Le Bois sans Feuilles (Troisgros) ‒ das nächste Kapitel
Das neue Restaurant der Gastronomiedynastie Troisgros befindet sich ungefähr eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt vom alten Standort Roanne. Roanne ist eine unsympathische Industriestadt, zu deren Tristesse das geschmackvolle Innenleben des Hauses Troisgros kein größerer Kontrast hätte sein können.
Im ländlichen Ouches, der neuen Adresse, findet man solche Gegensätze nicht. Auf einem großen Grundstück mit Garten, Wald und See hat die Familie eine alte Villa und eine Scheune restaurieren lassen, dabei viele Attribute, die offenkundig ihren einstigen Charme ausmachten, erhalten und die beiden Gebäude durch einen flachen, von der einen Seite hinter hohen Gräsern fast versteckten Anbau aus Glas miteinander verbunden.
Auch der moderne Glaskasten erscheint hier nicht als Fremdkörper, sondern als harmonisches Element, dessen gleichzeitig spiegelnde und transparente Fassade intelligent mit dem Element der Täuschung spielt. Bäume und Himmel reflektieren auf den Scheiben, die wiederum den Blick auf baumähnliche Stahlstreben im Inneren freigeben. Letztere begründen auch den eigentlichen Namen des Restaurants, Le Bois sans Feuilles („der blätterlose Wald“).
Etwas verträumt und durch einen Aperitif mit Gin und Yuzu, den ein wunderbares Törtchen mit hauchdünnen Steinpilzen und Petersilienpulver begleitet (9/10), leicht beseelt, schweife ich an diesem lauwarmen Sommerabend auf der Terrasse gedanklich etwas ab. Das Anwesen ist wunderschön. Man könnte hier mühelos ein paar Tage verbringen. Die Zimmer des Hotels sind geräumig, modern und individuell eingerichtet; es werden diverse Aktivitäten angeboten, wie z. B. eine Angeltour mit lokalen Fischzulieferern, und das Thema Genuss steht ohnehin die ganze Zeit im Vordergrund. Allein im Weinkeller könnte man sicherlich einen feuchtfröhlichen Nachmittag verbringen.
Das neue Haus Troisgros ist damit ein typisches Relais & Châteaux, die einzige Hotelmitgliedschaft, die ich kenne, von deren Mitgliedshäusern man genau diese einzigartige Mischung aus individuellem Charme, Luxus und Genuss erwarten kann.
Die drei Michelin-Sterne, die alle (Haupt-)Restaurants der Familie bereits seit 1968 auszeichnen, verzieren bereits das Eingangstor zum Grundstück. (Im Guide Michelin Frankreich 2017 ist das Restaurant noch am alten Standort gelistet, wohingegen die Sterne auf der Website des Michelin schon umgezogen sind, was ich so auch noch nicht gesehen habe. Man geht offenbar mit der Zeit.)
Dass diese Auszeichnung außen am Haus überhaupt kenntlich gemacht wird, beobachte ich in letzter Zeit häufiger. Der Michelin verschickt offenbar seit neuestem diese Plaketten. Ich finde das gut, immerhin macht es noch mal deutlich, dass die Sterne am Haus prangen und nicht am Koch.
Der Moment, abends am Tisch Platz zu nehmen, ist ein Erlebnis. Wenn es noch hell ist, hat man durch das viele Glas das Gefühl, im Freien zu sitzen; wenn es dunkler wird halten die organisch geformten Stahlstreben und eine Decke mit gestalterischen Elementen aus Kupfer, die an Laub erinnern, die Illusion aufrecht, in einem Wald zu sitzen. Futuristisch und gemütlich zugleich.
Wie fast immer in den französischen Spitzenrestaurants, und überhaupt wie überall dort, wo eine produktbetonte Küche den Ton angibt, entscheide ich mich für ein Essen à la carte. Die Speisekarte ist in Kategorien wie „frisch und leicht“, „die wilde Natur“, „pointierte Aromen“ und andere unterteilt. Das ist zunächst etwas verwirrend, korrespondiert am Ende aber dennoch mit einer üblichen Reihenfolge beginnend mit Vorspeisen, gefolgt von Fisch- und Fleischgerichten. Die Gänge selbst sprechen die Sprache von Produkten. Keine Querstriche, keine Rechtschreibfehler, keine anderen typografischen Unsitten lenken vom Wesentlichen ab. Bereits an dieser Sachlichkeit habe ich große Freude.
Noch mehr begeistert mich das Selbstverständnis von guter Küche, das von meiner ersten Vorspeise ausgeht. Ein „Opus“ von Kalbskopf und Tomate (halbe Portion, € 35) ist ein quaderförmiges Werk aus mehreren Bausteinen, die mit getrockneter, marinierter und gehäuteter Tomate umwickelt sind. Die inneren Komponenten sind geschmortes Kalbfleisch samt zentimeterdicker Fettschicht und ein großes Stück Steinpilz. Das Fett ist ganz leicht zu schneiden, hat einen buttrigen Geschmack und eine sehr angenehme, weiche, aber nicht glibberige Textur. Ich halte das zunächst sogar für einen Pilz. Das Fett dient als Geschmacksverstärker für die intensiven, fleischigen Tomatenaromen und das beherzt gewürzte, sehr zarte und saftige Kalbfleisch. Zu dem lauwarm servierten Ensemble wird eine ganz klassische Vinaigrette serviert, die man ständig nachnehmen kann, und allein das sollte jeden Freund von französischer Küche glücklich stimmen. Zwiebeln und ein paar in Butter ausgebratene Brotkrumen sorgen für weiteren Wohlgeschmack eines Gerichts, das sich durch Umami, Fett und Säure als eines der besten Gerichte dieses Jahres entpuppt. Ein grandioser Auftakt. (10/10)
Danach probiere ich, ebenfalls als halbe Portion (€ 45), Flusskrebse. Makellose, perfekt gegarte Exemplare dieser seltenen Delikatesse werden bei diesem Gericht mit viel „Grün“ serviert, u. a. Petersilie und Basilikum, sowie mit einer gelben Blüte und einer Art Pesto. Haselnussöl fügt der Komposition eine weitere Geschmacks- und Texturebene hinzu. Es ist ein erstaunliches Gericht, das sich einem erst allmählich offenbart. Die Bitterkeit der Blätter ist anspruchsvoll wie guter Gin, dennoch gehen die Flusskrebse mit ihrem zarten Aroma darin nicht unter. Das Ergebnis ist ein vielschichtiges, komplexes Gericht, das sich mit viel Chlorophyll und anspruchsvoller Bitterkeit bestimmt nicht jedem erschließt. Ich finde es großartig. (9/10)
Meine Reise durch die Speisekarte geht weiter mit Aal (halbe Portion, € 45), dessen zerbrechliche Filets gebraten wurden, eine für diesen Fisch eher seltene Zubereitungsart. Dazu gibt es halb aufgeschnittenen, mit Butter, Senf und würzigen Brotkrumen gratinierten Trevisano sowie Kräuterbutter, die auf dem warmen Teller in Richtung des Aals zerfließt. Der hohe natürliche Fettgehalt des Aals ist durch das Braten nicht ganz so präsent wie bspw. beim Räuchern, daher ist die Butter, auch als aromatische Unterstützung, sehr passend. Am Gaumen ergibt sich in Summe eine erneut von leichten Bitternoten geprägtes Gericht, das durch die viele Butter aber auch einen etwas altmodischen Anstrich bekommt. Exzellente Produkte und der erfrischende Umgang mit Bitterkeit und naturbelassenen Aromen dominieren jedoch insgesamt diesen sehr guten, aber nicht überragenden Gang. (8,5/10)
In Erinnerung an ein denkwürdiges Lammgericht, das ich bei Troisgros vor zwei Jahren genossen habe, bestelle ich auch heute Abend Lamm (halbe Portion, € 45). Es entpuppt sich als das gleiche Gericht wie damals, was mich auf den Gedanken bringt, dass es hilfreich sein könnte, Klassiker als solche zu kennzeichnen. Doch auch in diesem Fall wäre meine Wahl nicht anders ausgefallen. Das Rippenstück wurde in Joghurt mariniert, bei niedriger Temperatur perfekt rosa gegart und schließlich mit einem würzigen, knusprigen Kräuter- und Gewürzmantel fertiggebacken. Fernöstliche Aromen aller Art schwirren um das Lamm wie Glühwürmchen; Fernweh, Hitze, und tiefschwarze Sternennächte tauchen in meinen Gedanken auf, während ich mich in dem Gericht verliere wie ein Tourist in der Menge eines orientalischen Gewürzmarkts. Märchenhaft. (10/10)
Eine exzellente Flasche 1999er Volnay „Clos des Chênes“ von Michel Lafarge (€ 250) passt hierzu wie maßgeschneidert.
Nach einer längeren Pause entscheide ich mich noch für Käse vom Wagen. Meine Auswahl (€ 35) fällt auf Klassiker wie Saint Nectaire, Epoisse, Fourme d’Ambert und weitere Sorten. Sie sind perfekt gereift und temperiert, condiments sind Orangensenf sowie eine Art Chutney mit Aprikose und Paprika. Ein klassischer Hochgenuss.
Ein cremiges, kühles Pré-Dessert in Ei-Optik transportiert Aromen von Grapefruit und Minze. Die Aromen sind gelungen, die Texturen wirken auf mich aber etwas artifiziell. (7/10)
Als Dessert wähle ich Baba, der hier nicht mit Rum, sondern mit Himbeerschnaps aromatisiert ist. Das steht ihm außergewöhnlich gut, besonders in Kombination mit den roten Waldfrüchten, die à part dazu serviert werden. Die Vanillecreme hat einen perfekten Schmelz, ist nur leicht gesüßt und rundet ein Dessert ab, das auch ich dieser leichten Abwandlung vom Original, welches vor allem Alain Ducasse in seinen Restaurants perfektioniert, nicht weniger als unvergesslich ist. (10/10)
Nach einem wunderbaren Frühstück am nächsten Morgen (Pasteten! Käse! Wurstwaren! Marmeladen! Warmes Brot! Früchte! Eierspeisen!), das ich wegen meiner bevorstehenden Rückreise leider nur recht hastig zu mir nehmen kann, verlasse ich dieses paradiesische Fleckchen Frankreich mit großem Widerwillen. Ein zweiter, herrlicher Sommertag hätte hervorragend mit Ausflügen in der Region ausgeschmückt werden können ‒ und natürlich mit einem weiteren Essen. Es gibt noch viel zu probieren!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Le Bois sans Feuilles (→ Website) |
Chefs de Cuisine: | Michel & César Troisgros |
Ort: | Ouches, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 12.08.2017 |
Guide Michelin (F 2017): | *** |
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