Restaurant Überfahrt Christian Jürgens ‒ Non Pérignon
Ich hätte es ja lieber, dass die Wunde, auf die ich immer wieder meinen Finger lege, langsam mal verheilen würde. Meine häufigen Pointen in Richtung der so oft verkrampften, spießigen deutschen Gastronomielandschaft hätten sich jedoch nicht mehr bewahrheiten können als am heutigen Abend im Restaurant Überfahrt Christian Jürgens. Am Essen lag es gar nicht mal. Das war teilweise sogar ziemlich gut.
Aber das Konzept der gesamten Bewirtung ‒ die Ideen, wie man Gästen eine Spitzenküche präsentieren möchte ‒ sucht an Absurdität ihresgleichen. Wie sollte man es sonst nennen, wenn man ein „Dom-Pérignon-Dessert“ serviert, das in einer glänzenden Schachtel mit Dom-Pérignon-Logo in Champagnerdeckeln angerichtete Pralinen enthält, aber überhaupt keinen Dom Pérignon beinhaltet? Man hätte also genauso gut auch Gucci draufschreiben können. Oder wenn man ein Gericht in einem gigantischen Zylinder aus Eis serviert, der von innen rot beleuchtet ist, ohne, dass der Service eine Erklärung dafür hätte? Oder wenn das ‒ eigentlich ganz keck gekleidete ‒ Personal immer wieder dieselben Phrasen drescht, ob es einem „denn gemundet“ hätte, es noch etwas „von dem Wasser“ sein dürfte und so weiter. Und immer wieder dieser ewig gleiche Einrichtungsstil. Ich weiß gar nicht mehr genau, wo ich bin. Das Restaurant sieht genauso aus wie Dutzende Sternerestaurants in Deutschland, die irgendwann eine Gästeflucht befürchtet haben, wenn man nicht schnell die Tischdecken entfernt. Graubraune Farben, Tischdecken runter, fertig. Überfahrt, Vendôme, Atelier ‒ alles dasselbe. Kafkaesk!
Natürlich ist die Homogenität der Einrichtungen vieler deutscher Spitzenrestaurants nicht ursächlich hier zu suchen. Das Überfahrt war in Deutschland vielleicht sogar eines der ersten seiner Art mit einem etwas aufgelockerten Ambiente. Es ist gemütlich hier, keine Frage.
Der Abend beginnt auch mit recht großen Erwartungen, denn ich hatte hier vor knapp sechs Jahren ein hervorragendes Essen. Aber jetzt mal im Ernst. Wer hängt sich denn bitte alle Michelin-Plaketten der vergangenen Jahre an die Tür? Eine der Plaketten wurde sogar in die Mitte der Eingangstür montiert, sodass diese zur Hälfte übersteht, wenn die Tür geöffnet ist. Mich würde interessieren, wie viele Gäste denken, sie würden tatsächlich ein Neun-Sterne-Restaurant betreten. Da spielt es dann auch gar keine Rolle mehr, verlöre das Restaurant mal einen. Man addiert die neuen einfach immer zu den bisherigen und wird damit rechnerisch immer besser.
Bei einem Glas 2017er Pouilly Fumé „Florilège“ von der Domaine Jonathan Pabiot (€ 24) stöbere ich in den zwei angebotenen Menüs und in der Weinkarte. Letztere kommt nach wie vor in Form eines kleinen Buchs, ansprechend gestaltet und angenehm zu blättern. Die Preise sind fair kalkuliert. Ein 2012er Grands-Echézeaux von der Domaine de la Romanée-Conti kostet hier bspw. € 1185 ‒ das ist zwar eine Menge Geld, liegt aber deutlich unter dem aktuellen Marktwert. Aber selbst, wenn man nicht ins allerhöchste Regal greift, ist das Preisniveau auf dem Teppich geblieben. Ich entscheide mich schließlich für einen 2012er Vosne-Romanée 1er Cru „Les Chaumes“ von der Domaine Méo-Camuzet (€ 215).
Die Menüpreise dagegen sind eine Ansage. Mit € 289 für fünf und € 309 für sieben Gänge sind es die derzeit höchsten Menüpreise in Deutschland. Meine Wahl fällt auf sieben Gänge, man ist hier auch erfreulich flexibel, was das Tauschen und Einschieben von Gerichten betrifft. Noch steht einem genussreichen, kurzweiligen Abend nichts entgegen.
Das erste Amuse-bouche ist ein (nicht echtes) „Kiebitzei“. Der kühle Fingersnack ist komplett essbar, besteht aus einer dünnen, fragilen „Schale“ und enthält unter anderem eine Brathähnchenmousse. Das schmeckt angenehm herzhaft sowie intensiv nach weißem Trüffel. Ich vermute, dass hier Trüffelöl Verwendung findet, wenn, dann allerdings ein hochwertiges. (7,5/10)
Noch viel besser ist Amuse-bouche Nummer zwei, ein Rindertatar mit Steinpilzen und einem dünnen, knusprig gerösteten Weißbrot mit Kräuterpesto. Eine Sauce, die einer Remoulade ähnelt, findet man auch noch dazu. Das angenehm unverkrampfte Ensemble bereitet großen Genuss. Ungeniert herzhaft, tadellos gewürzt und mit hervorragenden Produkten zubereitet, ist das nicht weniger als ein fantastisches Tatar. (8,9/10)
Das letzte Amuse-bouche ist tituliert als „Hommage an Dieter Kaufmann“, ein berühmter deutscher Koch aus den 60er- bis 80er-Jahren. Warum Jürgens genau diesen Koch mit diesem Gericht ehrt, wird nicht erläutert, was etwas merkwürdig ist. Der Service ist nach dem Aufzählen der Zutaten auch schnell wieder weg. Es gibt eine in Gurkensud angerichtete Störmousse mit Gin-Fizz-Sorbet und Imperial-Kaviar. Das Gericht ist spritzig-frisch und schmeckt überwiegend nach intensiver Gurke. Der Kaviar steuert auf feine Art etwas Salzigkeit hinzu, kann jedoch ‒ trotz seiner großzügigen Menge ‒ sein Eigenaroma in all der Gurke nicht allzu gut entfalten. Neben dieser etwas fehlenden Balance rauben die artifiziellen Texturen (schaumig und angedickt) dem Gericht auch einiges an Authentizität. Dennoch sehr gut. (7,5/10)
Das eigentliche Menü beginnt dann auf sehr befremdliche Art. Ein riesiger, rot leuchtender Eiszylinder dient als kühlende Hülle für ein Ceviche von der Dorade. Ich sehe mich geniert um, aber natürlich gucken alle. Auf meine Nachfrage, warum das Gericht rot leuchte, hat der Service keine Antwort. Das rote Licht in Kombination mit einer schwarzen Schale führt dazu, dass die Zutaten darin kaum erkennbar sind. Gerade dieser Punkt ist betrüblich und sagt eine Menge über das in Deutschland oft noch herrschende Verständnis aus, dass Aufsehen erregendes Anrichten einen höheren Stellenwert genießt als die Präsentation der natürlichen Güte von Zutaten. Dieses Missverständnis wird kaum deutlicher als in diesem Rotlichtmilieu. Dabei müsste sich das Ceviche nicht verstecken. Die Produktqualität ist fantastisch. Der Fisch hat eine angenehme, bissfeste Textur und eine leicht gekühlte Temperatur. Hauchdünne Fenchelabschnitte bringen eine unaufdringliche Süße ins Spiel, Dill und andere Kräuter sind darin exzellent integriert. Zusammen mit einer süßlich-säuerlichen Marinade ergibt das ein ausbalanciertes Gericht auf sehr hohem Niveau. Ein echtes Ceviche ist zwar deutlich säurebetonter, aber das tut dem Genuss keinen Abbruch. Aber jetzt entferne man bitte dieses Gebilde, ich schäme mich wirklich. Immerhin bestätigt mir der Service, dass weitere Gänge unbeleuchtet sind. (8,9/10)
Für den zweiten Gang, „Hong Kong Cray Fish Tea“, der hier schon lange auf der Karte steht, köchelte während des letzten Gangs bereits eine Krustentieressenz in verschiedenen Aromaten wie Pilzen, Krustentierresten, Blüten und Gemüsen vor sich hin. Dies geschah in einer „Cona“-Kaffeemaschine mithilfe eines physikalisch interessanten Prozesses, bei dem die Brühe durch Druckunterschiede von unten nach oben fließt. Diese optisch kurzweilige Methode wurde bereits in mehreren Restaurants so praktiziert, u. a. im Epicure (Paris) und Maaemo (Oslo). An wen man die Hommage letztlich richten müsste, habe ich nicht recherchiert. Die Essenz wird für den folgenden Gang dann in den eigentlichen Teller angegossen, der einen stattlichen Kaisergranat, verschiedene Kräuter, eine ölige Sauce mit Soja und weitere Komponenten enthält. Am Ende vermengt sich das alles zu einem duftenden Ensemble. Wenn man die Augen schließt, erinnert das tatsächlich an Asien. Der heiße Dampf, der aufsteigt, parfümiert die Atemluft mit Zitronengras und Kaffernlimette. Eine leichte Schärfe, ein Kaisergranat von fantastischer Qualität und die im Wesentlichen naturbelassenen Zutaten ergeben ein Gericht voller Spannung und Intensität. Crayfish (Flusskrebs), wie im Titel trotz falscher Schreibweise suggeriert, gibt es hier allerdings nicht. (9/10)
Es folgt Petersfisch in Form eines rechteckigen Filetstücks. Der edle Fisch ist makellos gegart, weist die für Petersfisch typische feste Textur auf und ist in einem Escabeche-Sud angerichtet. Dieser ist mir etwas zu stark angedickt, weist aber geschmacklich die für eine Escabeche-Zubereitung charakteristische prägnante Säure auf, die durch Grapefruitstückchen noch intensiviert wird. Avocado bringt etwas abmildernden Schmelz in das stimmige, aber doch etwas zu säuerliche Gericht. Qualitativ dennoch hervorragend. (8/10)
Trotz der ersten drei objektiv hervorragenden Gerichte lässt mich der Abend bisher völlig kalt. „Hong Kong“, Ceviche, Escabeche, rote Lichter in Eis, Kaffeemaschinen ‒ welchem Konzept folgen die Kreationen? Man erfährt das nicht; der Service ist wortkarg und weitestgehend spaßbefreit. In heutigen Zeiten, in denen so viele Restaurants allein mit ihrem Essen eine Geschichte zu erzählen wissen, fühlt sich der Abend antiquiert und manieriert an.
Unterstützt wird dieser Eindruck auch durch asaisonale Zutaten wie die folgende Spitzmorchel, eigentlich ein Pilz aus dem Frühjahr. Ich bin kein Botaniker, vielleicht gibt es den edlen Pilz auch bis in den Sommer hinein, vielleicht bezieht man ihn aus dem Ausland oder verwendet konservierte Ware. Ganz gleich, woher die Morchel stammt, hat sie ein sehr ansprechendes Eigenaroma, eine „lebendige“ Textur und wurde betörend in Butter gebraten. Der Pilz ist mit einer gut gewürzten Milchferkelfarce gefüllt, die das Gericht mit einer angenehmen Prise Salz versorgt, dazu gibt es Stückchen vom Milchferkelbäckchen, einige Blüten, Estragon und einen ‒ erneut leider etwas zu angedickten ‒ Sherryessig-Jus, der eine prägnante, aber gut austarierte Säure beisteuert. Eine insgesamt großartige Produktpräsentation, die mit etwas mehr Justierung grandios wäre. (8,9/10)
Es geht weiter mit einem Gericht, das bei meinem vergangenen Besuch vor vielen Jahren auch schon in ähnlicher Version auf der Karte stand. Die aktuelle Version von Jürgens’ Trüffelexzess heißt „Australian Black Gold“ und besteht aus einer Komposition, die bereits auf dem Papier nach süffigem Wohlgeschmack klingt. Doch so ganz hält das Gericht, das als A-la-carte-Portion mit € 139 bepreist ist, sein scheinbares Versprechen nicht. Unter einer kostspieligen Schicht aus 15 Gramm feingehobeltem australischem Trüffel sowie Blattgold findet man Spinat, ein Eigelb und eine größere Menge Trüffelmousseline, die gleich das erste Problem mit sich bringt. Die merkwürdig stabilisierte Creme ist zu massig und lässt Spinat und Ei geschmacklich untergehen. Hinzu kommt das größte Problem des Gerichts: eine ausgeprägte Süße, die ich in erster Linie auf den Trüffel zurückführe. Australischer Trüffel ist von Natur aus deutlich süßer als bspw. der ätherische, herzhafte Périgord-Trüffel. Erneut fällt mir hier auf, dass das Hobeln von Trüffeln mit einer Microplane unvorteilhaft ist. In diesem Teller verstärkt diese Textur die Süße; bei Périgord-Trüffeln nimmt sie der Zutat den „Biss“. Zu süß, zu schaumig, zu undifferenziert. (6,9/10)
Der Hauptgang trägt den Titel „Zart und Saftig“, was im Nachhinein ironisch ist. Es handelt sich hier um eine geschmorte Kalbsbacke, die mit Petersilien-Tapioka und einer Scheibe Kalbsmark sowie weiteren Mikrokomponenten bedeckt ist. Die Sauce ist ein etwas säuerlicher Schmorjus, diesmal etwas naturbelassener als die bisherigen Saucen. Die Kalbsbacke hat ein Problem, das bereits beim Anschneiden offenkundig wird: sie hat eine sehr feste, homogene Textur und ist am Gaumen trocken. Für eine Zutat, die eigentlich vor Zartheit zerfallen müsste ‒ und in Hinblick auf den Titel des Gerichts ‒, ist das nur als handwerklicher oder qualitativer Fehler einzuordnen. Ich probiere etwas davon, aber das Gericht bereitet wegen des unappetitlichen Fleischs kein Essvergnügen. Höflich wie immer erkläre ich dem Personal das Problem; weiteres Interesse seitens des Personals oder gar des Küchenchefs besteht jedoch nicht. Man bietet mir zwar an, einen anderen Hauptgang zuzubereiten, was ich jedoch dankend ablehne. Bei derartigen Missgeschicken erwarte ich in einem solchen Restaurant eigentlich eine andere Reaktion auf Gerichte, die halb aufgegessen an den Pass zurückkommen. (6/10)
Inzwischen ist mein Frust ob des roboterartigen Service und der teilweise missglückten Gänge schon auf ein Niveau angewachsen, an dem nicht mehr viel passieren kann, um den teuren Abend noch zu retten.
Da hilft auch nicht „Oma Jürgens warmer Himbeerkuchen“, die erste geradezu herzliche, authentische Speise des Abends. Die heißen, üppig glasierten Himbeeren, darauf schmelzendes „Milchmädcheneis“, Pecannüsse und Guanaja-Schokolade ergeben ein schlicht wundervolles, handwerklich makelloses und persönliches Dessert. (9/10)
Den Abschluss des Abends besiegelt dann die bereits erwähnte Schachtel mit „Dom Pérignon“-Aufschrift. Die drei Pralinen in Champagnerkorkenform mit Passionsfrucht, Cassis und Marc de Champagne sind zwar ganz gut, mit dünner Ummantelung und kühler, fruchtiger Creme (7,5/10), haben jedoch nichts mit dem berühmten Champagner zu tun. Verdutzt frage ich, ob denn dazu zumindest ein Glas Dom Périgon serviert würde. Man könne das gerne tun, antwortet die Servicekraft etwas zögerlich und öffnet wenig später eine Flasche des Champagners. Das Glas steht später mit € 56 auf der Rechnung, was sich in Anbetracht des zuvor vorgegaukelten Dom Pérignons wie einen Tritt in den Allerwertesten anfühlt.
Im Vergleich zu all den großartigen Dingen, die man rund um die Welt mit Spitzenküche und großartiger Gastronomie erleben kann, war dieser schmerzlich teure Abend ein trauriges Schlusslicht. Aber Hauptsache, es leuchtet rot.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Restaurant Überfahrt Christian Jürgens (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Christian Jürgens |
Ort: | Rottach-Egern, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 02.08.2019 |
Guide Michelin (D 2019): | *** |
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