich, die Meeresfrüchte in ihrer reinen Güte wahrzunehmen. Dazu wirkten die Komplementäraromen der Algen oft repetitiv, die Saucenkleckse beim Hummer redundant; und zu jeder thematisierten Hauptzutat fallen mir etliche qualitativ bessere, geschmacklich harmonischere und handwerklich gelungenere Gerichte ein. Ohne die Küche des Restaurants je verfolgt zu haben, stellt sich mir die Frage, warum der Guide Michelin hier auf einmal drei Sterne zückt.
Den nächsten Tag liege ich mit einer Magenverstimmung im Zimmer des wunderschönen, ebenfalls zu Coutanceau gehörenden Boutique-Hotels. Ich bin sachlich genug, um zu wissen, dass es keinen Kausalzusammenhang zum Essen geben muss, aber meine Laune ist im Keller. Heute Abend schon steht das einfachere La Yole de Chris auf dem Plan, das Fisch und Meeresfrüchte in unkomplizierter Atmosphäre serviert, gleich nebenan vom Hauptrestaurant. Mal sehen, welche Überraschungen es bereithält.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Christopher Coutanceau (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Christopher Coutanceau |
Ort: | La Rochelle, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 03.07.2021 |
Guide Michelin (F 2021): | *** |
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