SingleThread – Katinas und Kyles Kaiseki
Es sind fast 40 Grad im Schatten. Die Amerikaner sagen dazu, die Temperatur sei „in den Hundertern“ und beziehen sich dabei auf die Maßeinheit Fahrenheit. Etwas Schatten unter den Markisen der einladenden Geschäfte und Boutiquen in Healdsburg suchend, stolpere ich am Nachmittag in etwas, das wie eine Weinbar aussieht. Oder eher wie ein Wohnzimmer. Entspannte Gäste sitzen in Sofas oder am großen Hochtisch in der Mitte, legen Vinylscheiben auf einen Plattenspieler auf und trinken Wein. In angenehm klimatisierter Atmosphäre, natürlich.
Zach, der mir ein paar ziemlich gute Pinot Noirs des Weinguts Banshee, in dessen tasting room ich hier nämlich gerade sitze, in „Gabriel“-Gläser einschenkt sagt mir irgendwann: „Alle fragen immer nach einer Farm. Das hier ist die Farm. Die Farm ist überall!“ Er bezieht sich dabei auf die fertile Umgebung hier in Healdsburg und im Sonoma County, wo Orangen an Straßenecken wachsen und vor Gesundheit strotzender Wein aus dem Boden sprießt wie Unkraut aus den Blumenbeeten deutscher Vorstadtreihenhäuser.
Ich hatte Zach erzählt, dass ich gerade schräg gegenüber im SingleThread eingecheckt hätte und mich etwas darüber wundern würde, dass dort keine Farm sei. Der Zusatz „Farms“ begleitet den Namen „SingleThread“ nämlich fast immer – außer tatsächlich am Haus selbst. Auch auf der Website des Betriebs bekommt man den Eindruck, dass man hier direkt auf einer Farm speisen würde.
Es gibt auch eine. David Sisler, vor kurzem noch Restaurantleiter im Saison in San Francisco, arbeitet jetzt hier und zeigt mir etwas später von der Dachterrasse aus, wo sich die Farm befindet. Auf Anfrage und in Ausnahmefällen könne man diese auch besuchen.
SingleThread ist also eine Farm, ein Restaurant und ein Hotel in einem. Die Gästezimmer sind so geschmackvoll, dass man sie eigentlich gar nicht wieder verlassen möchte.
All das ist das Projekt von Katina und Kyle Connaughton, einem überraschend unprätentiösen Botanikerin-und-Koch-Paar, das sich als Teenager auf einem Punkrock-Konzert kennen lernte und seitdem nie wieder von einander wich. Sie bereisten die Welt – Kyle war als Küchenchef in namhaftesten internationalen Häusern tätig – und entwickelten letztlich eine gemeinsame Passion für Japan. Die Gastlichkeit der Ryokans, die mikrosaisonale Kaiseki-Küche, die Liebe zu kleinen Details und die Hingabe zu kompromissloser Perfektion, all das hat es ihnen angetan und das Fundament für ihre Zukunft geebnet.
Das ambitionierte Projekt hat in der internationalen „Foodie“-Szene schnell Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kein Wunder bei dem Einsatz: Das bekannte New Yorker Designbüro AvroKO wurde für die Inneneinrichtung beauftragt, es wurden die besten Köpfe aus der amerikanischen Restaurantlandschaft rekrutiert, das Investment dürfte im hohen siebenstelligen Bereich liegen, sofern das überhaupt ausreicht.
Möchte man als Gast weit im Voraus planen, garantiert eine Zimmerreservierung gleichzeitig auch die Tischreservierung. Zu zweit zahlt man auf diese Weise dann über zweitausend Dollar im Voraus über das in der amerikanischen Spitzengastronomie längst zum Standard avancierte Ticketsystem Tock. Das Menü nimmt mit $300 (ca. € 254) pro Person den geringsten Teil dieses üppigen Budgets ein.
Der Unterschied vom SingleThread zu ähnlichen „Farm-to-table“-Konzepten, die in den USA derzeit regelmäßig für Aufsehen sorgen – z. B. Willows Inn, Blue Hill Farm, Damon Baehrel –, ist hier der japanische Ansatz, der sich unaufdringlich (und für nicht Eingeweihte kaum benennbar) durch das gesamte Haus zieht. Elektrische WC-Sitze bringen in Erinnerung, wie angenehm es in Japan ist, wenn zur richtigen Zeit auch mal die Oberschenkel von unten beheizt werden; im Speisesaal erinnern handgewebte Wanddekorationen entfernt an die Papiertrennwände in Ryokans, und in schlichten Wandregalen in der Küche führt ein Aufgebot handgemachter Keramikgefäße ein stilvolles, stilles Leben. Und wer all diese Brücken zu Fernost übersieht, dem winken spätestens die Essstäbchen auf dem Tisch zu.
Als ich abends Platz nehme, eröffnet dort bereits ein farben- und zutatenfrohes Arrangement das Essen der kommenden Stunden. Es ist eine unmissverständliche Hommage an die Hassun genannte Speisenfolge aus der Kyotoer Kaiseki-Küche, bei der mikrosaisonale Zutaten aufwändig präsentiert werden (siehe hierzu auch meine Berichte aus Kyoto aus dem Frühjahr). Hier in Healdsburg berücksichtigen die Connaughtons nach japanischem Vorbild bis zu 72 „Jahreszeiten“ für die Auswahl ihrer Produkte. Katina soll regelrecht obsessiv sein, wenn es darum geht, den perfekten Zeitpunkt für eine bestimmte Zutat abzupassen.
Etwas verwunderlich ist es bei all dieser Präzision daher schon, dass das Arrangement bereits am Tisch aufgebaut ist, wenn man Platz nimmt. Einige der Köstlichkeiten, besonders das Sashimi, werden hierdurch eine Nuance zu warm.
Doch das war es dann auch schon mit Kritik. In den kommenden fünfundzwanzig Minuten probiere ich mich von einem Schälchen zum nächsten, komme aus einem Modus des anhaltenden Staunens und Genießens nicht heraus. Es gibt Makrele von exzellenter Qualität mit knackiger „komprimierter Gurke“ (8/10); geröstete Salatblätter mit Tofucreme, knusprig und kühlend (8,5/10); eine eingelegte Kumamoto-Auster mit einer leichten Süße, zum Träumen gut (10/10); Isaki (ein Barschverwandter) mit eingelegtem Kombu (9/10); eines der besten Stücke Melone, die ich je gegessen habe, bereichert durch ein Zitrusfruchtgel und Sesam (10/10); Entenmuschel mit Pfirsichgelee (9/10); unvergesslich gute Maulbeeren, die von Natur aus fast industriell schmecken, weil man so einen Zuckergehalt gar nicht gewohnt ist (8/10); Ayu mit Perillablüte und Miso (8/10); Kintoki-Karotten mit pikantem Mandelpesto (9/10); Maiscreme mit Gelee von geräuchertem Mais und Hokkaido-Seeigel (10/10).
Nachgereicht werden noch ein Ei mit geräucherter Sabayon und Kaviar (9/10, ohne Foto), sowie einige Stück Artischocke von einer Qualität, die ich sonst nur von Alain Passard so kenne, hier mit Olivenöl und Mandarine serviert, die das Gericht geschmacklich in eine andere Welt hebt (10/10). Gemälzte Kartoffeln mit Kohlenfisch, karamellisierten Zwiebeln und einem Duft nach Lagerfeuer und Nachtwanderung folgen (10/10).
Das Vorhaben, Kaiseki in die westliche Welt zu übertragen, ist eigentlich ein Widerspruch. Kaiseki muss man leben, das passt nicht in eine Rezeptsammlung. Katina und Kyle aber schaffen es, und sie setzen sich hiermit bereits ein Denkmal.
Es folgt ein Sashimi von Großer Bernsteinmakrele mit fantastischer, gehaltvoller Textur, die von geeistem Amazake, einem Getränk aus fermentiertem Reis, wunderbar kontrastiert wird. Kühle, süße Pflaumen von einer Qualität, die ich bisher nur aus dem Willows Inn kenne, sowie iceplant (ein Mittagsblumengewächs), Perilla und süßer Kartoffelessig sind weitere außergewöhnliche Mitspieler und erzeugen in Kombination mit dem Fisch ein für mich völlig neues, denkwürdiges Geschmacksbild. Das ist ein großartiges Gericht, welches perfekte Produktqualitäten genauso erstrahlen lässt wie die Beherrschung von klassischem Handwerk und modernen Küchentechniken. (9/10)
Besser noch, weil Wärme und Knusprigkeit noch mehr unter die Haut gehen, sind mit Jakobsmuscheln gefüllte (!) Kürbisblüten, meisterhaft als Tempura zubereitet. Die hauchfeine, knuspernde Ummantelung ist auf höchstem Niveau, das kann man auch in Japan nicht besser. Doch bei diesem Gericht bleibt das Tempura die einzige Anspielung an Fernost. Eine Nocke minutiöser Zucchiniwürfel, die kleiner sind als ein Kubikmillimeter, tragen ein Parfum aus Rosmarin und sorgen für einen Gänsehautmoment. Eine Zucchinisauce mit ätherischen Aromen, die an Estragon und Minze erinnern, runden das kleine Meisterwerk ab. (10/10)
Es folgt ein Cracker aus Reis und Kartoffeln, der mit einer aromatischen, grünen Kräutercreme gefüllt ist. Bestes Handwerk und vor Aromen strotzende Zutaten in jedem Bissen. (8/10)
In Rauch gegarter „Ōra King“-Lachs ist von allerfeinster Qualität, sehr saftig und mit buttrigem Schmelz und wird beim folgenden Gang mit Saiblingsrogen auf einer Shio-Koji-Vinaigrette mit japanischem Ingwer (Myoga) serviert. Das Gericht ist warm, alles duftet betörend nach dem an Frühlingszwiebel erinnernden Ingwer und dem Geschmacksträger Fett. Wie auch schon bei der Kürbisblüte – hier wird es aber noch deutlicher – begeistert mich die fast schon en passant umgesetzte Verbindung zwischen westlicher (französischer) Küche und der japanischen. Andere nennenswerte Vertreter dieser Königsdisziplin, z. B. César Ramirez oder Christian Bau, sind in ihrer Herangehensweise puristischer bzw. verspielter. Das hier ist zwar nicht „besser“ als in New York oder an der Mosel, aber gleichwertig, neuartig und unglaublich gut. (10/10)
Eine der besten Foie-Gras-Terrinen, die ich je gegessen habe, folgt. Das klassische, aufwändige Handwerk ist offenkundig. Die Terrine wurde nicht etwa zu einer homogenen Masse verarbeitet, sondern hat Struktur, da gibt es richtig was zu beißen. Und dann kommt wieder dieser geniale, unauffällige Brückenschlag in Richtung Japan zum Einsatz. Eine Tomatenessenz („Tomaten-Tee von letztem Jahr“) transportiert den Esser mit ihrem konzentrierten, fleischigen Umami-Geschmack unscheinbar nach Fernost, weil der intensive Jus fast nach Dashi schmeckt. Weitere Mitspieler wie weiße Rübchen und deren Grün steuern weitere Magie bei. (10/10)
Das exzellente reserve pairing, das mein Essen in flüssiger Form begleitet, sieht an dieser Stelle Sake vor, für den man sich das Trinkgefäß traditionell aussuchen kann.
Dazu folgt dann Abalone aus Monterey, die so zart und dünn aufgeschnitten ist, dass die Zubereitung entfernt an die Beschaffenheit von Zanderfilet erinnert. Den charakteristischen Biss hat das Muschelfleisch trotz der unglaublichen Zartheit behalten, dazu zeichnen es spannende, nussige Röstaromen aus. Eine schaumige, mit karamellisierten Zwiebeln und Ingwer aromatisierte Sauce von Abalone-Leber sowie jodiger Seetang (Kombu), heben das Gericht in höchste Genusssphären. (10/10)
Eine von einer japanischen Familie speziell für dieses Restaurant angefertigte Tajine („Fukkura-san“) ist die Bühne für das nächste Gericht. Es gibt Kohlenfisch mit verschiedenen Gemüsen, u. a. Shimeji-Pilzen, Salatkräutern und edlem Gyokuro-Grüntee. Durch das Dampfgaren, bei dem sich die Aromen aller Zutaten behutsam und gleichmäßig miteinander vermengen, stellt sich am Gaumen ein konsistenter Wohlgeschmack ein. Umami würden die Japaner wohl auch hierzu sagen, doch das Geschmacksbild ist nicht auf herzhafte Art ansprechend, sondern vor allem durch Wärme, Textur und die perfekte Fischqualität. Man schwebt beim Genießen dieses Gerichts wie auf einer Wolke, es gibt keine Kontraste oder Überraschungen, es ist eher „transparent“, einnehmend, fließend. (10/10)
Das Stück Fleisch des nächsten Gangs stammt von dem einzigen Betrieb in den USA (Pacific Rogue Wagyu), der, in vierter Generation, reinrassige Wagyu-Rinder („F1“) züchtet. Der Marmorierungsgrad ist sehr hoch, und das austretende Fett transportiert am Gaumen Aromen von Nuss und, nun ja, Rindfleisch. Dazu gibt es, in jeweils ganz unterschiedlichen Zubereitungen, Komatsuna-Gemüse, Bing-Kirschen, Crème de Noyaux, schwarzen Trüffel aus Australien und einen klassischen, aromatischen Jus. Aromen, die an Cola und Hotdog erinnern, sind Bestandteil des komplexen, aber zugänglichen Geschmacksbilds und sind auf diese dezente Weise ganz und gar nicht unwillkommen. Zweifellos eines der besten Fleischgerichte, die ich je gegessen habe. (10/10)
Hieran anknüpfend steht im Mittelpunkt des folgenden Gerichts ein mit Schmorfleisch gefüllter Beignet, der wie eine große köstliche Pastete schmeckt, die man gerade aufgeschnitten hat. Gegarter Dinkel mit angenehmer Textur sowie verschiedene Kräuter und Blüten sind dazu aromatisch intelligent und akribisch ausgewählt und machen auch diesen Gang herausragend. (9/10)
Ein cremiges Pfirsicheis leitet jetzt zum süßen Teil des Menüs über. Das sehr aromatische Eis wird begleitet von fantastischen Brombeeren und Brombeer-Consommé sowie Duftnessel. Unglaublich gut. (9/10)
Ein zunächst recht trocken aussehendes Dessert entpuppt sich als Überraschung der angenehmsten Art. Zuckersüße, reife Erdbeeren ergeben mit Aprikosenkompott und Hōjicha-Eis (ein Grüntee) eine klassische, perfekte Dessert-Kombination, bei der die außergewöhnliche Qualität der Erdbeeren über allem schwebt und auch hier wieder unauffällig in Richtung Japan zeigt, wo das Zelebrieren derartiger Qualitäten anerkannt und üblich ist. Gepuffte Amarant-Samen bringen mit ihrer Feinkörnigkeit einen kurzweiligen Texturkontrast ins Spiel. Sowohl handwerklich als auch geschmacklich perfekt. (10/10)
Es ist Nacht geworden. Für den noch verbleibenden Rest des Abends werde ich nach oben auf die Terrasse gebeten, wo ein Feuer Wärme spendet. Die Temperatur ist inzwischen um weit über zwanzig Grad gefallen.
Ein paar Mignardises mit Koriander, Dattel und Jasmin, Minze und Pflaume beenden dieses Essen nicht beiläufig, sondern mit einem weiteren großen Ausrufezeichen. (10/10)
Sterne und Neumond leuchten über mir, das flackernde Feuer hypnotisiert. Ich bin satt und aufgewühlt, muss morgen früh um halb fünf zum Flughafen aufbrechen.
Um diese frühe Uhrzeit herrscht hier im Haus eine gespenstische Stille. Aus dem Eingangsbereich kann ich durch ein großes Fenster in die Küche blicken. Alles ist schon jetzt wieder akkurat hergerichtet, für heute Abend, wenn Kyle und Katina – und ihr gesamtes fantastische Team – mit ihrer Gastfreundschaft und Passion andere Menschen glücklich machen. Aber ich muss die Tür jetzt hinter mir schließen. Nicht für immer, so viel ist sicher.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | SingleThread (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Kyle Connaughton |
Ort: | Healdsburg, USA |
Datum dieses Besuchs: | 27.07.2017 |
Guide Michelin: | noch nicht bewertet |
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