Grace ‒ Gnade
Das Grace in Chicago ist das letzte der derzeit vierzehn Drei-Sterne-Restaurants in den USA, das ich noch nicht besucht habe. Obwohl meine Kurzreise ihren Schwerpunkt in Kalifornien hatte, wollte ich die Gelegenheit nicht auslassen, auf meiner Rückreise hier den Sack zuzumachen. Chicago liegt ja so gut wie auf dem Weg.
Die Reservierung im Grace war unkompliziert und steht schon seit Wochen, genauso wie der ambitionierte Plan, heute dorthin zu gelangen.
Es ist fünf Uhr morgens als ich das SingleThread in Healdsburg verlasse, wehmütig und immer noch aufgewühlt von gestern. Niemand ist zu dieser Zeit hier, es ist gespenstisch leer und still.
Mein Plan hat wenig Spielraum. Ich muss jetzt mit dem Mietwagen zum Flughafen nach San Francisco, diesen dort abgeben, zum Terminal fahren, den Flug nach Chicago wahrnehmen und dann, je nach Verspätungslage und Verzögerungen am Gepäckband, entweder schnell noch im Hotel einchecken (mein eigentlicher Plan) oder sofort ins Restaurant fahren, samt Reisegepäck und griffbereitem frischem Hemd (mein Notfallplan).
Es wird der Notfallplan. Zwanzig Minuten Verspätung bei United Airlines, dreißig nervenaufreibende Minuten am Gepäckband und weitere zehn Minuten im Verkehrschaos vor dem Terminal sei Dank. Ich komme nur wenige Minuten vor meiner Reservierungszeit im Grace an ‒ meine Art von Abenteuerurlaub.
Nachdem ich etwas Zeit hatte, mich aufzufrischen, sitze ich endlich, immer noch außer Atem, am Tisch. Die Klimatisierung und ein Glas 2012er Talley Vineyards „Rincon“ Chardonnay (ca. € 21) helfen, runterzukommen. Ich sehe mich um.
Fast lautlos huscht das ganz in Schwarz gekleidete Personal durch den graubraunenen, sachlich eingerichteten Speisesaal. Durch das einzige Fenster blickt man im hinteren Teil des Restaurants in eine klinisch grell beleuchtete Küche. Recht monochrom, die Kulisse.
Zwei Menüs stehen zur Auswahl, „Flora“ und „Fauna“. Ich entscheide mich für letzteres (ca. € 200) und nehme schon mal die Amuse-Bouches in Augenschein, die auf einem Gebilde aus Bienenwachs an den Tisch gelangen.
Es gibt einen quaderförmigen Panisse (Kichererbsenfladen) mit australischem schwarzem Trüffel und Meyer-Zitrone (8/10); ein halbkugelförmiges Yuzu-Gummibärchen mit Jackfrucht und Kardamom (7/10); einen Chip aus Chia- und Leinsamen mit Beete und Umeboshi (7,5/10) sowie ein recht dick geschnittenes Stück Iberico-Schinken (7/10). Alles sehr gute Canapés, aber auch so winzig, dass man Mühe hat, sie am Gaumen zu „entziffern“.
Das Menü beginnt mit einer im Joghurtbecher servierten Perlhuhnrillette. Unter der Anleitung des Personals öffnet man den Aludeckel, woraufhin dichter Rauch entweicht, dann leckt man das Innere des Deckels ab, das mit einer Masse aus Kokosnuss und Zitronengras versehen ist. Wegen des beißenden Rauchs schmeckt man das aber nicht. Hilfreich also, dass jemand danebensteht und das Gericht untertitelt. Im Glas selbst findet man neben der handwerklich makellosen Rillette herzhafte Mitspieler wie Radieschen, Schnittlauch(-blüte) und weiteres. Gut aufgewertete Hausmannskost. (7/10)
Der folgende Gang wird in einem kegelförmigen Glas serviert, in dem eine dünne, karamellisierte Zuckerschicht verschiedene Zutaten voneinander trennt. Vermengt man alles, entsteht ein vielschichtiges Geschmacks- und Texturensemble mit Königskrabbe aus Alaska, Gurke, Sudachi, Lachsrogen und Minze. Das Meerestier ist von hervorragender Qualität, und das Faszinierende an dem frischen, belebenden Gericht ist eine deutlich präsente Schärfe, die alle Komponenten miteinander verbindet. Absolut hervorragend. (9/10)
Ich hoffe auf einen Verbleib auf diesem Niveau, denn der Einstieg in den Abend war bisher eher unauffällig.
Es geht weiter mit rohen Jakobsmuscheln, denen man in dieser Qualität in unseren Breiten kaum begegnet. Sie sind serviert in einem aufgeschäumten Sud aus Dashi, Milch und „Schalottenöl“, weiter spielt Kapuzinerkresse eine Rolle. Die kleinen, fleischigen Muscheln sind ein Genuss, aber der gesamte Rest schmeckt recht einheitlich fad nach Milch. Hier wurde offenbar nicht richtig abgeschmeckt, denn die Zutaten klingen insgesamt vielversprechend und stimmig. (7/10)
Der folgende Gang thematisiert Karotte. Diese ist Teil eines kreisförmigen Zutatenarrangements, das ich optisch eher in einem überambitionierten Restaurant in Deutschland einordnen würde. Die Karotte selbst wurde durch irgendeinen Prozess dehydriert und klebt wie eine Lakritzstange zwischen den Zähnen. Ein seltsames fadenartiges Gebilde, vermutlich aus Karottenabrieben, das man kaum in seinen Mund bekommt, sowie viele Cremes und Gels tragen zur weiteren Verwirrung bei. Geschmacklich findet man eine durchaus interessante Kombination mit Erdbeere, Haselnuss und Orange vor, aber das Gericht ist weit weg von irgendeiner Form von Genuss oder kulinarisch sinnvoller Kreativität. (6,5/10)
Auch das folgende Gericht enttäuscht. Eine sehr süße, polentaähnliche Creme mit Mais und Pecorino begleiten Komponenten wie (sehr guter) australischer Trüffel, Pfifferlinge sowie krümelige und staubige Zutaten, mit deren Identifizierung ich mich nicht lange aufhalte. Das Gericht entzieht sich, trotz einiger erneut interessanter Geschmackskombinationen, nahezu völlig meinem Verständnis von guter Küche. (6/10)
Weiter geht die Talfahrt mit geschmortem Schwein mit „knusprigem Kohl“. An Dehydration von Komponenten scheint der Küchenchef großen Gefallen zu finden, wenig zu meiner Begeisterung. Die trockenen Kohlfransen lassen sich kaum essen. Und wenn man es doch schafft, das Zeug in seinen Mund zu stecken, bestraft einen ein irritierender, chlorähnlicher Geschmack. Eine wachsweiche, klebrige und neutral schmeckende Masse am Tellerrand hievt das Gericht auch nicht auf irgendeine Genussebene, und auch das Fleisch ist in diesem gesamten Kontext ebenfalls belanglos. Ein Graus. (5/10)
Miyazaki-Rind schmückt den folgenden Gang, und gäbe es diese Rosinen zum Herauspicken nicht, ließe ich das schlabbrige Gericht mit gekochtem Getreide und abermals gummiartigen und dehydrierten Zutaten wohl komplett stehen. So fehlen zumindest ein paar Gabeln als der Teller in die Küche zurückgeht. Interessieren tut das niemanden, mich allerdings inzwischen auch nicht mehr. Schade um das exzellente Fleisch, das man erheblich attraktiver hätte zur Geltung bringen können. (6,9/10)
Zum süßen Teil leitet ein kleines gefülltes Gebäckstück über, das mit einer Art Granité mit Blutorange gefüllt ist. Mandarine und Vanille sind zusätzliche Aromen. Abgesehen von der extremen Kälte, die mir wie ein Blitz in den Kopf schießt, ist das recht gut. (6,9/10)
Trotz erneuten Austobens der Küche mit Dehydration ist das folgende Sorbet mit Heidelbeere unerwartet hervorragend. Zur süßlich-säuerlichen Beere passt exzellent eine Aromenwelt mit Basilikum, Honig, Pfeffer und Kaffee.— 8/10
Ein Ausrutscher.
Bei dem nächsten Dessert weiß ich gar nicht, was ich als erstes liegen lassen soll. Die fürchterlichen Schokoladenzylinder? Die trockenen Kakaoschwämme? Oder doch lieber die banalen Cashewkerne in Creme-fraîche-Tupfern? Es wird das grüne Eis aus mexikanischem Blattpfeffer (hoja santa), der geschmackliche Ähnlichkeiten zu Zyankali aufweisen muss, so beißend bitter wie das schmeckt. (5/10)
Zum Abschluss der ganzen Misere hält man mir eine nach nichts schmeckende Praline auf einem langen Holzbalken unter die Nase, der so aussieht wie ein Stuhlbein, das man irgendwo im Keller gefunden hat. Wie das Personal dieses Gebilde vor sich herträgt ergibt ein besonders belustigendes Bild.
Drei Sterne? Ich mache drei Kreuze, dass ich das hinter mich gebracht habe und flüchte hinaus in die Nacht.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Grace (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Curtis Duffy |
Ort: | Chicago, USA |
Datum dieses Besuchs: | 28.07.2017 |
Guide Michelin (Chicago 2017): | *** |
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