Alain Ducasse au Plaza Athénée – Haute Nature
In einem der wohl emblematischsten Restauranttempel der Welt ist alles neu. Als ich vor ziemlich genau sechs Jahren das letzte Mal hier war, waren die Preise der Gerichte noch zweistellig, der Teppich gemustert, und man konnte Kalbfleisch zum Hauptgang bestellen. Das ist jetzt alles anders. Im Oktober 2014 wurde nicht nur die Inneneinrichtung komplett überholt, sondern auch das kulinarische Konzept radikal verändert. Naturalité, Natürlichkeit, ist seitdem das Stichwort, unter dem Alain Ducasse die Idee versteht, gesund und gleichzeitig respektvoll der Natur gegenüber zu kochen.
Fisch, Gemüse und Getreide stehen im Mittelpunkt dieses Konzepts, wenngleich ein kleiner Hinweis auf der Speisekarte eine Hintertür zum Fleischgenuss offenlässt. Ducasse möchte weder belehren noch Ideologien oktroyieren, sondern allenfalls das Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Qualität schärfen. Ein lobenswerter Ansatz, der dem Restaurant im ersten Jahr nach der Neueröffnung zwar glatt den dritten Stern gekostet hat, doch der leuchtet hier inzwischen wieder. Höchste Zeit, dem Restaurant einen neuen Besuch abzustatten.
Was für ein Ambiente! Unter einem Meer funkelnder Kristalle sitzt man in bequemen Lederstühlen an runden Tischen ohne Tischdecke oder in halbrunden, von hinten verchromten Sitzbänken, die aussehen wie Pilotensitze eines noch nicht erfundenen Raumschiffs.
In Paris meistert man sogar die Herausforderung, ein derart ausgefallenes Ambiente gemütlich wirken zu lassen.
Als erste Handlung des Personals erhält man ein erfrischendes Getränk auf Basis von roter Bete und Hibiskus, gekühlt durch einen kugelförmigen Eiswürfel (also, ja, eine Eiskugel). Der Geschmack ist pur, rein und fruchtig-erdig. Dazu gibt es getrocknete Akazienblüten, die blumig-herb schmecken und dabei recht hohen Kaubedarf aufweisen. Kein neuer Lieblingssnack, aber in diesem Kontext nachvollziehbarer als irgendein Gänseleberlolli. (7/10)Die Speisekarte, die dann in Form eines kleinen Aufstellers auf dem Tisch platziert wird, ist ein Kuriosum, weil sie keine Preise aufführt. Es gibt dafür zwei Erklärungen: entweder – und das ist am wahrscheinlichsten – hat man mir versehentlich die Karte für Gäste gegeben, die in Frankreich regelmäßig keine Preise aufführt, oder diese Nonchalance ist Konzept. Wir sind hier bei Alain Ducasse im Plaza Athénée. Das Hotel lockt auf seiner Website mit Zimmerpreisen „ab 1.290 Euro“. Da weiß jeder, was einen erwartet. Ein Essen, ein Zimmer, tomato, tomato.
Ich gehe bei meiner Bestellung so vor wie es mir am liebsten ist, und teile dem Kellner mit, welche Gänge mich besonders interessieren. In einem kurzen Dialog ergibt sich dann eine Speisefolge mit unterschiedlichen Portionsgrößen (man serviert hier gerne auch halbe Portionen), die sich stimmig anhört und Vorfreude macht.
Amuse-Bouches werden serviert. Es gibt junge Gurken mit intensivem Geschmack, eine davon mitsamt ihrer Blüte, serviert auf einem Püree von schwarzem Rettich. Traumhaft gurkig und im wahrsten Sinn knackig frisch. (9/10)
Ebenfalls auf dem Tisch steht ein Rotbarben-Sashimi mit getrocknetem Rotbarben-Rogen (bottarga) auf einem Algen-Cracker. Dieser kleine, aber kraftvolle Snack – das Salz des Rogens ist stark, die Knusprigkeit des Gebäcks „laut“, die Qualität des Fischs exorbitant – ist nicht nur geschmacklich eine aufregende kleine Speise, sondern versinnbildlicht eindrucksvoll, um welche Attribute und Qualitäten es im Verlauf dieses Essens häufiger gehen wird. (Bis heute weiß ich nicht, ob die getrockneten Algen, auf denen der Kräcker platziert ist, zum Aufessen gedacht waren. Ich probiere ein wenig davon: sie sind zäh und intensiv salzig/jodig. Nach ein paar Bissen lasse ich davon ab. Ich entscheide mich für die Idee, dass das wohl genauso gedacht ist.) (9/10)
Eine Scheibe Roggenbrot sowie ein Oliven-Focaccia – beide exzellent – sind ebenfalls Teil dieser spannenden Ouvertüre, die ich stilistisch bisher allerdings keinem Ducasse-Restaurant zugeordnet hätte. Man könnte durchaus einige Parallelen zur nordischen Küche ziehen. Doch spätestens ab dem folgenden Amuse-Bouche ist es offensichtlich, wo diese Küche ihren Platz hat.
Auf dem bildgewaltigen Teller liegt ein knusprig frittiertes (und dadurch komplett essbares) Skelett von der Sardine auf einem kräftig gegrillten Sardinenfilet. Das morbide Arrangement liegt in einer giftgrünen Estragonsauce, dazu gibt es Stückchen von schwarzen Oliven und ein ebenfalls gegrilltes und in eine Vinaigrette gestipptes Viertel Romanasalat. Ich probiere das Gericht, und um mich herum wird es warm und dunkel. Zikaden zirpen, Glühwürmchen blitzen auf. Die laue Luft duftet nach Pinien, Grill und Meersalz. Man bekommt eine Gänsehaut, weil die Luft sich nicht entscheiden kann, ob sie noch wärmen oder schon kühlen soll. Himmel und Meer werden schwarz, der Mond lässt das Meer silbrig funkeln.
Das ist ein gewaltiges, starkes Gericht voller Botschaften. Erstens: große Küche braucht keine klassischen Luxuszutaten; eine Sardine tut’s auch, wenn sie so hervorragend ist wie hier. Zweitens: Nachhaltigkeit sollte nicht einfach nur ein Schlagwort in der Speisekarte sein. Nachhaltigkeit heißt auch, Produkte – vor allem tierische – so zu respektieren, dass man auch über die Verwendung von Teilen nachdenkt, die man sonst eher im Mülleimer findet. Drittens: Spitzenküche braucht keine gebastelten Tellerarrangements. Viertens: Spitzenküche darf heiß und salzig sein und nach Grill schmecken. Fünftens: große Küche erlebt man mit dem Kopf. Dies und mehr.
All diese Gedanken, all diese Emotionen angele ich aus einem kleinen Gericht mit einem Fischskelett obendrauf. Ist das nicht großartig? (10/10)
Als nächstes probiere ich Gamberoni de San Remo mit jungem Lauch und weiteren Gemüsen. Auf dem dunkelgrauen, schlichten Teller kommen die leuchtenden Farben der Zutaten besonders schön zur Geltung. Alles duftet auch hier nach Grill; Aromen von Lauch gesellen sich hinzu. Die Garnelen sind fantastisch, besser als jeder mittelmäßige Kaisergranat, und die Sauce, mit der man jede der perfekten Gabeln anreichert, ist leicht und cremig zugleich. Kapern fügen dem Gericht eine angenehme Säure hinzu. Schlicht, aber köstlich. Ein Wohlfühlgericht, für dessen Preis (€ 125) man in fast allen anderen Restaurants der Welt auch auf hohem Niveau richtig satt werden kann. Das ist ohne Frage diskussionswürdig, aber ich bin ja freiwillig hier. (9/10)
Gemüse aus den Gärten von Versailles (€ 90) beeindrucken als nächstes. Wer hier als Gast seine Nase nicht ganz nah an die Gerichte heranführt, hat eine falsche Idee von Anstand. Der Duft, der diesem Topf entströmt, ist außergewöhnlich und muss um jeden Preis eingefangen werden. Erbsen, verschiedene Wurzelgemüse, Kräuter, Blütenpollen sowie fermentierter Weizen und grüner Kaffee (!) ergeben zusammen ein außergewöhnliches, leicht ätherisches Aromen- und Geschmacksbouqet. Alle Gemüse sind auf den Punkt gegart, saftig und intensiv im Geschmack. Jeder Bissen ist wie ein Spaziergang im sonnigen Schlossgarten. (10/10)
Weiter geht das königliche Vergnügen mit Quinoa aus Anjou, serviert im Cookpot®, mit wildem grünem Spargel, kleinen Pfifferlingen und Fichtensprossen (€ 110). Das Gericht ist extrem. Extrem salzig, extrem ungewöhnlich … und extrem gut. Die winzigen Nüsschen der Quinoa-Pflanze haben eine angenehme Textur und nehmen durch ihre kugelförmige Oberfläche besonders viele Aromen an, in diesem Fall von dem süffigen Fond, in dem sie gegart wurden. Pilze und Fichtensprossen vermitteln einen Eindruck von duftendem Nadelwald, der Spargel ist strahlend grün und knackig frisch. Ein einzigartiges Gericht, das mit seinem hohen Salzgehalt allerdings polarisieren dürfte. (9/10)
Das folgende Gericht U stocafi („pour amateurs“, für Liebhaber) ist ein absoluter Klassiker der monegassischen Küche, den ich unbedingt probieren wollte. Ducasse präsentiert damit eine Ode an seine Heimat. Das ursprünglich aus der Seefahrt stammende Gericht ist im Wesentlichen ein Kompott von Tomaten und schwarzen Oliven, dazu gibt es Stockfisch, d. h. in Salz konservierter und getrockneter Dorsch. Hier ist der Fisch so weiß und zart, dass man meint, er sei gerade frisch verarbeitet worden. Das Gericht ist heiß, süffig und abermals extrem salzig – in diesem Fall ein unverzichtbares Attribut, um die Authentizität dieser Speise zu unterstreichen. Das mit 45 Euro in diesem Preisrahmen fast geschenkt wirkende Gericht nimmt man mit einem Augenzwinkern wahr, schließlich war stocafi mal ein Arme-Leute-Essen. Ein intensives Gericht mit Hitze, Wohlgeschmack und allem Anrecht auf ein Servieren in einem Spitzenrestaurant! (8/10)
Auf hohen Wogen geht es weiter. Zwei Filetstücke von der Seezunge aus den Courreaux de Groix in der Bretagne sind von allerbester Qualität (€ 155). Neben ihrem feinen, leicht süßlichen Aroma ist es die einzigartige bissfeste Textur, die diesen Fisch so begehrenswert macht. Dazu gibt es verschiedene Salat- und Kräuterblätter, Beten und pikante Merguez, die ebenfalls aus Seezunge hergestellt ist und dadurch wieder den Bogen zum Fisch spannt. Ein Gericht, bei dem die Qualitäten aller Zutaten überbordend sind und die Geschmacksbilder neuartig und aufregend. Ein zutiefst befriedigender Teller. (10/10)
Ein Gericht mit Steinbutt aus der Gascogne, das ich an unserem Tisch ebenfalls probiere (€ 150) ist scheinbar ähnlich konzipiert und doch völlig anders. Der Fisch ist auf einem leuchtenden Saucenspiegel von Karotte und Kardamom angerichtet, dazu gibt es knusprige Meeresalgen und junge Karotten. Die Sauce erhält durch den Kardamom eine exotische Note und passt exzellent zu dem Fisch, dennoch fehlt der Kreation etwas, um die Schlichtheit geschmacklich zu kompensieren. Ausnahmsweise etwas langweilig, gleichwohl auf sehr hohem Niveau. (8/10)
Als nächstes gibt es Hummer (halbe Portion € 85) aus dem Cotentin, einer Halbinsel in der Normandie. Zu dem ausgelösten Hummerfleisch gibt es Löwenzahn, Basilikum sowie Erbsen, Erbsen und Erbsen. Es gibt so viele Erbsen wie ich es mir selbst in den kühnsten Visionen eines Schlaraffenlands nicht erträumt hätte. Wie gut, dass ich bei meiner Bestellung meine Erbsen-Obsession angesprochen habe, denn diese Portion fällt etwas üppiger aus als üblich. Überflüssig zu erwähnen, wie grandios das schmeckt: die kleinen grünen Dinger sind süß und ätherisch frisch; die zitrusartige, leicht bittere Note vom Löwenzahn steuert angenehm dagegen; der Hummer ist makellos. Und lieber eine halbe Portion Hummer, dafür aber eine dreifache Portion Erbsen. (10/10)
Es ist fantastisch und aufwühlend bisher. Die klassische provenzalische Küche, die sonst so bezeichnend für Ducasse ist, steht hier im Hintergrund. Vordergründig entdecke ich in diesem Restaurant eine von den schroffen Küsten des Atlantiks geprägte Küche, die genauso in Bewegung zu sein scheint wie das Meer selbst. Aufregend!
Rustikal geht es weiter mit Käse (€ 40). Ich wähle 48 Monate gereiften Comté, Stilton aus London, Tomme de Vache und Salers, alle hervorragend gereift, bestens temperiert und kräftig. Intensiv geröstetes Weißbrot und feine gesalzene Butter ergänzen dieses Intermezzo, das ich nicht auslassen konnte.
Das um Erdbeeren rankende Dessert (€ 45) besteht aus drei Kreationen und verwirrt eher als es begeistert. Auf einem Teller findet man ein kurioses Ensemble aus (exzellenten) Erdbeeren, Raukepesto und einem eiskalten, recht bitteren „Staub“ – eine Kombination, die sich mir überhaupt nicht erschließt, und auch eine erhoffte Süße vermissen lässt. Die beiden anderen Bestandteile des Gerichts sind ein Becher mit Erdbeereis und geeister Sauermilch von der Ziege sowie ein Brot mit Erdbeermarmelade und irgendetwas Frischkäseartigem. Ich finde diese Ideen alle nicht schlecht, und die Erdbeeren sind von ausgezeichneter Qualität, aber das Verschieben der erwarteten Geschmackswelt eines Desserts weg von Süße, hin in Richtung Säure und Bitterkeit ist allgemein nicht mein Fall. (7/10)
Als Kompensation muss ein Baba au Rhum her. Der steht nicht auf der Karte, aber als der Kellner meinen fehlenden Enthusiasmus bemerkt, dauert es nicht lange, bis ein Stück dieses himmlischen Klassikers aufgetischt ist. Da ist der Erdbeerkäse schon Schnee von gestern. (10/10)
Dunkle Schokolade aus der Manufaktur von Ducasse und eine Schale mit Erdbeeren aus dem Bilderbuch begleiten einen starken Kaffee – und mich in meinen Gedanken auf dem Flug zurück.
Dieses Mittagessen war einzigartig. Es hat wachgerüttelt, aufgewühlt und begeistert. Es war ein Essen mit einer von Gezeiten gezeichneten und durch Regionen geprägten Küche, deren herausragende Produkte die Handschrift ihrer Erzeuger trägt. Scheinbar nebenbei schafft Ducasse es auch noch, aus so ziemlich allen derzeit angesagten Gastronomiekonzepten („Nose to Tail“, Regionalität, fehlende Tischdecken) die Essenz zu extrahieren und völlig ungezwungen und ohne jegliche Inszenierungen erlebbar zu machen. Ein solches Essen hat nichts anderes als eine Höchstnote verdient. Und die Dessertkarte hat schließlich noch andere Optionen. Ich werde berichten.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Alain Ducasse au Plaza Athénée (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Romain Meder |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 10.06.2016 |
Guide Michelin (F/MC 2016): | *** |
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