Da Vittorio – alles nur ein Traum
Viele gehen ja heutzutage nur noch bei Köchen und Gastronomen essen und nicht mehr in Restaurants. Man geht zu Fehling, zu Raue, zu Erfort, zu Billy. Ich mag dieses Getue nicht, weil es so klingt als wäre man von ihnen nach Hause eingeladen worden. Ich finde es auch unfair gegenüber allen anderen Angestellten im Restaurant, die ebenfalls für das Wohl der Gäste verantwortlich zeichnen und mit denen man in den meisten Fällen sowieso viel mehr zu tun hat. Außer bei Billy.
Aber es geht auch ohne Namedropping. Ich fahre heute zum Beispiel ins Da Vittorio und habe zu diesem Zeitpunkt keinen blassen Schimmer, wer dort kocht. Es ist mir auch vollkommen egal. Anstatt Wissen über Namen, Vita und Küchenstil eines Kochs, habe ich für den heutigen Abend einfach nur eine große Portion Vorfreude und reichlich Appetit mitgebracht – und immerhin so viel Grundvertrauen in die drei Sterne des Guide Michelin, dass es mir gleichgültig ist, ob der Küchenchef auf Giovanni oder Karlheinz hört, solange er oder sie seine Arbeit gut macht. Mit einem solchen Unwissen in ein Restaurant einzukehren kann ich jedem nur ans Herz legen, der einfach mal völlig unvoreingenommen essen gehen möchte. Immerhin ist das die klassische Art, nach dem Guide Michelin zu reisen. Ich liebe das.
Mein Ziel ist also das Relais & Châteaux Da Vittorio im Ort Brusaporto, knapp sechzig Kilometer östlich von Mailand. Das ist nur ungefähr drei Stunden Fahrzeit vom Schloss Schauenstein entfernt, wo ich gestern Abend essen war. Da die weiteren Restaurants, die ich auf meinem Kurztrip in der Schweiz besuche, montags geschlossen haben, war dieser Umweg in meiner Reiseplanung ein willkommener Zwischenstopp.
Ein paar verschneite Autobahnkilometer und lange Tunnel später, bin ich irgendwann am Ziel. Das familiengeführte Luxushotel liegt auf einem hügeligen Anwesen, umgeben von viel Natur und Ruhe. Im Sommer ist das hier sicherlich ein traumhafter Ort, um zu entspannen. An diesem verregneten Januartag gibt es hier wenig zu tun, außer auf die Reservierung am Abend zu warten.
Dann ist endlich Abend, und ich sitze am Tisch. Das Restaurant ist klassisch elegant eingerichtet und äußerst gemütlich. Es gibt Atmosphären, in denen man sich sofort wohlfühlt, und in dieser – geprägt von warmem Licht, hellen, gedeckten Farben und förmlichem, aber freundlichem Personal – geht es mir so.
Vor allem eines gefällt mir auf Anhieb: nicht das Gefühl zu haben, in einem gastronomischen Theater zu sitzen. Es gibt keinen Aperitif vorweg in einem anderen Zimmer, keine unaufgefordert servierte Batterie an Amuse-bouches, noch bevor mich die Küche gefragt hat, was ich eigentlich essen möchte, und keine Erläuterungen. Das ist eigentlich am wohltuendsten: es gibt hier keinerlei Erklärungsbedarf. Man geht die Treppe von seinem Hotelzimmer runter, von dort aus direkt ins Restaurant hinein und setzt sich an einen Tisch, um (hoffentlich gut) bewirtet zu werden. Ist diese Selbstverständlichkeit nicht wunderbar?
Ein Amuse-bouches wird serviert, während ich in der Karte stöbere und mich für jeweils einen Gang aus den vier Rubriken (antipasti, primi piatti, pesce, carne) entscheide.
Es gibt geräucherten Lachs mit Rettich, Rettichcreme und Rogen. Der Fisch ist von exzellenter Qualität und hohem Fettgehalt, der von der leichten Schärfe des Rettichs und den Räuchernoten angenehm kontrastiert wird. Wenig aufregend, aber exzellent. (8/10)
Mein erster Gang ist Sottosopra – das bedeutet so viel wie „drunter und drüber“ – und bezeichnet hier ein Gericht (€ 60), das mich schon von den entweichenden Aromen und vom Anblick her so glücklich macht wie wenige Speisen es können. Der Teller duftet nach dem geschmolzenen Taleggio-Käse, der sich in einer dünnen Schicht über waldig-erdige Steinpilze, knackig frischen Spinat und weitere Gemüse gelegt hat sowie nach den Trüffeln, die am Tisch darüber gehobelt werden. Leicht süßliche Weintrauben und Maronen findet man auch noch in dem süffigen, heißen Sammelsurium, zu dem keine Genusssteigerung existiert. Meine Augen schließen sich kurz, alle Reisestrapazen fallen von mir, alles schmeckt und duftet – es gibt da keinen Unterschied. (10/10)
Wenn etwas so schmeckt wie das hier, weiß ich, am richtigen Ort zu sein.
Für den nächsten Gang, Paccheri Pasta „Vittorio Style“ (€ 35) bringt der Oberkellner – ein großer, schlanker und freundlicher Herr, der sehr behutsame Bewegungen macht – einen Teller mit Pasta, Tomatensauce und Basilikum an einen Beistelltisch. Während der Teller von unten warmgehalten wird, mischt der Maître die röhrenförmige Pasta ganz vorsichtig, während sein Kollege etwas Parmesan und fantastisches Olivenöl des Erzeugers Valentini zugibt. Ein Hauch Chili aus der Mühle kommt auch noch hinzu. Das Resultat ist ein Gericht, das in seiner ganzen Schlichtheit für mich eindrucksvoller ist als jedes kunstvoll angerichtete Tellerarrangement.
Die Pasta selbst hat eine bemerkenswerte Textur, die einen so perfekten „Biss“ aufweist wie ein Stück Sepia von einem Sushimeister. Die Sauce aus regionalen Tomaten ist leicht sahnig* angemacht und mit Basilikumblättern aromatisiert. Das Geschmacksbild von cremiger Tomatensauce und Basilikum kennt (und mag) vermutlich jeder, doch so perfekt ausgeführt wie hier ist dieser Genuss eine frappierende Offenbarung wie das erste Stück Sushi in Japan. Perfektes Handwerk, schlichte, herausragende Zutaten, Hitze, wohliger Duft und eine betörende Vollmundigkeit machen dies zu einem denkwürdigen Gericht, von dem ich lange erzählen und zehren werde. Allein eine perfekte Bewertung wird dieser Tatsache gerecht. (10/10)
Das Festmahl schreitet fort mit über Holzkohle gegrilltem Kaisergranat (€ 80), oder besser gesagt drei Exemplaren davon, die jeweils längst aufgeschnitten sind und mit dem Fleisch nach oben auf dem Teller liegen. Auch die Scheren sind bereits von einem Großteil ihrer Schale befreit, sodass sich das Fleisch gut lösen lässt. Zusätzlich – als eine Art Dip – findet man im Kopfteil der Krustentiere eine Mandelcreme sowie, auch auf dem Teller, kleine Auberginenwürfel mit etwas Chili, die etwas zu zerkocht sind.
Der Kaisergranat ist hier definitiv der Star des Gerichts und von exzellenter Qualität. Feine Röstaromen verleihen diesem Gericht das Gefühl eines Grillabends unter freiem Himmel. Ein begeisterndes, das Produkt huldigende, Gericht. (9/10)
Das Lammkarree (€ 60) kann dann vom Niveau her nicht mithalten. Zwar ist das Fleisch von gutem Geschmack und perfekter Würzung, doch die (erst beim Servieren angekündigte) Sous-vide-Garung nimmt, wie so oft, dem Produkt seine Seele und passt auch merkwürdigerweise gar nicht zum bisherigen Stil. Besonders zart ist das Fleisch auch nicht. Rhabarberkompott, Zwiebeln und eine Schwarzer-Pfeffer-Sauce klangen zudem nach herzhaften Ergänzungen, doch das Geschmacksbild ist in Summe eher süßlich. Weniger mein Fall. (7/10)
Was dann aber hinsichtlich der Desserts passiert ist unglaublich. Es öffnet sich die Tür zum siebten Süßspeisenhimmel. Hier oben wird man begrüßt mit einem gefüllten Gebäck mit Limoncellocreme (9/10), verschiedenen Pannetone-Kuchen (alle 10/10), bevor es weitergeht mit Il mandarino (€ 25).
Am Anfang denke ich: so eine Kugel habe ich schon so oft gesehen, doch das Innenleben hat mich nur selten wirklich begeistert. Aber hier, wenn man schließlich den Mut aufbringt, alles zu zerstören und zusammenzumischen, treffe ich auf eine Kombination von Mandarine, Kaffee, Lorbeer und Karkadeh (eine Teesorte), die tatsächlich so schmeckt als beträte man einen Teeladen: fruchtig, würzig, exotisch. Verschiedene Texturen von schaumig über cremig bis knusprig machen dieses Dessert nahezu perfekt (9/10).
Und dann, am Ende, als ich wirklich nicht mehr kann, benebelt von all den Genüssen, zieht sie an mir vorbei: Wolke sieben. Wolke sieben besteht aus Zuckerwatte und ist mit Pralinen gespickt. Skeptisch, ob mir mein Geist einen Streich spielen könnte, blicke ich die Pralinen zunächst argwöhnisch an, gebe jedoch schnell der Versuchung nach. Und dann noch mal. Und noch mal, bis selbst die letzte Praline, von der ich dachte „so gut kann die eigentlich gar nicht sein“ und die dann noch besser war als die vorherige, verschwunden ist. (10/10)
Als die Wolke an mir vorbeigezogen ist, wurde in der Zwischenzeit ein ganzes Regal voller weiterer Pralinen an den Tisch gebracht. Ich fühle mich wie ein Kind in einem Süßwarenladen aus einem Märchen. Die wenigen, dich ich noch probiere, sind alle himmlisch.
Gegen sechs Uhr morgens wache ich auf, um zum Cheval Blanc nach Basel zu fahren. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das alles nur ein Traum war. Ich meine: Pralinen auf Wolken? Nudeln mit Tomatensauce im Drei-Sterne-Restaurant? Das gibt es doch alles nicht.
* Nachtrag: Laut einem bei Facebook geposteten Rezept zu diesem Gericht, wird für den sahnig-cremigen Eindruck keine Sahne verwendet, sondern Butter und Parmesan. Auch gut!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Da Vittorio (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Enrico Cerea |
Ort: | Brusaporto, Italien |
Datum dieses Besuchs: | 11.01.2016 |
Guide Michelin (I 2016): | *** |
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