Das Auge isst mit ‒ Teil 2
Farbverläufe wie bei Regenbögen, Pastelltöne wie bei Monet, kraftvolle Kontraste, morbide Stillleben, Chaos ‒ und immer wieder die natürliche Schönheit guter Zutaten ‒ sind nur einige der Aspekte, die für mich die visuell schönsten Gerichte ausmachen.
Hier folgt eine weitere Auswahl von Gerichten, die mich in den letzten Jahren optisch besonders angesprochen haben. Alle sind ausnahmslos auch kulinarische Meisterwerke mit herausragenden Zutaten und bestem Geschmack.
In diesem Gericht von Quique Dacosta liegen verschiedene Blüten sowie gefriergetrocknete Zubereitungen in Orange-, Rot- und Violetttönen asymmetrisch auf einem schneeweißen, leichten Cracker. Der Farbverlauf der Blüten und die scheinbar zufällige Anordnung wirken sommerlich leicht und hoffnungsvoll.
Wie ein gekentertes Boot liegt ein Schiffchen von mit Spargelabschnitten bedecktem Forellentartar in einem durch Dill grün gefärbten Muschelsud-See. Bedächtig platzierte, hellviolette Frühlingszwiebelblüten weisen auf den sommerlichen Geschmack des Gerichts hin.
Im neuen Restaurant der Familie Troisgros begeistert optisch ein Stück Lammkarree, das einen appetitanregenden, pinken Farbverlauf aufweist. Eine fast schwarze Kräuterkruste verspricht geschmackliche Intensität, genauso wie bräunliche Gewürze und orange leuchtendes Öl.
Im Restaurant Harutaka in Tokio intensiviert die Transparenz eines Dashi das bläulich graue Keramikschälchen. Darin liegt schneeweißer Amadai mit einer rötlichen, netzartigen Haut, die an Fangnetze erinnert. Yuzu-Zesten kontrastieren mit ihrem matten Gelb das Gericht optisch sehr harmonisch. Die visuelle Klarheit ist bestechend.
Die reduzierte Drei-Sterne-Küche von Niko Romito aus dem Reale serviert in einem Gang einen einzigen, perfekten Kräuterseitling. Dessen durch Rösten bräunliche Färbung wirkt kraftvoll und bringt Strukturen und Formen zum Vorschein, die an einen alten Baum erinnern. Der Klecks einer leuchtend grünen Kräutercreme komplettiert das Landschaftsmotiv, das im Kopf entsteht.
Bedrohliche Tiefsee und ungeheure Kreaturen kommen einem vielleicht bei einem Gericht mit Tintenfisch im italienischen Uliassi in den Sinn. Oder erinnert einen der schwarze Sud gar an Schweröl? Das spannungsvolle Gericht geschmacklich zu erkunden, erfordert Neugier und Offenheit.
Eine winzige, hellbraune, fast transparente Flunder liegt im andalusischen Aponiente auf einem Teller mit dunkelblauen und weißen Mustern. Sie wird später mit einer Salzlösung übergossen, die den Fisch wie eine Wolke verschluckt und dabei gart. Atemberaubend.
Regelrecht japanisch wirkt ein Arrangement mit Seegurke im koreanischen Gaon. Das skurrile Tier erinnert an bepanzerte Urtiere, während eine kirschenartige Frucht und ein stiller Fond aus Hühnerjus beruhigend wirken.
Hauchdünne Streifen vom Zwerchfell sind in der Gebirgsküche des St. Hubertus medium rare gegart und wirken auf der hellgrauen Keramik besonders plastisch und leuchtend. Einige grüne Hülsenfrüchte kontrastieren das Fleisch in Komplementärfarbe.
Der junge Dylan Watson-Brawn aus dem Berliner Ernst ist ein Meister der Reduktion und Ästhetik. Sein glänzendes, gelbes Chawanmushi wirkt durch die zufällige Anordnung von dünnen, hellgrünen Selleriestückchen besonders ansprechend. Zufall und Chaos wirken bei der Ästhetik von Gerichten oft spannender und natürlicher als präzise Symmetrie.