St. Hubertus ‒ der Berg ruft

Das ist schon ein kleiner Ritt vom Tegernsee nach San Cassiano in Südtirol. Doch das Ziel lohnt sich bereits wegen der spektakulären Landschaft. Das Dorf, in dem Wanderer, Radfahrer und andere Bergsportler den Großteil der Besucher hier ausmachen, liegt am Fuße von einer imposanten Bergkette der Dolomiten. Dabei liegt San Cassiano selbst schon in einer Höhe von 1.537 Metern über dem Meeresspiegel.

Hier im Ort befindet sich das Hotel Rosa Alpina, ein, wie sich schnell herausstellt, wunderschönes Haus mit geschmackvollen Zimmern, traumhaftem Ausblick und ‒ mein eigentliches Reiseziel ‒ dem Drei-Sterne-Restaurant St. Hubertus.

Die drei Sterne, denen seit der Existenz der roten Plaketten noch einmal eine ganz andere Präsenz zuteil kommt, sind auch für mich immer wieder etwas Besonderes. Dazu dieser märchenhafte, abgelegene Ort … all dies erhöht die Vorfreude auf den Abend. In diesen starte ich, wie so oft, mit nur sparsamen Hintergrundinformationen.

Nur so viel: Küchenchef im St. Hubertus ist seit über zwanzig Jahren Norbert Niederkofler, einer der inzwischen berühmtesten Köche Italiens. Für das Jahr 2018 wurde das Restaurant erstmals mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Niederkoflers Leitmotiv „Cook the Mountain“ stellt Nachhaltigkeit und strikte Regionalität in den Vordergrund. Das klingt heutzutage nach einem Allerweltsmotto, aber in Südtirol hat er damit Pionierarbeit geleistet.

Strikte Regionalität ist (für den Gast) in der Regel auch nur dann eine gute Idee, wenn die jeweilige Region entsprechende Schätze bereithält, die der Koch auch zum Vorschein bringen kann. Es geht am Abend blitzschnell, bis ich feststellen kann, welche das hier sind. Es geht auch blitzschnell, bis mein Wohlfühlfaktor in die Höhe geschnellt ist. Souveränes Personal mit Humor und schnellem Verständnis für gastronomische Bedürfnisse spielt eine entscheidende Rolle.

Weißwein, offen, kein Problem, kein „auf dieser Seite stehen unsere offenen Weine“-Umstände. Nachdem meine Passion für Burgund auf dem Tisch liegt, öffnet der Sommelier erst mal eine Flasche 2014er Meursault-Charmes 1er Cru vom Weingut Domaines des Comtes-Lafon. Man schaut einfach, wie weit man kommt. Das ist die Art von Souveränität, die ich einem Spitzenrestaurant erwarte, die aber längst nicht Standard ist. Rotwein bestelle ich auch schon, einen 2016er Morey-Saint-Denis 1er Cru „Clos de la Boussière“ von der Domaine Georges Roumier (€ 290) ‒ blutjung, aber eben von Roumier.

Es gibt verschiedene Menüs (€ 200–290), eines mit Klassikern, eines mit aktuellen Gerichten und eine noch umfangreichere Option mit einer Kombination aus beiden Welten, für die ich mich entscheide.

Das Menü startet mit drei herzhaften Snacks. Eine mit Schnittlauchblüten drapierte Tartelette aus Buchweizen, gefüllt mit glasierten Zwiebeln, Käse und einer Creme von Schweineblut erinnert geschmacklich an Flammkuchen (7/10); gezupfter, marinierter Lammschinken auf einer Crème fraîche mit Kräutern schmeckt ähnlich rustikal, aber auf eine sehr feine Art (7,9/10). Die dazu gereichten „Wraps“ aus Wasser, Mehl und Öl machen Spaß. In Anbetracht des noch folgenden Speisereigens ist das aber auch schon ein mächtiger Auftakt.

Dafür geht es umso filigraner weiter. Ein Stück Seesaibling wurde in einer „Speckselche“ mit Dill und Wacholder mariniert und mit Nussbutter glasiert. Das bereits für sich äußerst delikate Häppchen tunkt man in eine fast zu Käse gewordene Creme aus reiner Sahne, die nach Karamell schmeckt. Geschmacklich bietet der Snack ein ganzes Bouquet an Eindrücken ‒ allem voran Wohlgeschmack zum Augenschließen. (9/10)

Es folgt eine Scheibe sehr guten hausgemachten Sauerteigbrots, das augenscheinlich ‒ und dem Duft nach ‒ mit einer Tomatencreme und Basilikum serviert wird. Sich in dieser Sicherheit wähnend, klärt der Service wenig später die Täuschung auf. Bei der Zutat für die Creme handelt es sich tatsächlich um eine lokale Zwetschge, die fermentiert wurde und auf diese Weise vom Umami-Geschmack einer Tomate kaum zu unterscheiden ist. Sehr gutes Brot, sehr guter „Aufstrich“ (7/10), aber noch überwiegt der allgemeine Wohlfühlfaktor im Restaurant der kulinarischen Grandezza.

Doch dann beginnt das eigentliche Menü. Es gibt zunächst einen Salat aus Bergkräutern. Fünfzehn an der Zahl, leicht angemacht mit einem Dressing mit Kombucha von Holunderblüten. Das kleine Häufchen Grün ergibt am Gaumen ein zauberhaftes, sehr variiertes Geschmacksbild zwischen floraler Süße, Bitterkeit und Säure. Man kennt ähnliche Gerichte von Michel Bras und Enrico Crippa (Piazza Duomo), aber dieser Teller erreicht ähnlich Großartiges mit weniger (und anderen) Zutaten. (9/10)

Der nächste Gang beinhaltet Felchen. Der mir besonders auch aus der Haute-Savoie bekannte Gebirgsfisch kommt beim nächsten Gang als Tatar auf den Teller, bedeckt von einer grünen, nach Kräutern duftenden Sauce auf Weißweinbasis mit Liebstöckelöl, Holunder, grünem Apfel und Kapern. Frittierte Schuppen des Fischs sorgen in dem salzig-kräuterigen Arrangement für Abwechslung am Gaumen, wenngleich die Textur des Fischs für sich allein schon große Freude bereitet. Ein sehr harmonisches, süffiges Gericht, das mich ein bisschen an den grandiosen Schellfisch aus dem Geranium erinnert. (9/10)

Über Binchōtan geräucherter, mit Honig und Heu glasierter Frischwasseraal wird dann ganz puristisch am Spieß serviert. Den raffinierten Clou des Snacks bilden Salbeiblätter zwischen den einzelnen Stückchen, die das Gericht wieder in eine ätherische Kräuterwelt holen, die hier bei jedem Gericht zwischen den Zeilen steht. Dazu gibt es eine Aalconsommé, die wie eine Kräuterinfusion schmeckt und den kräftigen Aal wunderbar komplementiert. Geheimnisvoll, umami, leicht japanisch und doch hier in der Region verortet. Großer Wohlgeschmack, fantastische Qualitäten, Bilder im Kopf. (9/10)

Schlicht als „Gartengemüse“ ist eine in Kräuterteig gebackene, mit Öl von angebranntem Lauch glasierte Stange Lauch tituliert. Im Pariser Epicure kam ich schon einmal in den Genuss einer in ähnlicher Weise gegarten Lauchstange, wodurch Aromen und Saftigkeit intensiviert werden. Die Stange wird hier schlicht mit einer Buttermilchsauce serviert. Das alles schmeckt elegant rauchig, ein wenig nach Minze oder Melisse, und ist ein fabelhaftes Beispiel für den Hochgenuss, der scheinbar ganz gewöhnlichen Produkten innewohnen kann. Nach solchen Erlebnissen sieht man jede Stange Lauch im Supermarkt mit anderen Augen. (8,9/10)

Orzotto, im Wesentlichen ein Risotto auf der Basis von Gerste, ist das nächste Gericht. Die Gerste hat einen wunderbaren Biss (man kann sich sogar für Getreide begeistern), verschiedene Kräuter führen das Thema der Region fort. Sämig, süffig, geschmacklich mild „käsig“ ‒ in Summe mehr als hervorragend. (8,5/10)

Es geht weiter mit Rote-Bete-Gnocchi mit Daikoncreme und „Biererde“, ein Gericht, das zumindest optisch etwas aus dem Rahmen fällt. Die Gnocchi, die im Mund aufplatzen, haben eine bissfeste Hülle, schmecken leicht süßlich und nach roter Bete, während die Rettichcreme etwas Schärfe beisteuert. Interessanterweise erinnert mich das Gericht geschmacklich, aus welchem Grund auch immer, an Single Malt Scotch. Ganz gut, aber nicht bewegend. (7/10)

Forelle „Müllerinart“ setzt dann wieder das hohe Niveau fort. Das saftige Stück Fisch ist von beeindruckender Qualität und schmeckt ganz frisch, nach klarem Fluss. Eine Buttersauce mit fermentierter Pflaume und in winzige Scheiben geschnittenen Petersilienstängeln bringt etwas an die für diese Zubereitung typische Zitrone erinnernde Säure ins Spiel. Fantastische Qualität, süffige Säure. (8,9/10)

Das nächste Gericht ‒ die kleinen Portionsgrößen sind ideal ‒ bietet mehrere quaderförmige Stückchen Kalbszunge in einer dunklen, intensiv nach Röstaromen und Lagerfeuer duftenden Sauce, die ausschließlich aus Gemüsen gekocht wurde. Eine vegetarische Demi-glace, sozusagen. Fermentierte Preiselbeeren passen mit einer leicht rauchigen Note sehr gut dazu, bieten aber auch einen Kontrast durch die fruchtige Säure. Das Stück Kalbszunge selbst besticht durch eine weiche Textur, die man eher einem Gemüse wie Aubergine zuordnen würde. Interessant verschwimmen hier die Grenzen zwischen Fleisch und Gemüse. Herausragend gut. (9/10)

Der nächste Gang ist eine Portion Schweinskopfsülze, die man auf einem knusprigen Chip aus ausgekochten, frittierten Sehnen (!) hergestellt hat, vermutlich auch vom Schwein. Es spricht rein gar nichts dagegen, auch ungewöhnliche Teile eines Tiers zu verarbeiten, wenn dabei etwas so Spannendes entsteht wie hier. Der Fingersnack ist „laut“ und knusprig, herzhaft, fettig und erinnert geschmacklich etwas an „pulled pork“. Pulver von roten Beeren sorgen für einen hier gerne eingesetzten ‒ aber nie repetitiv wirkenden ‒ Kontrast durch etwas Bitterkeit und Säure. Ebenfalls hervorragend. (8/10)

Die Küche hat (zu Recht) sichtlich Freude daran, verwendete Zutaten beim Namen zu nennen. Zwerchfell mag einige abschrecken, wogegen der bekanntere französische Begriff onglet doch viel edler klingen würde. Doch gemeint ist dasselbe: Nierenzapfen vom Rind, üblicherweise stark marmoriertes, sehr aromatisches Muskelfleisch, das anatomisch betrachtet zu den Innereien zählt. Der folgende Gang bringt alle wünschenswerten Eigenschaften dieser Zutat perfekt zur Geltung. Hauchdünne Scheiben des Fleischs ‒ zart, saftig und mit puristischem Geschmack ‒ sind auf einem grandios aromatischen, leicht pikanten Pesto aus Bergkräutern und Feldsalat angerichtet, ein leichter Rinderjus wird dazu auch noch angegossen. Produktpurismus auf höchstem Niveau. (9/10)

Es folgt Kalbsbries, so knusprig und buttrig-goldbraun gebraten, wie man es sich nur wünschen kann. Das Stück ist an einer Creme aus Bitterkräutern angerichtet, und ein separat angegossener Jus aus Latschenkiefernsprossen lässt das Gericht nach Waldspaziergängen und Kräuterbad duften. Es ist sehr eindrucksvoll, wie unterschiedlich jede einzelne Kräuterzubereitung im Menü bisher schmeckt und welche Rolle ihr jeweils zuteil kommt. Trotz der intensiven, ätherischen Aromen der Kräuter dieses Gerichts steht das köstliche Bries im Vordergrund. Es ist lediglich eingerahmt in eine Welt von Bäumen, Kräutern und Wiesen. Zweifellos eines der besten Gerichte mit Bries, die ich je probiert habe. (10/10)

Die Desserts sind der zweite Akt des Abends. In einer souveränen Prozedur wird hierzu der Tisch neu eingedeckt. Wassergläser werden ausgetauscht, sogar ein neues Tischtuch wird über das alte gelegt. Dieser vielleicht etwas sperrig klingende Vorgang ist tatsächlich sehr angenehm und gibt dem häufig (von Gastseite) vernachlässigten Ende eines Menüs einen eigenen Auftakt.

Kühl, süß und frisch geht es weiter mit einem Stachelbeersorbet und Latschenkiefer-Marshmallow. Die steifgeschlagene süße Eiweißmasse wird am Tisch kurz mit einem Stück heißer Holzkohle angebrannt. Vom nicht zu süßen Sorbet mit ansprechender Säure bis zur nach glimmendem Kamin duftenden Marshmallow-Creme ist auch diese kleine Speise ein sehr feiner und erstaunlich leichter Hochgenuss. (8/10)

Süßspeise Nummer zwei ist ein Ensemble aus Zutaten in verschiedenen Schattierungen von Weiß.  Es gibt ein Eis von Kastanienblüten, daneben eine fluffige Creme aus Ricotta, sowie Späne von gefrorener Ziegenmilch, die so kalt ist, dass über dem Gericht ein geheimnisvoller Nebel liegt, der sich erst allmählich lichtet. Zu dieser in sich schon sehr stimmigen „Milch-Welt“ ‒ süßlich, frisch, cremig und leicht ‒ sorgen eingelegte Fichtensprossen und Walnüsse für geschmackliche Pointen in Richtung Gebirgsflora. Das für mein genüssliches Augenschließen verantwortliche Highlight aber sind Blütenblätter von Margariten, die mit ihrem floralen Aroma das gesamte Gericht dezent parfümieren. Traumhaft! Eines der besten Desserts seit langem. (10/10)

Die Patisserie lässt auch nicht locker und verführt weiter. Buchteln ‒ eine Art süßer Germknödel aus der österreichischen Küche ‒, isst sich hier wie ein luftiger Kuchen, dazu genießt man ein Holunderblüteneis mit einer Pflaumenextraktion. Schlicht und hervorragend. (8/10)

Auch die Pralinen begeistern ausnahmslos. Es fallen Begriffe wie Blutcreme, Ricottateig, Äpfel, Haselnüsse, weiße Johannisbeere, Tannen und getoastete Haselnüsse, doch bevor ich alles zuordnen kann, bin ich schon dabei, zu probieren. Eine Praline ist besser als die nächste, wobei das nicht ganz stimmt, sie sind alle himmlisch. (9/10)

Norbert Niederkofler hat eine Küche geschaffen, die im Gegensatz zu vielen anderen selbstauferlegten Regionalküchen einen ganz wesentlichen Aspekt aufweist: den der Glaubwürdigkeit. Man empfindet die Küche hier für so selbstverständlich der Region zugeordnet wie einen Wolfsbarsch am Mittelmeer. Dabei hat es Niederkofler viele Jahre Zeit und viel Mut gekostet, sich von Kaisergranat & Co. in seinem Restaurant zu verabschieden.

Neben aller Regionalität ist die Küche, die hier serviert wird, höchst genussreich und erlaubt auch unreflektiertes Schwelgen auf höchstem Niveau. Die meisten Besucher von San Cassiano haben ihre Gipfel noch vor sich, ich habe meinen schon hier im Tal erreicht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: St. Hubertus (→ Website)
Chef de Cuisine: Norbert Niederkofler
Ort: St. Cassiano, Italien
Datum dieses Besuchs: 03.08.2019
Guide Michelin (IT 2019): ***
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