Fäviken Magasinet – K(n)ochen am Polarkreis
Zu meiner großen Verwunderung fliegt die Fluggesellschaft SAS mit einer vollbesetzten und ausschließlich in Economy Class bestuhlten Boeing 737 von Stockholm zum siebenhundert Kilometer nördlich gelegenen Flughafen Åre/Östersund. Und das sogar fünfmal am Tag. Von den knapp zweihundert Passagieren, die nach der Landung aus der Maschine in das kleine Flughafengebäude laufen, haben jedoch vermutlich fast alle ein anderes Ziel als ich. Ein Skiort in der Nähe scheint die Massenwanderung zu begründen.
Ansonsten ist hier oben nämlich so gut wie nichts in der Nähe. Es ist eiskalt; das Thermometer meines Mietwagens zeigt siebzehn Grad unter dem Gefrierpunkt an. Ich fahre nach Järpen, durch eine weiße, spärlich besiedelte Winterlandschaft, die auf einem Schwarzweißfoto kaum anders aussieht als in Farbe. Unwirtlich könnte man das hier nennen, doch ausgerechnet ein Wirtshaus sorgt in dieser Gegend seit einiger Zeit für Aufmerksamkeit.
Verantwortlich für den Trubel zeichnet der Schwede Magnus Nilsson, dessen Lebenslauf bereits Stationen wie Astrance und Arpège schmücken. 2008 kam der damals 25-Jährige nach Järpen, um dort zunächst temporär als Sommelier zu arbeiten – und wenige Monate später schon als Küchenchef. Damals war das Restaurant nicht für besonders gute Küche bekannt, sondern für sein Fondue, das überwiegend Besucher des benachbarten Skiorts anlockte. Es lief nicht gut, und Nilsson bekam mit seiner Erfahrung die Gelegenheit, dies zu ändern.
Es scheint ihm gelungen zu sein, denn die Gäste pilgern mittlerweile aus der ganzen Welt hierhin – ganz ohne den Guide Michelin, denn der bewertet in dieser Region nicht. Eine hohe Platzierung in den World’s 50 Best Restaurants und interessante Berichte in einschlägigen On- und Offline-Publikationen führen nun auch mich hierhin. Die einzigartige Lage, die schon an sich eine Reise hierhin rechtfertigt, erhöht dabei natürlich den Reiz.
Ich komme recht früh an, gegen 15 Uhr. (Offizieller Check-in ist um fünf.) Das Haus verfügt auch über eine Unterkunft, die vermutlich so ziemlich jeder Gast mitbuchen dürfte. Wo sonst sollte man hier zu später Stunde unterkommen? Eine Übernachtung kostet 1.500 SEK (ca. € 190), dafür gibt es ein kleines gemütliches Zimmer, Gemeinschaftstoiletten und -duschen. Alles sehr hochwertig und geschmackvoll, allerdings. Jugendherberge-Feeling für Frequent Traveller.
Kurz vor 19 Uhr treffen sich die (maximal) 14 Gäste dann in einem kleinen Vorraum des darüber gelegenen Restaurants zum Aperitif. Der urige Raum ist äußerst gemütlich. Die dicken Deckenbalken sind niedrig, und an den Holzwänden hängen alte Werkzeuge, Zweige, ein Fellmantel. Es brennt ein Feuer im Kamin. Echte Kerzen neben gedimmten Halogenbirnen spielen mit Kontrasten.
Zu mehreren Gläsern vorzüglichen Blanc-de-blanc-Champagners (Bérèche et Fils, „Les Beaux Regards“ (ca. € 22) mit mehrfachem Nachschenken) werden eine Reihe von Snacks serviert, auch von Nilsson persönlich. Ein schriftliches Menü gibt es nicht. Das Essen wird pauschal mit 1.250 SEK (ca. € 156) berechnet.
Leinsamenchips mit Muscheldip setzen zunächst einen meerigen Akzent, der gefällt; ein Ziegenkäse („just a few minutes old“) mitLavendel istangenehm warm und duftend.
Erneut fischig wird es mit Forellenrogen in (warmer) Schweineblutkruste(!), dann geht es herzhaft weiter mit einem kleinen frittierten Snack, der wie die Essenz eines besonders guten Wiener Schnitzels schmeckt.
Weiter geht’s mit etwas Algenartigem (schmeckt wie Auster) sowie dünnen Streifen von geräucherter Wildgans. Insgesamt ein befreiend origineller Auftakt, der zwar nicht das Ende der Genussskala markiert, aber neugierig auf alles Weitere macht.
Über eine steile Treppe geht es wenig später hinauf in den ebenfalls fast ganz aus Holz bestehenden Speisesaal. Die wenigen Tische sind wandnah auf der einen Seite des Saals platziert. Auf der gegenüberliegenden Seite steht eine große Anrichte. Dazwischen ist viel Platz – für einen martialisch anmutenden Holzbock (wird da etwas geköpft?) und die Bühne für Nilsson und seine Gehilfen.
Die Weinkarte ist eine der besten, die ich je gesehen habe: Egly-Ouriet, Gauby, Raveneau, Pio Cesare und viele mehr – jede Position scheint mit Sachverstand und Leidenschaft ausgesucht zu sein. So paradox es klingt: gerade deswegen wähle ich die Weinbegleitung (ebenfalls SEK 1.250). Anders als in den meisten deutschen Sternetempeln karaffiert der Sommelier hier nämlich schon mal ein paar sehr spannend anmutende Tröpfchen – von kleinen Winzerhäusern im Burgund über das Jura bis hin zu Bier aus Schweden sowie Sake.
Brot und Butter zählen zu den besten, die je vor mir auf einem Tisch standen. Ein herrlich luftiges Weißbrot mit knackiger Kruste, dazu eine verführerische, hausgemachte Butter mit Salz … Eigentlich braucht man nicht mehr. Eigentlich.
Der erste Gang wird serviert. Eine zugeklappte Jakobsmuschel wird einem in die Hand gereicht. Dann erscheint Magnus Nilsson und klatscht zweimal laut in die Hände, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Etwas hektisch erläutert er das Gericht: eine ganz leicht über Rauch gegarte Jakobsmuschel, natürlich aus der Region (wie alles hier), in ihrer Schale und einem Sud serviert, den man dazu schlürfen soll.
Die Qualität des Prachtexemplars lässt keine Zweifel zu – das steht nach schon nach dem ersten Bissen fest –, doch nach dem dritten und vierten Happen des kiwigroßen Exemplars ist es mir dann an Muschelfleisch genug. Nur mit etwas Überwindung esse ich das Monstrum auf. Eindrucksvolle Warenkunde, aber keine Kochkunst.
Im selben Stil geht es weiter mit einem Kaisergranat. Das ebenfalls gigantische Exemplar ist nur ganz leicht gegart, innen noch glasig und damit so natürlich wie es nur geht. Das Fleisch ist butterzart und süßlich, dazu passt eine süßlich-säuerliche "burnt cream". Auch dieser Teller stellt damit ein makelloses Produkt von seltener Güte zur Schau. Aber der gebotene Purismus ist schon ziemlich auf die Spitze getrieben.
Als nächstes folgt ein minutiöses Stück Forelle, zu dem geraspelte Karotten und eine Sauce mit kräftigen orientalischen Aromen serviert werden. Der abermals beispiellos gute Fisch kann dabei der intensiven Sauce durch seinen Fettgehalt ausreichend Gegengewicht bieten. Das Ergebnis ist – trotz der jeweils dominanten Protagonisten – sehr elegant und wohlschmeckend. Ein wunderbarer Teller, der, wenn auch sehr sparsam, die Essenz von guter Küche einfängt.
Genauso hervorragend ist das Stück Kabeljau, das mit einem Gelee von Fichte und Karotte aufgetischt wird. Dass man hier „im Nichts“ in der Lage ist, derart gute Produkte zu beschaffen, ist überaus beeindruckend.
An diesem Gericht begeistert jedoch nicht nur die perfekte Zubereitung des Fischs, sondern auch das Miteinbeziehen der Umgebung durch die Fichte – schließlich befinden sich in der Gegend unzählige solcher Nadelbäume.
Allmählich und ganz behutsam werden die Gerichte komplexer, sofern man hier überhaupt von Komplexität sprechen kann. Der kompromisslose Purismus vom Anfang lässt immer mehr auch ein Zusammenspiel von Komponenten erkennen. Eine überzeugende Dramaturgie.
Zu inszeniert wirkt dagegen der gesamte Serviervorgang. Die Gerichte gelangen stets gleichzeitig an alle Tische. Dann tritt Nilsson auf und klatscht zweimal laut in die Hände, bevor er das jeweilige Gericht erklärt. Wahrscheinlich ist das Klatschen für ihn die effizienteste Art, sich sofort Gehör zu verschaffen, aber etwas befremdlich wirkt das dennoch. Und das Servicepersonal ist zwar effizient, aber ziemlich distanziert und fast schon roboterartig. Freundlich ist anders.
Eine kleine Löffeldegustation folgt. Man findet dort in einem Rosenkohlblatt eine Creme aus gerösteten Sonnenblumenkernen, dazu eine Miesmuschel und etwas Weißkohl. Die Kombination bietet nicht nur ein hervorragendes Texturspiel, sondern schmeckt nach Meer und seltsamerweise auch ein wenig nach Schokolade, was ich der Sonnenblumenkerncreme zuschreibe. Das ist zwar etwas bizarr, aber in Summe doch wohlschmeckend und einfallsreich.
Der nächste Gang ist ein Süppchen mit Steckrüben, Kalbssud und gepufftem Weizen. Das ist herzhaft, knusprig, originell und sehr gut.
Doch Nilsson verliert sich nicht in weiteren Süppchen und Löffeldegustationen. Jetzt wird es ernst. Für den nächsten Gang kommen der Holzbock und eine Säge zum Einsatz. Ich befürchte Schlimmes.
Doch wider meiner Erwartung muss sich kein Freiwilliger melden. Stattdessen bringt ein weiterer Koch einen ziemlich großen Rinderknochen herbei, der dann von Nilsson in einem Aufsehen erregenden Akt zersägt wird. In den fragenden Blicken der Gäste – so auch bei mir – findet man überwiegend Skepsis. Aber das Ziel ist klar: Knochenmark für den nächsten Gang.
In einem kleinen, tiefen Teller findet man dann wenig später ein Ensemble aus rohen Rinderherzwürfeln, Rüben und dem frisch gewonnenen Mark, das irgendwie daruntergemischt wurde. Kurzum: Das ist nichts für mich und hat mit Kochen in etwa so viel zu tun wie Holzfällen mit Orchideenzüchten. Dass ich den Teller fast unangetastet stehen lasse interessiert hier ohnehin niemanden. Viel Lärm um nichts.
Genießbar ist dann wieder der Hauptgang, der ein hervorragend gereiftes Stück Rind zum Thema hat. Und obwohl der wuchernde Fettrand Assoziationen zu einem Tumor zulässt, ist er zumindest eine Probegabel wert. Dazu gibt es Bete- und Kohlgemüse. Das ist zwar durchaus gut, aber auch nicht das letzte Wort in Sachen Fleisch.
Ein erfrischendes Blaubeereis und ein Snack mit Johannisbeeren markieren den Übergang zu den Desserts.
Eine seltsame Komposition mit einem wachsweich gekochten Ei überzeugt an dieser Stelle leider ebenso wenig wie ein Teller mit Rote-Bete-Quark und Essig. Desserts, die nicht einmal im Ansatz süß sind, sind eben keine Desserts. Aber was sind sie dann?
Als überraschender Kontrast bildet den Abschluss des Menüs eine dann endlich auch mal süße Kreation mit Himbeere und Sahne. Es geht also doch! Ein herrliches, luftig-cremiges Dessert – und an diesem Abend die erste Speise, die ich gerne noch einmal gegessen hätte.
Während ich den Rest der exzellenten Weinbegleitung in Form eines Rieslings von Emerich Schönleber (Details nicht notiert) im Glas schwenke, wird mir die Frage gestellt, ob es unten im Vorraum noch ein Kaffee sein darf. Ich lehne dankend ab, möchte noch etwas am Tisch verweilen. Doch die Aufführung sieht vor, dass die Gäste jetzt nach unten gehen – dies wird einem unmissverständlich mitgeteilt. Das Wort downstairs fälltmehrfach.
So lasse ich mich noch zu einem Kräutertee und einigen Mignardises verleiten. Ein interessanter Plausch mit dem sympathischen Nilsson ist auch noch mit drin.
Recht früh, gegen halb elf, – es ging alles recht schnell – geht es dann zurück aufs Zimmer, wo ich die Eindrücke auf mich wirken lasse. Je länger sie wirken, umso deutlicher wird mein Fazit. Das „Erlebnis Fäviken“ ist durchaus beeindruckend und reizvoll. Die exotische Umgebung des Hauses macht einen nicht unerheblichen Teil davon aus. Wenn es jedoch um die Küche geht, muss ich erneut feststellen, dass der brachiale Produktpurismus zu häufig auf Kosten des Genusses geht. Das war auch bei meinen Besuchen im stilverwandten Noma der Fall.
Doch in Zeiten, in denen mich zu Hause – gastronomisch gesehen – vielerorts Hilflosigkeit und Nachahmertum erwartet, war dieser Besuch überaus erfrischend.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Fäviken Magasinet (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Magnus Nilsson |
Ort: | Järpen, Schweden |
Datum dieses Besuchs: | 07.02.2013 |
Meine Bewertung dieses Essens |