Chef’s Table at Brooklyn Fare – Genialität und Wahnsinn
Als der Guide Michelin im Herbst letzten Jahres die neue Auflage für New York City veröffentlichte, staunte ich nicht schlecht. Da erhielt ein Restaurant sagenhafte drei Sterne, das sich mit lauter Anomalien schmückt. Es ist Teil eines Supermarkts; es befindet sich nicht in Manhattan, sondern im wenig glamourösen Brooklyn; die Gäste sitzen an einem Tresen; es gab zu diesem Zeitpunkt nicht einmal eine Alkohollizenz; und ein aus Mexiko stammender, angeblich exzentrischer Koch serviert hier an fünf Abenden in der Woche genau achtzehn Gästen eine Folge von Speisen – ohne Karte und ohne Kompromisse. Der Michelin bedauert, „nur drei Sterne zur Verfügung zu haben“. Das ist wirklich abgedruckt, auf Seite 423. So etwas Überschwängliches ist dem seriösen Guide bis dahin auch noch nie rausgerutscht.
Also nichts wie hin in das zurzeit begehrteste Restaurant New Yorks.
Reservierungen sind nur telefonisch und, landestypisch, nur zu einer genauen Uhrzeit zu bekommen. Nanosekunden entscheiden über Glück oder Misserfolg, der dann heißt: nächste Woche erneut versuchen. Wer bis 10:00:01 Uhr Ortszeit nicht durchgekommen ist, kann es gleich vergessen. Der drei Sterne wegen ist dieser Wählmarathon in kürzester Zeit zu einem globalen Wettbewerb mutiert. Reservierungen im ehemaligen El Bulli oder im Noma sind dagegen wie Terminvereinbarungen beim Hausarzt.
Diese Situation ist für jemanden von overseas natürlich besonders frustrierend, da Flexibilität und Geduld hier die Tugenden der Wahl sind. Tugenden, die einem normalerweise bei der Planung einer Transatlantikreise selten zur Verfügung stehen. Von einem unflexiblen Flugticket und einem Hotel mit langen Stornofristen ist also bei dem Vorhaben, hier zu dinieren, dringend abzuraten. Doch das Glück war nach einigen Mühen auf meiner Seite, und so befinde ich mich an diesem Samstagabend tatsächlich hier in Brooklyn wieder und stehe vor der Brooklyn Fare Kitchen (so der Name außen), wenige Meter neben dem dazugehörigen unprätentiösen, aber gut sortierten Supermarkt.
Doch was spartanisch klingt, ist überaus schick. Ein großer, D-förmiger Edelstahltresen steht einer langen Küchenzeile mit riesigem Molteni-Herd und hochwertigsten Gerätschaften gegenüber; an der Decke hängen dutzende blitzblanke Kupfertöpfe und -pfannen. Das Porzellan ist größtenteils von Stefanie Hering aus Berlin. Willkommen im Reich von César Ramirez.
Ich habe das Glück, den Platz am Tresen zu haben, der Ramirez am nächsten ist. So kann ich die faszinierende One-Man-Show beobachten (zzgl. dreier Helfer) und sogar einige Sätze mit dem stets hochkonzentrierten Küchenchef austauschen. Ramirez spricht sonst kaum. Wenn überhaupt, dann sehr leise. Meist hört man nur eine bescheidene Beschreibung des Gerichts, das man auf einmal vor sich stehen hat. „This is squid.“, sagt er dann zum Beispiel. „Squid with parmesan“. Wobei ich gestehen muss, keine der genauen Kreationen im Nachhinein noch abrufen zu können. Doch genau das ist Teil der Idee. Man soll das Erlebnis abspeichern und keine Zutatenlisten. Deshalb sind Notizen und Fotos in dieser intimen Umgebung auch strikt verboten – das steht bereits in der Reservierungsbestätigung, allerdings etwas freundlicher. Im Internet kursieren wirre Geschichten über einen geradezu psychopatischen Ramirez, der Gäste bedroht und gedemütigt haben soll, die nur ein Erinnerungsfoto machen wollten. Doch von einigen verdeckten Bemühungen wollte ich mich dennoch nicht abhalten lassen. Ich hoffe, meine werten Leser wissen diesen riskanten Einsatz an der Front zu schätzen.
Irgendwann – ungefragt und aus heiterem Himmel – erklärt mir Ramirez: „When I think about creating a dish, I think about what I can remove.“ und unterstreicht damit seine reduzierte, produktfokussierte Küche. Und weiter: „I don’t cook local. I use the best ingredients I can find, like fish from Japan“. Und noch: „I don’t use red meat. I think meat cannot reach the quality of fish“, womit er aus meiner Sicht vollkommen Recht hat.
Es sind mindestens zwanzig Tellerchen, die einem im Laufe des Abends serviert werden ($225 zzgl. Steuern und 20 % gratuity). Es ist ein Schauspiel, das ständig die Seiten wechselt. Während Ramirez seinen schöpferischen Tätigkeiten nachgeht, schauen ihm die Gäste fasziniert dabei zu. Frustrierend ist, dass man trotz genauer Beobachtung nie versteht, woher die Gerichte „wirklich“ kommen, die einem serviert werden. Wie bei einem Illusionskünstler. Dann wird serviert, und Ramirez wird zum Beobachter. Es sind die einzigen Momente, in denen Ramirez nur dasteht und guckt. Er spürt genau, wer hier nur isst, oder wer sich wirklich von Ramirez‘ Kreationen verzaubern lassen kann. Letztere, so wie ich, lernen – entgegen aller Geschichten – einen fast schüchternen, reservierten und gewissenhaften Küchenchef kennen, der seinen Gästen einfach nur das beste Essen servierten möchte, das er zubereiten kann.
Nahezu alle Gerichte sind großartig und scheinen nicht von dieser Welt. Kleine Portionen, wenige Zutaten, eine unglaubliche Harmonie, und Produktfrische, wie ich sie zuvor kaum kannte, ziehen sich von Gericht zu Gericht. Die immense Vielfalt und die auf Meeresküche fokussierte, aber nicht beschränkte, Produktauswahl wäre entfernt mit Sergio Herman oder Christian Bau vergleichbar, doch Ramirez‘ Gerichte sind viel kleiner, kompakter, erheblich weniger komplex und durch diese frappierende Klarheit noch überwältigender.
Es gibt Auster; Makrele; Kabeljau; Fische aller Art, deren Namen ich entweder nicht kenne, nicht verstehe oder nicht behalten kann, viel davon aus Japan; und sogar Seeigel (der normalerweise nicht zu meinen favorisierten Zutaten gehört) ist hier ungewohnt subtil und von großer Klasse. Auch Taube (unberechtigterweise auch kein Favorit von mir) ist dabei, natürlich absolut hervorragend, und dieses Mal ohnehin nicht austauschbar; Trüffeln (weiß und schwarz) und Kaviar ebenso. Dazu stets nur wenige weitere Komponenten und oft schmeichelhafte Saucen.
Jeder Teller ist ein kleines, ausgereiftes, in sich schlüssiges und meist undenkbar zu verbesserndes Gericht, das im Restaurant vielleicht nur zwei, drei Gabeln Bestand hat, doch prägend fürs Leben ist. Eine genaue Erinnerung an die Zutaten und Machart spielt hierbei keine Rolle. Das Essen hier ist wie ein Konzert, das in seiner Gänze Spuren hinterlässt – ohne dass man die einzelnen Töne kennt.
Und genau dies ist die Erfahrung, die Ramirez seinen Gästen vermitteln möchte. Wer sich darauf einlässt, wird hier Großartiges erleben. Und das mit dem vierten Stern ist keine schlechte Idee. Das Restaurant wäre dann keine „Reise wert“, sondern es „verpflichtet zu einer Reise“. Dem kann ich ohne weiteres zustimmen.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Chef’s Table at Brooklyn Fare (→ Website) |
Chef de Cuisine: | César Ramirez |
Ort: | New York City, USA |
Datum dieses Besuchs: | 27.01.2012 |
Guide Michelin (NYC 2012): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |