Per Se – New York’s Finest Dining, Pt. II
Es ist Samstagmittag, und ich sitze in der gemütlichen Lobby meines Lieblingshotels in New York. Doch so richtig entspannt bin ich nicht. Ich warte auf einen Anruf aus dem wohl bekanntesten aller Gastro-Tempel dieser Stadt, bei dem ich für heute Mittag auf der Warteliste stehe. Im Per Se stand ich bereits bei einigen New-York-Reisen auf der Warteliste und bekam auch jedes Mal kurz vorher eine telefonische Zusage, doch in Anspruch genommen hatte ich dieses Angebot dann nie.
Heute kommt kein Anruf.
Leicht pikiert und unwillig, mein Schicksal kampflos zu akzeptieren, mache ich mich mit dem Taxi dennoch auf den Weg zum Columbus Circle – allein, denn mein werter Freund, der mich begleitet, möchte am fünften Tag dieses Sternemarathons zumindest heute beim Mittagessen etwas kürzertreten. Ich hingegen könnte schon wieder ein Degustationsmenü vertragen; das Frühstück fiel mit einem Croissant nicht besonders üppig aus.
Zwanzig Minuten später stehe ich schließlich vor der großen Tür im fünften Stock des Time Warner Center.
Ich hole kurz tief Luft, trete ein, und trage der attraktiven jungen Dame am Empfang mein Anliegen vor. Sie verschwindet kurz, hält Rücksprache und kommt wieder. „We normally don’t do walk-ins…“, beginnt sie. Meine Anspannung weicht. „Normally“ impliziert eine Ausnahme von der Norm. Darüber hinaus bin ich ja auch nicht normal. „… but we are very pleased to have a table ready for you!“. Das Mittagessen kann beginnen.
Der Saal ist imposant, man kann von jedem Tisch aus den Central Park überblicken. Die Tische in der „zweiten Reihe“ befinden sich dafür eigens auf einem kleinen Podest. Die Aussicht ist überwältigend.
Eigentlich sind meine Erwartungen nicht allzu groß. Thomas Keller ist zwar nach wie vor Amerikas berühmtester und am meisten lobgepriesener Küchenchef, doch seine Küche in der kalifornischen French Laundry empfand ich damals als etwas zu routiniert und auch ein wenig mutlos – abgesehen von der typisch amerikanischen Hast durchs Menü. So wäre ich zwar durchaus enttäuscht, aber nicht überrascht, ergäben die nächsten Stunden hier ein ähnliches Bild.
Ich werde genussvoll eines Besseren belehrt.
Wie auch im kalifornischen Schwesterrestaurant zieren den Beginn des Menüs im Per Se einige Gougères und das legendäre Salmon Cornet, das auch hier mit einem Ensemble von dekadent reichhaltigem Lachs, Crème Fraîche und roten Zwiebeln einfach herrlich schmeckt. Ein Glas Champagner rundet diesen gelungenen Einstieg ab. Immer wieder schweift mein Blick durch die Fenster auf den südlichen Teil des Central Parks.
Das Chef’s Tasting Menu ($295) beginnt dann mit einem „Linsensüppchen“, oder vielmehr einer Velouté de Lentilles de Puy mit schwarzen Wintertrüffeln. Es ist wunderbar. Cremig, süffig, intensiv aromatisch und kaum weiter zu perfektionieren.
Über „Oysters and Pearls“ muss man nur wenige Worte verlieren, handelt es sich schlichtweg um einen zu Recht zeitlosen Klassiker Thomas Kellers. Eine großzügige Portion nussigen Kaviars sowie leicht gegarte Austern gehen eine geschmacklich perfekte Symbiose mit der „Sabayon of Pearl Tapioca“ ein. Das kleine Gericht begeistert restlos.
Und wenn man glaubt, es ginge nicht besser, kommt ein MaineSweet Shrimp Tartare daher, mit einem Sake-Sorbet(!), knusprigem Quinoa, Grapefruit-Confit und Basilikum. Es schmeckt herrlich frisch, nach Vogelgezwitscher an einem Frühlingsmorgen. Das klingt kitschig, ist jedoch herausragend und aufwühlend. Absolutes Essensglück in wenigen Kubikzentimetern.
Peekytoe Crab „En Gelée“ – geliertes Krebsfleisch mit Radieschen (deren fast lila Schale nicht intensiver leuchten könnte!), Sellerie und Erbsenkraut, dazu krosse Chips mit etwas Kreuzkümmel – ist eine leichte, subtile Kreation, der es jedoch etwas an aromatischer Tiefe fehlt. Dennoch sehr gut und auch optisch bezaubernd.
Der Rest des Menüs gestaltet sich dann als eine völlig überwältigende Abfolge geschmacklicher Perfektion, die ich so noch nicht erlebt habe und dieses Mittagessen zu einem der nachhaltigsten und prägendsten kulinarischen Erlebnisse für mich macht.
Den Anfang dieser Reise macht die in einer Eierschale servierte White Truffle Oil infused Custard, die zusätzlich mit einem Ragout von schwarzen Wintertrüffeln getoppt ist, das eine fast honigartige Konsistenz aufweist und dekadent an dem „Gebäckspatel“ hängen bleibt. Einfach grandios.
Der Salad of Bitter Winter Greens mit hartgekochtem Ei, eingelegter Topinambur und einer greek bottarga emulsion lässt mich gedanklich in Frankreich-Urlaube entschwinden. Meer, Sonne (trotz des „Winter“ im Titel), Salade Niçoise… Träumerisch und perfekt.
Das Sauteed Fillet of Atlantic Cod mit Applewood Smoked Bacon „en Feuille de Bric“, Pickled Sweet Onions and Broccoli Puréeverblüfft mit einer grandiosen Produktqualität und dem souveränen Einsatz scheinbar simpler Zutaten wie Zwiebel, Lauch und Brokkoli. Pur, mediterran, schnörkellos, herrlich.
Der Hummer – Butter Poached Nova Scotia Lobster –, der mit neuen Kartoffeln, französischen Radieschen und einer Erbsen-Velouté (pea shot velouté) serviert wird, ist ebenfalls ein kleines Meisterwerk. Die – stets passende – Kombination von Krustentier und Erbse ist hier die gelungenste, die ich je verkostet habe. Frisch, „grün“ und unfassbar gut! Und dieser Hummer…!
Ein Pastagericht, das man kaum besser machen kann, präsentiert sich dann in Form von Mascarpone Enriched Cauliflower „Agnolotti“ mit Brokkoli-Püree, Brioche-Croutons, Pinienkernen und einer Nasturtium Caper Brown Butter. Zum Reinlegen.
Ein Fleischgang folgt. Snake River Farms „Calotte de Bœuf“ mit Artichaux Farçi aux Plat de Côte, Garlic Confit, Glazed Sweet Carrots and Sauce Bordelaise ist hervorragend. Der Teller besticht durch Fleisch von bester Qualität, mit einer verführerisch dünnen Kruste und in bester Garung, einem unscheinbaren, aber phänomenalen Artischockenherz (gefüllt mit Geschmortem) – und viel Butter. Ein denkwürdiges Fleischgericht der Superlative.
Und die Großartigkeit will nicht abreißen. Hinter dem Namen „Seven Sisters“ verbirgt sich Toasted „pain perdu“, San Marzano Tomato Marmelade, Petite Lettuces and Cornichon „Ravigote“. Einer Art „Armen Ritters“ wird hier durch die frischen, säure- und fruchtbetonten Mietspieler nahezu alle Opulenz genommen und verwandelt dieses kohlenhydratige Schwergewicht in eine geradezu elegante Kreation von üppigem Wohlgeschmack. Schwelgerisch gut.Und obwohl das Restaurant nichts mehr unternehmen muss, um als „wirklich großartig“ in Erinnerung zu bleiben, wird noch ein Zahn zugelegt. Und zwar bei einem Gang, bei dem ich es wirklich nicht vermutet hätte: einem Sorbet.
Ob dies wirklich die beste Speise ist, die ich je gegessen habe, will ich offen lassen, aber es steht so in meinen Notizen. Das Coconut Sorbet mit marinierter Ananas, young coconut water und Ananaschips ist beinahe psychotrop. Blitzartig entfliehe ich mit jedem Löffel in eine andere Welt – ein Parfumgeschäft; prächtige Lavendelfelder in der Provence; Rosengärten; eine Bäckerei; Apfelkuchen; kühler Marmor in einem Schatten spendenden Haus im Sommer. Ich kann es nicht fassen, mache kurze Pausen – und koste erneut. Was passiert hier bloß?
Da sitze ich hier alleine an diesem großen Tisch in dieser großen Stadt, löffle eine schaumig-cremige Masse aus einem etwas biederen Glasgefäß, und mir kommen die Tränen. Diese Stadt, dieser Moment des Genusses, alles kommt zusammen. Wenn Essen so etwas kann, ist das überwältigend.
Ob es „gut“ war, fragt die Dame, die das ausgelöffelte Glas wieder abräumt, was ich aufgrund ihrer Untertreibung verneine, aber keine verständliche Erklärung für sie parat habe. Ich korrigiere schnell – „sehr gut, außergewöhnlich!“ –, doch was wirklich hinter diesen Floskeln steckt, die sie vermutlich hunderte Mal am Tage hört, vermag ich ihr nicht zu erklären.
Wieder in der Realität angelangt folgt mit ausreichendem Abstand (keine Spur von Hast hier!) Salted Chocolate Peanuts. Ein Dessert aus dem Bilderbuch, das jegliche Lust auf Süßes vollends befriedigt. Schokolade, Karamell, Erdnüsse, Nougat, Eis – ein Traum in Braun!
Auch die Pralinen zum Cappuccino semifreddo lassen keine Wünsche offen.
Was soll ich sagen? Ich bin aufgewühlt, begeistert und fühle mich geradezu überrumpelt – im positiven Sinn. Denn so perfektioniert und routiniert die Küche Thomas Kellers auch sein mag, ist sie – zumindest heute und für mich – genau das: perfekt.
Gegen fünfzehn Uhr verlasse ich glücklich das Per Se, um in genau fünf Stunden wieder hier zu sein. Nebenan, im Masa.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Per Se (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Thomas Keller |
Ort: | New York City, USA |
Datum dieses Besuchs: | 28.01.2012 |
Guide Michelin (NYC 2012): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |