Gutsherrenküche (Gutshaus Stolpe) ‒ Klimawandel
Als die Gastronomie wieder öffnete, war ich von Beginn an verhalten. Geschlossene, unbelüftete Räume, in denen sich mehrere, überwiegend mit Mund und Nase beschäftigten Personen über längere Zeit aufhalten, zählen nach wie vor eher zu den Orten, die man lieber meiden sollte. Meine Strategie, um dennoch wieder ‒ außerhalb der eigenen vier Wände ‒ dem Genuss zu frönen, heißt daher zurzeit: an die Luft statt in die Luft.
Meine erste Recherche nach kulinarisch interessanten neuen Zielen, die in nicht allzu großer Entfernung zu meiner Heimatstadt Hamburg „luftiges“ Essen ermöglichen, förderte unter anderem das Gutshaus Stolpe zutage. Auch ohne dieses neue Auswahlkriterium könnte man aber auf die Idee kommen, nach Stolpe an der Peene in Mecklenburg-Vorpommern aufzubrechen. Küchenchef Stephan Krogmann, dort erst kurz im Amt, hat erst kürzlich den Michelin-Stern des Hausrestaurants Gutsherrenküche verteidigt und lässt auch außerhalb des Peenetals längst von sich hören.
Das Wetter spielt an diesem Samstagabend mit. Bei schwülwarmen 28 Grad hätte ich mich zwar sonst eher nach einer Klimaanlage erkundigt, aber die neuen Zeiten erfordern ein Umdenken in vieler Hinsicht.
Die Terrasse des Hauses bietet dabei einen Blick auf den weitläufigen Garten mit riesigen, jahrhundertealten Bäumen und einiges an kurzweiligem Tiergeschehen. Sogar eine Kröte verirrt sich irgendwann in Richtung meines Tischs.
Dass man hier Französisch kocht, erschloss sich mir schon vor meiner Anreise. Die Speisekarte, die ein Menü in fünf bis neun Gängen (€ 120‒180) bietet, spricht da eine ganz klare Sprache. Bretagne, Vendée, Auvergne und Bresse sind nur einige der Regionen, die in ihr vorkommen. Was auch noch vorkommt, sind Trüffeln, Sot-l’y-laisse, Steinbutt, Kalbsbries, Artischocken, Nussbutter, Kaviar und Spezialitäten wie eine Sauce Rouennaise. Unter anderem. Das alles klingt entweder nach einem weiteren Restaurant in Deutschland, dem außer französischer Küche nichts einfällt, um sich im Guide Michelin hochzuarbeiten, oder nach ein paar besessenen Kochfreaks, deren schulterzuckende Antwort auf die Frage, welche Sauce denn am besten zu einem Rehbock aus heimischer Jagd passt, eben „Rouennaiser Sauce“ ist, die dann tagelang dafür zubereitet wird, bis die Konsistenz durch die eingearbeitete Gänseleber ideal ist und der Glanz, den das Auge so erfreut, wie Paul Bocuse es verlangt hat, so herausgearbeitet ist, dass man sich darin spiegeln kann. Ich setze auf Letzteres.
Die Amuse-Bouches geben erste Hinweise. Es gibt einen angenehm knusprigen, ausnahmsweise mal nicht zwischen den Zähnen klebenden Zitrus-Baiser mit Fischmousse und einem erfrischenden Yuzu-Kalamansi-Gel (7/10), dann einen nicht weniger als himmlisch guten Gebäcktaler mit lauwarmer, sphärisierter Gänseleber mit Pinienkernen (8,5/10), und schließlich einen elegant-rustikalen, knusprigen Gebäckzylinder mit perfekt gewürztem Rindertartar, Schnittlauch und Sardelle (7,5/10). So akkurat gearbeitete Petitessen vermisst man oft selbst in höher besternten Häusern.
Ein weiterer Gruß aus der Küche ist eine pochierte Gillardeau-Auster mit einem milden, aber geschmacklich gut ausbalancierten Apfel-Gurke-Sud, Rettich und sehr passend eingesetztem Bronzefenchel, der mich hier noch mehr begeistert als die Auster, die ich in der Regel lieber en nature genieße als gegart. Unabhängig von meiner Präferenz jedoch sehr gut. (7/10)
Die Weinkarte bietet Weine aus den meisten einschlägigen Weinregionen, viel davon aus Deutschland und zu erschwinglichen Preisen von oft deutlich unter fünfzig Euro die Flasche. Dass man diesbezüglich keine Wunder erwarten kann, dürfte jedem versierten Genießer klar sein. Doch man bemüht sich sichtlich, den Spagat zwischen Landgasthof und Sternerestaurant zu meistern; hier und da findet man durchaus Anspruchsvolles. Ich erkundige mich für den Start nach etwas Offenem aus dem Burgund, und aus dem einfachen, aber guten Bourgogne „Vieilles Vignes“ der Domaine Pierre Labet wird später sogar noch die ganze Flasche (€ 95). Ein 2017er Morey-Saint-Denis „en la rue de Vergy“ (€ 200) steht auch schon karaffiert auf einem Eiskübel mit Serviette, um den hochsommerlichen Temperaturen Herr zu werden.
Der erste Gang des Menüs ‒ ich habe mich für alle neun Gänge entschieden ‒ ist eine Komposition um gebeizten schottischen Loch Duart-Lachs. Zwei dicke Tranchen dieses sehr guten Produkts sind in einer cremigen Sauce mit dezent abgeschmecktem Schnittlauchöl angerichtet. Eine Nocke N25 Kaluga-Kaviar steuert trotz ihrer üppigen Portionierung ihre begehrte jodige Salzigkeit und nussige Aromen nur in Form von Understatement zu, nicht, um zu protzen. Ein knuspriges Blatt aus Kartoffel sorgt für Texturspaß dieses sehr akribisch austarierten Gerichts. (7,5/10)
Noch sind wir nicht eindeutig in Frankreich angekommen. Die in ihrem Sud marinierten Büsumer Krabben, die um ein wachsweiches Eigelb und mit Blättern von jungem Spinat angerichtet sind, blicken zwar schon gen Westen, demonstrieren aber sehr gelungen, dass man auch mit deutschen Geschmacksbildern Spitzenküche betreiben kann. (7/10)
Fast so als wollte die Küche nur kurz demonstriert haben, dass sie auch Heimisches respektiert, sich für den Rest des Abends aber nun allzu gerne mit französischen Federn schmückt, geht es weiter mit einem Filetstück von bretonischem Steinbutt, außen leicht kross und goldbraun, innen saftig, heiß und blütenweiß, an manchen Stellen vielleicht nur eine unerhebliche Nuance zu weit gegart. Dazu gibt es aufgeschlagene Nussbutter, auffällig gut abgeschmeckt, und exzellenten grünen Spargel aus der Provence. Solides Sterneniveau. (7/10)
Dann zieht alles an. Ein (angenehm) kleines und feines Stück Petersfisch aus der Vendée liegt beim nächsten Gang in einem Sud aus Tomate und Artischocke, der nun schon zum wiederholten Mal ein Ausrufezeichen hinter die flüssigen Zubereitungen setzt, die hier aus der Küche an den Tisch gelangen, meist sogar mit einer kleinen Kasserolle zum Nachnehmen. In diesem Sud schmeckt man nicht nur die sonnigen Zutaten heraus, er ist auch perfekt abgeschmeckt und sorgt für die entscheidende Menge Salz, die man zu dem Fisch benötigt. Dieselben Zutaten aus dem Jus ‒ San-Marzano-Tomaten und bretonische Artischocken ‒ gibt es dann auch noch in Form eines Tomatentartars und gebratenen Artischockenherzen mit intensivem Aroma und feinen Röstnoten. Gerade auch die Artischocken sind wundervoll. Hitze, Salz, Umami, Butter, Säure und Sonne ergeben ein hervorragendes Gericht mit Produktfokus und beachtlichem Handwerk. (7,9/10)
Und obwohl man sich auf diesem Niveau besten Gewissens ausruhen könnte, setzt die Küche mit knusprigem Kalbsbries (aus der Auvergne) noch einen drauf. Die goldbraun gebratene Delikatesse ist auf sämigem Risotto platziert, beide Zubereitungen dienen aber letztlich „nur“ als Bühne für exzellente australische Trüffeln und eine famose Sauce. Die Trüffeln spielen ihre ätherische, an nassen Wald erinnernde Aromen sowohl in Form von dicken Scheiben aus als auch (nicht zu) kleingehackt in einem Kalbsjus. Die Demi-glace ist konzentriert, klebrig, hocharomatisch und das offenkundige Werk eines Saucenfanatikers, der vom Rösten der Kalbsknochen über die Fondpflege bis zum Reduzieren und Glanzverleihen des Elixiers so akribisch vorgehen muss wie ein japanischer Sushi-Koch mit seinem Reis. Saucen auf diesem Niveau erlebt man nicht oft, und allein das zementiert schon das Weltklasseniveau dieses Tellers, der zwar nichts neu erfindet, aber Bewährtes großartig zum Vorschein bringt. Und auch hier wieder unterstützt die Hitze aller Komponenten das gesamte Erlebnis. Ich nehme immer wieder aus dem Saucentopf nach, damit der Genuss nicht abklingt und die Lippen klebrig vom Trüffeljus bleiben. (9/10)
Darauf einen ordentlichen Schluck Morey-Saint-Denis.
Einem ähnlichen Duktus folgt dann ein Gericht mit Schwarzfederhuhn aus der Bresse. Es gibt geschmorte Keule in einer (minimal zu dicken) Teigtasche und Pfaffenstückchen mit weißer Zwiebel, sehr guten, erdig-frischen Steinchampignons und einem abermals erhabenen, dichten Jus, diesmal offenbar auf Hühnerfondbasis. Das duftet wunderbar, bietet konzentrierte Aromen und eine sehr gute Variation einer Spitzenzutat, ist jedoch geschmacklich überraschenderweise etwas weniger differenziert. Dennoch mehr als sehr gut. (7,5/10)
Ungeniert klassisch gibt es vor dem letzten herzhaften Gang noch ein Kräutersorbet in einem Champagner-Holunder-Sud. Das schmeckt nach einem ganzen Kräuterstrauß, eher süßlich-würzig als säurebetont, der fruchtig-prickelnde Sud dazu ist erneut alles andere als nach Gutsherrenart umgesetzt. Für ein Sorbet unerwartet hervorragend. (8/10)
Der Hauptgang ist Rehbock „aus heimischer Jagd“. Das für diese Menüfolge erneut ideal portionierte Filetstück kommt mit einer Kruste mit Kampot-Pfeffer und ist sowohl damit als auch mit seiner perfekten Garung ‒ offenkundig nicht sous-vide ‒ schon ein Hingucker. Kombiniert ist das Fleisch mit einer Reihe sehr akkurat gearbeiteter Begleiter, die einem insgesamt klassischen Geschmacksbild folgen. Vor allem Sellerie, u. a. als Mousseline, spielt hier geschmacklich eine Hauptrolle. Der Star des Gerichts ist dann abermals eine Sauce, hier eine Sauce Rouennaise, von der allein schon bewundernswert ist, dass sich ein (junger) Küchenchef überhaupt für sie interessiert. Die aufwändige Sauce, die meist mit Entenblut und Entenleber abgebunden wird, ist erneut meisterhaft und für eine Rouennaise erstaunlich brillant. Hitze, Salz, Garung, Qualität und die Präzision und geschmacklich allesamt schlüssigen weiteren Komponenten ergeben ein Gericht, das mich sehr an eine fabelhafte Reh-Variante von Christian Jürgens aus dem Jahr 2014 erinnert, einen Vergleich jedoch zweifellos gewinnen würde, alleine schon wegen der deutlich präziseren Zubereitung. Das zeigt erneut das Niveau, auf dem man hier kochen kann. (9/10)
Nach einem Teller Käse von Bernard Antony probiere ich auch noch das Dessert. Und obwohl ich nicht der größte Freund von Schokoladendesserts bin, ist ein weicher Ring aus Valrhona Itakuja-Schokolade, deren von Haus aus fruchtige Aromen hier von Himbeere und Passionsfrucht in verschiedenen Kompositionen verstärkt und ergänzt werden, exzellent. Die Kombination Himbeere/Schokolade kann schnell trivial wirken, oft sind mir Schokoladendesserts auch zu mächtig und intensiv. Hier jedoch handelt es sich um eine sehr ausgewogene Kombination mit einem Fokus auf Schmelz, Frucht, Süße und Leichtigkeit anstatt auf Intensität und Bitterkeit. Schwelgerisch. (8/10)
Zum tatsächlichen Abschluss gibt es noch einige Petit-fours, natürlich in klassischster Darbietung mit Macarons, Pralinen, Fruchtgelée und Canelés, alle sehr gut (7/10), manche noch etwas besser.
Ich habe nur noch wenig Aufnahmekapazität, es ist kurz vor Mitternacht und immer noch tropisch heiß. Eine Klimaanlage wäre zum Schlafen jetzt doch ganz schön. Gibt es hier aber nicht. Irgendwas ist ja immer.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Gutsherrenküche (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Stephan Krogmann |
Ort: | Stolpe an der Peene, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 27.06.2020 |
Guide Michelin (D 2020): | * |
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