Sushi Saito – sieben Mal blinzeln
Langsam werde ich nervös. Das Taxi steckt irgendwo im Stop-and-go-Verkehr von Tokio fest. Außerdem wählt der Fahrer immer die laut Google Maps ungünstigere Route, die ich auf meinem Handy mitverfolge. Jede Minute verliere ich zwei weitere; ich komme mir vor wie in einem defekten Raum-Zeit-Kontinuum.
Ich bin im Begriff, zu spät zu meiner wichtigsten Reservierung aller Zeiten zu kommen. Dabei habe ich schon eine halbe Stunde mehr Zeit eingeplant als für die Strecke eigentlich nötig ist. Eigentlich.
Drei Minuten vor acht komme ich an, aber ich bin noch nicht am Ziel. Ich haste aus dem Taxi, renne hinein in den Hochhauskomplex, blöke die erste Person hilfesuchend mit „Saito? Sushi Saito?“ an, bekomme aber nur ein freundliches Kopfschütteln als Antwort. Mehrmals. Die Zeit schmilzt dahin, ich kann die Sekunden physisch spüren.
Irgendwann habe ich es gefunden. Ich bin noch außer Atem als ich am Tresen sitze und leicht zitternd an einem Glas Champagner nippe. Ich bin pünktlich. Ein paar Sekunden zu früh. Jede Verspätung wäre nicht nur für mich unentschuldbar gewesen, sondern hätte auch noch meinen Bürgen in Misskredit gebracht, also die Person, die hier für mich die Reservierung getätigt hat. Eine alptraumartige Vorstellung. Dann hätte ich mir gleich das lange, blitzende Messer, das in Reichweite vor mir auf dem Tresen liegt, in den Bauch rammen können.
Reservierungen sind bei Saito zwar offiziell „ganz normal“ möglich, aber de facto wird das Reservierungsbuch hier von den Gästen vor Ort geschrieben. Das Restaurant bewegt sich damit scharf an der Grenze, ein Restaurant zu sein, bei dem man nur einen Platz bekommt, wenn man von anderen Gästen persönlich empfohlen wird. Davon gibt es in Japan einige. Die Auflistung dieses Restaurants im Guide Michelin, immerhin ein Restaurantführer für Gäste, nehmen Sternejäger wie ich daher nur zähneknirschend zur Kenntnis. Aber man kann eben auch über seinen Concierge Glück haben, ich habe gerade einen Fall im Bekanntenkreis erlebt.
Das Restaurant ist sehr gepflegt, geradezu luxuriös. Edles, helles Holz, getöpferte Keramik, geschmiedete Messer: hochwertigstes Handwerk wohin man blickt. Erst seit wenigen Jahren ist Saito an diesem Ort. Vorher war das Restaurant in irgendeinem Parkhaus untergebracht und damit ähnlich versteckt wie das Kabuff von Jiro Ono, in dem ich erst vor ein paar Stunden mein erstes Abendessen zu mir genommen habe. Ich gebe zu, das ist einer der maßlosesten, aber auch großartigsten Essenspläne, die ich je geschmiedet habe.
Im Gegensatz zu meinem vorherigen Gastgeber ist Takashi Saito ein überaus freundlicher und gut gelaunter Mann. Die Stimmung hier ist von Anfang an gelöst, immer wieder schaltet Saito von heiteren Gesprächen mit den Gästen zu absoluter Konzentration um – wie ein Schalter. So etwas habe ich noch nie beobachtet, und es ist vielleicht einer der Gründe, warum dieser Sushichef so berühmt ist.
Das Omakase-Menü kostet ca. € 250, doch ist mir der Preis zu diesem Zeitpunkt genauso unbekannt wie gleichgültig. Es beginnt mit einem kleinen Snack bestehend aus rohen stintartigen Fischchen (shirauo). Sie schmecken leicht salzig nach Meer, haben eine interessante, bissfeste Textur, und ihr hauchdünnes Gerippe sorgt am Gaumen für etwas Knusperspaß. Eine kurzweilige Produktpräsentation erster Güte.
Bereits zu diesem Zeitpunkt ist es faszinierend, die Bewegungen Saitos zu beobachten, die geschmeidiger und präziser wirken als von einigen anderen Sushi-Meistern. Manchmal wirken seine ausladenden Gesten wie eine Show-Einlage, doch hunderte Muskeln in seinem Gesicht zeugen von allerhöchster, nach innen gerichteter Konzentration.
Für den nächsten Snack präpariert der Meister Abalone und Oktopus. Die Stücke, die ich probiere, sind jeweils ein neues Referenzniveau für beide Produkte. Die Abalone, sonst auch in exzellenter Zubereitung häufig etwas kaubedürftig, ist hier so zart wie ich es noch nie erlebt habe. Der Geschmack des Schneckentiers erinnert leicht an Meer und gelangt noch deutlicher zum Vorschein, wenn man etwas von dem intensiven Salz aufstreut, das in einem kleinen Schälchen danebensteht. Der Oktopus, zart und saftig, erhielt einen Pinselstrich mit einer Sojasauce, die würzige, leicht süßliche Noten offenbart. Ein absolut grandioser Referenzteller.
Es folgt Sashimi vom Baby-Thunfisch, genauer zwei akkurate Scheiben davon. Die schillernde, rostrote Farbe unterscheidet dieses Produkt schon optisch signifikant von ausgewachseneren Tieren. Die Scheiben schmelzen am Gaumen. Wer hierbei nicht zumindest kurz die Augen schließt, ist dieses Platzes am Tresen nicht würdig. Auch die Temperatur ist perfekt, ein Grad Abweichung in jede Richtung wäre schon ein Fehler, den sich der Meister wohl nie erlaubt.
Es geht weiter mit Tintenfisch, leicht gegart und warm serviert. Die Stücke sind gefüllt mit weiteren Teilen des Tiers sowie auch mit dessen Eiern, die für eine leichte Salzigkeit sorgen, aber ansonsten fast nicht bemerkbar sind. Die zarten, gefüllten Petitessen liegen in einer Sauce mit Soja und Yuzu. Unglaublich wohltuend, unglaubliche Qualitäten, unglaublicher Genuss.
Mit kleinen, jungen Tintenfischen geht es weiter. Sie wurden gegrillt und werden auf einem Spieß gereicht. Die Grillaromen verleihen dem kleinen Snack eine geradezu mediterrane Anmutung, was umso faszinierender ist.
Als nächstes gibt es Futomaki mit Makrele, Perilla (shiso), Reis und Sesam. Dieser Rollenform begegnet man in den japanischen Spitzenrestaurants eher seltener. Sie hat – wie könnte es anders sein – natürlich nichts mit den Mayonnaise-Röllchen mit gummiartigem Seetang und vertrocknetem Krebsfleischsurrogat unserer Breiten zu tun. Gar nichts. Es schmeckt auch nicht ähnlich, selbst der Unterschied zwischen Äpfel und Birnen fällt erheblich kleiner aus. Dieses eine Stück, das man bekommt, ist perfekt und lohnt allein eine Reise hierhin; das meine ich ganz ernst. Der Reis ist luftig, die Makrele über-frisch und durch die schrägen Einschnitte besonders anschmiegsam am Gaumen, Sesam und Perilla steuern Aromen bei, die mich an den Rand der Tränen bringen. Ich bin sprachlos und glücklich.
Es folgt gegrillter Haarschwanz (tachiuo), ein weißer, fester, aber gleichzeitig sehr zarter Fisch mit silbriger Haut, serviert mit zwei Stücken säuerlichen Gemüses und irgendetwas Frittiertem, das ich nicht verstanden habe. Das Gericht ist fantastisch. Der Fisch ist sehr saftig und exzellent gegart, deutliche Grillaromen befördern mich gedanklich in den Sommer. Ich tauche ab, bin angesichts dieser Qualitäten und perfekter Geschmackserlebnisse wie in einer Wolke.
Inzwischen hat Saito begonnen, die gleich folgenden Nigiri vorzubereiten. Völlig gebannt beobachte ich die repetitive, präzise Schnittführung, die vermutlich, aber für mich nicht erkennbar, für jeden Fisch ein bisschen anders ist. Ebenfalls faszinierend ist das Bedürfnis des Meisters nach geometrischer Ordnung an seinem Arbeitsplatz. Viele Dinge sind parallel oder rechtwinklig zueinander angeordnet – das Messer zum Fisch, die Anordnung des Fischs zur Arbeitsfläche –, auch Abstände sind häufig gleich bemessen. Es ist die Akribie eines Perfektionisten.
Zehn Stück – eines für jeden Gast – von sechs verschiedenen Fischen liegen am Ende der Vorbereitungen auf der Arbeitsfläche, von weißlich transparent über silbrig schimmernd bis weinrot. Eine farbenfrohe, höchst appetitliche Pracht.
Dann beginnt der Meister, die Nigiri-Stücke zuzubereiten. Die Choreografie, der er dabei folgt, ist für mich so schön anzusehen wie für andere ein Ballett. Saito gerät dabei regelrecht in einen meditativen Zustand. Er hat diese Bewegungen schon zigtausendfach ausgeführt und perfektioniert. Das Stück Fisch fixiert er zunächst zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand, die er dann immer ein paar Mal rollend um die Längsachse des Arms hin und her bewegt, dann folgt die rechte Hand, die in einer sehr charakteristischen, weit ausholenden Bewegung zunächst die richtige Menge Reis aus dem Topf holt und in Form bringt. Dabei lässt der Meister den Zeigefinger frei, mit dem er etwas Wasabi aufnimmt und diesen zusammen mit dem Reis dann in zielstrebigen Bewegungen auf die „Rückseite“ des Fischs aufträgt, dann folgt ein Pinselstrich mit Sojasauce. Saito konstruiert das Sushi von oben nach unten, das habe ich so auch noch nicht gesehen. Er benötigt für so ein Stück sieben Augenblicke, denn so oft blinzelt er meist während dieser Prozedur.
Es muss sich vollkommen für ihn anfühlen, ein fertiges, perfektes Stück Nigiri geformt zu haben.
Das erste Stück kommt mit rotem Schnapper (kurodai). Was im Vergleich zu vielen nigirizushi anderer Großmeister sofort auffällt sind zwei Dinge: erstens die relativ kleine Portionsgröße, zweitens die Tatsache, wie sich der Fisch um den Reis schmiegt. Sonst liegt er oft nur auf und hängt der Länge nach über; hier bilden Fisch und Reis eine wunderschöne, kompakte Einheit, so als würde der Fisch den Reis fest umklammern.
Ich probiere das erste Stück, und es ist unmittelbar das beste Nigiri, das ich je probiert habe. Ich benötige für diese Erkenntnis nur wenige Sekunden. Es ist einer dieser Momente, an denen ich bedaure, meine Bewertungsskala nicht noch höher schrauben zu können. Der Reis von Saito ist luftig, etwas wärmer als üblich und hat eher wenig Säure. Das sind alles sehr angenehme Attribute. Zusammen mit dem im Verhältnis zum Reis etwas größer portionierten Fisch ermöglicht das noch besser, die unglaublichen Fischqualitäten wahrzunehmen, die hier Verwendung finden. Bereits dieser Schnapper ist eine Referenz. Ich möchte laut schreien, so gut ist das, doch ich übe mich in japanischer Zurückhaltung.
Flunder (hirame), schmeckt nach Meer und lässt träumen.
Eine Heringsart (kohada) glänzt wie Platin, schmeckt grandios.
Magerer Thunfisch (akami) eröffnet die Thunfisch-Trilogie auf grandiose Weise.
Mittelfetter Thunfisch (chūtoro) ist dicht und auffallend schwer. Das Stück schmilzt am Gaumen wie bei solchen Qualitäten üblich.
Fetter Thunfisch (ōtoro) ist von der besten Qualität, die ich von diesem Teil des Fischs je probiert habe. Die Qualität vor ein paar Tagen im Kichisen war vergleichbar, aber der Fisch war dort etwas zu kalt. Hier ist er perfekt temperiert. Am Gaumen löst sich der Fisch unmittelbar zu wohlschmeckendem Fett auf. Es ist ein Niveau, welches man außerhalb Japans nicht einmal erahnen kann.
Tintenfisch (ika) ist recht dick geschnitten, vielleicht zwei Millimeter, dafür sind die Einschnitte sehr tief und zahlreich, was für ein angenehmes Kaugefühl sorgt. In den Einschnitten hat sich auch etwas von der kleinen Zitrusfrucht verfangen, die Saito darüber gepresst hat. Eine Sensation.
Weiter geht die Aufführung – und es ist wirklich eine, denn den Meister zu beobachten ist absolut fesselnd – mit Kuruma-Garnele (kuruma ebi). Auch diese Portion ist perfekt: in vielen anderen Sushi-Restaurants ist das Fleisch dieser Garnele so groß, dass das Nigiri in der Mitte geteilt wird, was damit das Mundgefühl erheblich verändert. Nicht so hier, Saito verwendet eine optimale Größe bei den Garnelen, sodass das ausgelöste Fleisch perfekt zu der Portion Reis passt. Ein etwas prononcierterer Kick Wasabi kontrastiert am Gaumen elegant die Süße des Schalentiers, welches, wie üblich für diese Sorte, eher an Kaisergranat erinnert als an eine Garnele. Ein kleines Meisterwerk.
Herzmuschel (torigai) folgt. Es handelt sich hier um eine seltene Art, die ausschließlich für wenige Wochen ab Anfang April Saison hat. Klar und rein und „spannend“ zu kauen.
Es folgt Seeigel (uni) von einer Qualität, die sich mir schon beim Betrachten der kostbaren Schachtel erschließt. Anstatt, wie sonst üblich, die Portion Reis und Innerei in Form eines mit Algenblättern umwickelten „Schiffchens“ (gunkan) zu servieren, formt Saito-san auch hieraus ein mundgerechtes Nigiri. Das erleichtert den Verzehr und steigert den Genuss, weil man sonst immer den ganzen Mund damit voll hat.
Süßwasseraal (unagi), gekocht und mit einer süßlichen Sojasauce bestrichen, hat eine Textur wie grobes Kartoffelpüree und ist ebenfalls eine qualitative Referenz für diese Zutat.
Dieses letzte Stück schließt die Sequenz von Nigiri ab, die mich so beeindruckt und begeistert hat wie keine sonst. Jedes einzelne Stück verdient jede verfügbare Höchstnote.
Das Mahl klingt langsam aus, zunächst mit einer intensiv nach Lauch und Algen duftenden Suppe. Sie schmeckt konzentriert, ein wenig wie Zwiebelsuppe, offenbart aber sehr feine Nuancen und keinerlei Süße. Heiß, wohltuend und auf sehr vielen Ebenen absolut hervorragend.
Wie häufig üblich gibt es jetzt noch eine Handrolle (temaki) mit Reis und Thunfisch (chūtoro), die es irgendwie schafft, die „Lauchigkeit“ der Suppe von vorhin wiederaufzunehmen. Magisch.
Süßes Omelette (tamago) schließt das Essen dann nach bequemen zweieinhalb Stunden ab. Das aufwändige Handwerk ist auch hier makellos, das Ergebnis vergleichbar mit einer Kreuzung zwischen Flan und Brioche. Nicht zu verbessern.
Ich bezahle, verabschiede mich und suche einen Ausgang. Irgendwo spuckt mich das Gebäude aus, ich weiß nicht einmal, ob das hier das Erdgeschoss ist. Nach einer Weile sitze ich in einem Taxi. Die Lichter der Stadt ziehen Schlieren an meinem Fenster, die Fahrt vergeht wie in einem einzigen Augenblick. Und Saito? War das nicht das Restaurant, das schon auf meinem Hinweg niemand kannte? Für das niemand eine Reservierung bekommt, und bei dessen Erwähnung auch jetzt jeder auf der Straße nur mit den Schultern zucken würde? Es gibt wenig Zweifel: ich war in einer Parallelwelt.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Sushi Saito |
Chef de Cuisine: | Takashi Saito |
Ort: | Tokio, Japan |
Datum dieses Besuchs: | 13.03.2017 |
Guide Michelin (TYO 2017): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens | * |
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*) Die Bewertung einzelner „Gänge“ in Sushi-Restaurants werde ich künftig nicht mehr im Einzelnen ausführen. Es ist wenig sinnvoll, einzelne Sushi-Teile zu bewerten, da die Qualität des Handwerks und der Produkte während eines solchen Essens niemals von einer Speise zur anderen abweicht und als Einheit betrachtet werden muss. Mehr hierzu ggf. an anderer Stelle.