Geranium – kein Stern zu viel
„Du fährst nach Kopenhagen? Ist da nicht dieses …“ – Noma, ganz genau. Dass da ein berühmtes Restaurant für ganz schön viel Furore gesorgt hat, wissen sogar Menschen, die üblicherweise nicht in Flugzeuge steigen, um irgendwo essen zu gehen.
Aber ich reise dieses Mal gar nicht ins Noma. Ich war schon zwei Mal dort, und mich hat das Essen von René Redzepi und seinem wissbegierigen, multikulturellen Team zwar immer beeindruckt, aber der große Genuss, das Schwelgen, blieb aus – wie auch bei vielen anderen Vertretern der New Nordic Cuisine. Diese Stilrichtung, die eine bedingungslose Regionalität als Leitmotiv hat, ist eine der bedeutendsten Entwicklungen, die die Geschichte der Kulinarik in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Auch gastronomisch hat man im Norden Trends gesetzt: bärtige, tätowierte Hipster-Köche, die Essen servieren, Tische ohne Tischdecken, casual fine dining: vieles davon gäbe es nicht ohne die Dänen.
Als genusssuchender Gast entdeckt man in diesen Restaurants viel Neues, viel Spannendes und ungewohnte Lässigkeit, bezahlt das aber auch häufig mit dem Preis, dass die selbstauferlegten, manchmal regelrecht neurotisch wirkenden Dogmen der Küchenchefs über dem Genussbedürfnis der Gäste stehen. Dass man Dutzende „vergessene“ Kräuter aus der Umgebung essen kann, ist eine interessante Erkenntnis, aber ob man all das Zeug wirklich essen sollte und es nicht vielleicht zurecht vergessen wurde, ist eine Frage, die man sich als Gast spätestens dann stellt, wenn man nach dem vierten grünen Teller mit bitteren Stängeln noch immer Hunger hat. Auch auf solche Dinge wie Pfeffer zu verzichten, weil er in Skandinavien nicht wächst, mag für einen verkopften Küchenchef wichtig sein, dem Gast fehlt aber dann meistens einfach genau eines: Pfeffer.
Das ist alles ein wenig vergleichbar mit der in den Neunzigerjahren ebenfalls in Dänemark entstandenen Bewegung „Dogma 95“, ein Manifest für Filme. Dort wurde auf Requisiten, Filmmusik, künstliche Beleuchtung, Spezialeffekte und vieles mehr verzichtet, es wurde oft nur mit einer Handkamera gefilmt usw. Die Ergebnisse waren intellektuell, neuartig und puristisch, aber auch ziemlich anstrengend. Die Dänen haben es offenbar mit Dogmen.
Der große Unterschied zwischen Kino und Küche ist aber, dass der Film als Sparte der bildenden Künste so etwas darf. Küche jedoch, die aus gutem Grund keine bildende Kunst ist, sollte nicht anstrengend sein, sondern Genuss und Freude bereiten. Auch ein Koch, der experimentiert und neue Wege geht, sollte das nicht aus den Augen verlieren, wenn er seinen Gästen einen Gefallen tun möchte.
Irgendetwas muss also passiert sein, als der Michelin in diesem Jahr zum ersten Mal seine Höchstwertung in einem skandinavischen Land vergeben hat, in zweien sogar: Dänemark und Norwegen. Aber es ist in Dänemark eben nicht das Noma, sondern das Geranium in Kopenhagen, welches sich jetzt zur Elite der derzeit 113 Drei-Sterne-Restaurants weltweit zählen darf.
Das Geranium befindet sich im achten Stock eines Fußballstadions. Ein separater Eingang führt einen zum Fahrstuhl, dieser dann ein paar Stockwerke höher in ein lichtdurchflutetes Ambiente. Ich habe einen schönen Platz mit einer Sitzbank an einem runden Tisch – mit Tischdecken. Keine Spur von nordischem Extrem-Purismus oder Hipstertum, wohl aber von gelassener, weltoffener Eleganz.
Im hinteren Bereich des Restaurants werkeln Köche mit großen Kochmützen an Anrichtstationen. Auch Küchenchef und Restaurantmitinhaber Rasmus Kofoed wirkt hier konzentriert mit, das wichtigste Utensil, die Pinzette, entweder am Revers oder in der Hand. Die eigentliche Küche ist vom Ess- und Anrichtraum getrennt, hochmodern und sehr geräumig (ich sehe sie später bei einer kleinen Begehung der eindrucksvollen Räumlichkeiten).
Es ist gemütlich hier, das Personal ist freundlich, und der erste Aperitif ist gleich eine Überraschung: ein Schaumwein aus England, Nyetimber Blanc de Blancs, erfrischt angenehm mit Apfel-, Bergamotte- und weiteren Zitrusaromen. Die Weinkarte ist sehr umfangreich, mit einem willkommenen Schwerpunkt auf Frankreich, und wenn man richtig sucht, findet man z. B. Schätze wie einen 2010 Clos Rougeard„Le Bourg“ (ca. € 230).
Zum einzig verfügbaren Degustationsmenü (ca. € 270) werden erste Snacks serviert. In einem kleinen Schälchen gibt es Hummer mit Walnussmayonnaise, Milch, Roggenessig sowie, à part, Saft von fermentierten Karotten und Sanddorn. Beides eher interessant als wohlschmeckend, besonders der hohe Tanningehalt des Sanddorns macht die Speise etwas stumpf. Dennoch alles sehr präzise umgesetzt, und der Hummer ist von hoher Qualität. (7/10)
Aus Topinambur geformte Blätter dippt man als nächstes in eine, wie vorhin, mit Roggenessig zubereitete Walnussmayonnaise, die cremig, würzig und sehr wohlschmeckend ist. Auch das Aroma von Topinambur kommt gut zur Geltung. Exzellent. (8/10)
Es folgen aromatische Blüten und Kräuter auf einem Löffel, den man in eine mit separat angegossenem Schinkenfett aromatisierte Tomatenessenz taucht. Diese Speise ist wundervoll! Das Fett trägt sowohl den intensiven Geschmack von Tomate als auch die blumige Aromenwelt der Blüten und Kräuter. Zusätzlich ist ein Hauch Schärfe zu spüren – ob das nun eine lokale Zutat ist oder z. B. Piment d’Espelette, kann ich nicht ausmachen. Der Tomatengeschmack ist intensiv, die Blüten leuchten am Gaumen. Es ist ein Gang, der sich anfühlt wie ein ganzer unbeschwerter Sommer. (10/10)
Ein offener Chardonnay von Hirsch Vineyards aus Kalifornien rundet diesen Eindruck perfekt ab.
Als nächstes gibt es eine mit Holzrauch aromatisierte, außen stark verkohlte Kartoffel, die man auf einem Löffel mit gesalzener Schafsmilchbutter genießt. Das Lagerfeueraroma ist nicht zu dominant, aber genau richtig, um den Sommertag gedanklich an einem Feuer ausklingen zu lassen. Puristisch, authentisch, vollmundig. (8/10)
Ein als Stein geformtes Stück Makrele („dillstone“) ist beim nächsten Gericht mit einer Dillschicht ummantelt und wird zusammen mit einer Meerrettich-Creme und einem Dill-Granité serviert. Auf geschmacklicher Ebene treffen sich hier ein intensives Dillaroma sowie eine packende Frische der Makrele. Die Creme wirkt dabei etwas mildernd und sorgt erneut für Wohlgeschmack und Vollmundigkeit. Ganz ausgezeichnet. (9/10)
Der letzte Auftakt des Menüs ist ein Fingersnack in Form einer Stabmuschel, dessen Hülle aus einem hauchdünnen, mit Asche und Algen „bemalten“ Teig hergestellt ist. Die Füllung besteht aus Stabmuschelfleisch, Estragon, Petersilie und einer Art Sour Creme, was alles ganz hervorragend zueinander passt. Eine nicht näher identifizierbare Zitrusfrucht fügt der äußerst feinsinnigen Kreation eine gelungene Prise Exotik hinzu, die sogar eine Aromenwelt von Kokosnuss und Hawaiian-Tropic-Sonnenöl streift. Überraschend großartig! (9/10)
Der erste Gang des Menüs beinhaltet dünne, marinierte Scheiben von gelber Bete, getoppt mit Essiggel, getrockneten Holunderbeeren und Zitronenthymian. Weitere Bestandteile sind eine Sauce mit Bucheckernöl und „Saft von geräuchertem Joghurt“. Am Gaumen ergibt sich damit eine kontrollierte Explosion verschiedenster Wahrnehmungen: knusprige und weiche Texturen, Säure, Süße, Leichtigkeit und Intensität. Brillant kombiniert. (9/10)
Rohe, hauchdünne Abschnitte von weißem Spargel schwimmen beim nächsten Gang in einer mit Spargelessig und Eisenkraut aromatisierten Nussbutter. Meine Befürchtung, der Spargel hätte womöglich eine faserige Textur, erweist sich als vollkommen unbegründet. Die geschichteten Abschnitte sind leicht bissfest, aber äußert zart und am Gaumen fast zerfallend. Der Sud weist ein intensives Spargelaroma auf, das vom Fett der Butter perfekt getragen wird. Die klassische Kombination von Spargel, Butter und Säure wird hier eindrucksvoll auf den Punkt gebracht, ohne die Zutaten dabei zu entfremden. Ergänzt wird dieses Erlebnis durch eine Tartelette mit Jakobsmuschel und gehobeltem getrockneten Forellenrogen, was für einen markanten, salzigen Akzent sorgt. Das Gericht ist ganz klein und leicht, aber eines der besten um das Thema „weißer Spargel“, das ich je gegessen habe. (10/10)
Schellfisch, ganz leicht geräuchert, beeindruckt beim nächsten Gang zunächst visuell, am Gaumen dann umso mehr. Ein Jus aus Petersilie und Buttermilch gibt dem maritimen Geschmackserlebnis Tiefe, die Petersilie wirkt lange und intensiv nach; finnischer Kaviar fügt nötiges Salz hinzu und einige zum Schluss aufgestreute Fischschuppen hinterlassen einen knusprigen Eindruck wie Maldon-Meersalz. So intensiv dieses Gericht auftritt, ist es vom Geschmack jedoch ganz filigran, fast flüchtig. Die Wahrnehmung des Gerichts findet eher am Gaumen als in der Nase statt, insofern als hier eher mit Grundgeschmacksrichtungen und Textur als mit Aromen gespielt wird … faszinierend gut. (9/10)
Verschiedene Sorten Brot werden aufgetischt, alle mit verschiedenen Körnern, duftend und noch warm. Exzellent ist auch die hausgemachte Butter dazu.
Beim folgenden Gang, „creamy summer vegetables“, findet man in einem schaumigen, duftenden Sud perfekte Exemplare von süßen, nahezu rohen und saftigen Erbsen; Stücke von pochierter Auster bieten zu der intensiven Süße einen ansprechend jodig-salzigen Kontrast. Zwischen diesen Reizen von Erde und Meer sorgt ein dezent blumiges Aroma von Holunderblüten für eine kongeniale Geschmacksuntermalung. Absolut hinreißend! (10/10)
Inzwischen geht vor der großen Fensterfront die Sonne unter, und indirektes gedimmtes Licht färbt den Speisesaal mit der Gemütlichkeit eines beginnenden Abends. Das wird auch Zeit, denn es ist schon fast 22 Uhr. Richtig dunkel wird es hier zu dieser Jahreszeit nicht.
Der nächste Gang ist dann ein Potpourri von diversen Kräutern, gegrilltem grünen Spargel, Bärlauch, einem Wachteleigelb, geräuchertem Schweinefett und geschmolzenem „Vesterhavs“-Käse. Ei, Fett und Käse sorgen für eine selbsterklärende Süffigkeit zum Augenschließen. Dennoch ist das Gericht erneut leicht und äußert vielschichtig. Blüten und Kräuter fügen ganz unterschiedliche Aromen und Texturen hinzu. Frisch, süffig, leicht, perfekt. (10/10)
Mit Morcheln geht es weiter: wunderbare, geschmacksintensive Exemplare ziehen in einem Entenfond vor sich hin, dick ausgestanzter Trüffel unterstreicht die erdige, klare Geschmackswelt, in die man gerade geworfen wurde. Sonnenblumenkerne und einige behutsam dosierte Kräuter rütteln hin und wieder wach aus diesem waldigen Traum, in dem alles duftet, gut schmeckt und zutiefst befriedigend ist. (10/10)
Ein 20 Stunden lang gegartes Stück (Nacken) vom dänischen Schwein präsentiert sich im nächsten Gang in einer Kombination mit Blättern von schwarzer Johannisbeere, Stücke von eingelegtem Knoblauch und einer Emulsion vom Bratenjus und Pinienöl, die gehaltvoll, beherzt salzig und sehr schmackhaft ist. Der durch das Einlegen sehr mild gewordene Knoblauch ist unerwartet elegant dazu. Das Fleisch selbst ist das erste Stück Schwein – von Schinken abgesehen –, das ich überhaupt als Referenzprodukt für dieses Tier abspeichern kann. Da kann sich eine ganz lange Schlange an Iberico- und Duroc-Schweinen hintenanstellen. Fleisch! Süffig! Heiß! Und das in einem nordischen Restaurant. Wer’s erlebt, wird selig. (10/10)
Den Auftakt zu den Desserts macht schließlich eine „Beere“ aus roter Bete, Rhabarber, Joghurt und Tagetes, und ich falle fast vom Glauben ab, als ich feststelle wie grandios das schmeckt. Der innen Flüssige Snack hat einen intensiven Fruchtgeschmack, eine ansprechende Säure und, vor allem, Süße. Ich hätte niemals rote Bete vermutet, weil erdige Aromen hier (passenderweise) fehlen. Es ist eine ganz wahrhaftige Süßspeise, und sie ist auch noch so betörend knusprig, dass ich allein des Geräuschs am Gaumen wegen ein ganzes Dutzend davon verspeisen könnte. (10/10)
Und dann, auf den letzten Metern, gerät eine nordische Küche, die bisher so viel richtiggemacht hat, dass sie mit unzähligen Dogmen gebrochen haben muss, doch noch leicht ins Straucheln.
Ein Eis mit Bienenwachs, Pollen, Honig und Moltebeere (6/10) lässt genauso viel Süße vermissen wie der (vermutlich zu jung) dazu gereichte 2012er Eiswein von Hans Tschida.
Ein aus Pflaumenkaramell geformter „Baum“ mit einem Sauerkleegranité und einer Creme mit weißer Schokolade und Waldmeister ist hübsch anzusehen, aber kompliziert zu handhaben und auch nicht wirklich als Süßspeise auszumachen (6/10).
Und eine als Totenkopf geformte Speise mit Lakritz und Erdnuss ist eher salzig als süß, aber dennoch, für sich genommen, sehr gut (7/10). Mit Dessertgenuss hat das aber wenig gemein.
Weitere Petits Fours sind eine Achterbahnfahrt: Karamell mit Fenchelsamen und Stachelbeertee (7/10); knusprige rote Bete mit Alge und Preiselbeerpüree (6/10); Hagebutten-Marshmallow (8/10); roher Keksteig mit Sanddornpuder (ungenießbar, 5/10); weicher Kuchen aus Kürbiskern-Marzipan (6/10); dunkle Schokolade mit Karamell und Pinie (exzellent, 9/10). Ganz klar: das ist alles sehr kreativ und handwerklich gekonnt, doch geschmacklich in Summe nicht das, was man am Ende eines ohnehin schon so vielfältigen Menüs noch essen möchte. Wenn Patissiers lieber kreative Köche sein wollen, sollte vielleicht lieber umgeschult als aufgetischt werden.
Doch dieser Lapsus zum Schluss nimmt mir nichts von meiner schieren Begeisterung. Das Team um Rasmus Kofoed meistert eine technisch perfekte und undogmatische Küche, die durch eine der feinsinnigsten Kompositionen von Aromen brilliert, die ich je erlebt habe. Mal sind es nur subtile, kaum zu erhaschende Geschmacksnuancen, die umso faszinierender sind, je genauer man „hinschmeckt“, häufig sind es aber auch ganz zugängliche Eindrücke, die unmittelbar begeistern. Alle Erlebnisse haben eines gemeinsam: sie nehmen den Esser an die Hand und entführen ihn für einen kurzen Moment in eine andere Welt, hinaus aus dem Treiben des Restaurants und hinaus aus dem Alltag. Wenn Essen zu so etwas in der Lage ist, dann kann kein Stern zu viel über ihr leuchten.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Geranium (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Rasmus Kofoed |
Ort: | Kopenhagen, Dänemark |
Datum dieses Besuchs: | 17.06.2016 |
Guide Michelin (Nordic 2016): | *** |
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Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikel hieß es, der zum Eis mit Bienenwachs servierte Eiswein sei von Christian Tschida erzeugt worden. Dies war ein Irrtum, es handelte sich um Wein des Erzeugers Hans Tschida. Ich bitte, diesen Fehler zu entschuldigen.