reinstoff – Absinth, Seetrauben und ein Waldspaziergang
Eher aus Spaß frage ich nach, wie viele Kugeln es sind, die da an der Decke hängen – ohne eine korrekte Antwort zu erwarten. Doch Ivo Ebert weiß es ganz genau; es sind zweihundertvierzig, er hat sie selber aufgehängt. Auch sonst wird hier im „reinstoff“ nichts dem Zufall überlassen. Restaurantleiter und Sommelier Ebert, administrative Kraft Sabine Demel und Küchenchef Daniel Achilles – allesamt ehemalige Mitarbeiter bei Juan Amador – haben dieses urbane, kulinarische Refugium in Berlin-Mitte akribisch geplant (der Businessplan gewann sogar einen Wettbewerb) und 2008 dann schließlich ins Leben gerufen.
Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten und gipfelt im November dieses Jahres im Erhalt eines zweiten Michelin-Sterns, zu dem ich herzlich gratuliere! Am heutigen Samstagabend meines Besuchs ist jedoch noch Oktober, und die neuen stellaren Weihen noch nicht in Sicht. Es ist der vierte und letzte Besuch meiner kurzen Hauptstadtreise, und Seeteufel, Hummer und Ferkel vom Mittag sind auch schon wieder verstoffwechselt und leben als Erinnerung weiter.
Die Speisekarte im reinstoff bietet zwei Menüs, „ganz nah“ (vorwiegend mit Erzeugnissen aus der Umgebung) sowie „weiter draußen“, auf das meine Wahl fällt (8 Gänge, € 129).
Einige Amuse-Bouches werden serviert. Meeresblatt und Bergamotte (das erfrischende Blatt der Austernpflanze ist mir zum ersten Mal bei Thomas Bühner begegnet), Waldkräuter-Eistee, Tandoori-Haut und Gänseleber sowie Weiße Bohne und Kebab-Gewürz. Die Gänseleber mit krosser Hühnerhaut ist gut, der Rest passabel.
Weiter geht’s mit einer als Finger-Snack konzipierten gebeizten Makrele, die mir sehr gut gefällt und vieles gleichzeitig ist: süßlich, säuerlich, herzhaft und reichhaltig.
Das eigentliche Menü beginnt mit einem Ausrutscher. Der sehr hübsch präsentierte Hummer mit Seetrauben und Rübe ist zwar eine Augenweide und bietet viel zu entdecken (unter anderem eine mir noch nie begegnete Algenart, die an Miniaturweintrauben erinnert), doch geschmacklich kann das Gericht nicht mithalten. „Matt, neutral, wässrig“ beschreiben meine Eindrücke hiervon leider am treffendsten.
Wirklich gut dagegen ist Kartoffelernte, Butterschmalz „noisette“ und Ziegenmolke vom Vulkanhof. Der Protagonist Kartoffel wird hier hervorragend in Szene gesetzt (gegart, frittiert, püriert) und mit einer aromatisch gehaltvollen, aber dennoch leichten, Buttersauce serviert. Das Gericht bringt das klassische Geschmacksbild von Kartoffeln mit zerlassener Butter und Salz auf den Punkt, nur weiter verfeinert. Das ist moderne, regionale Küche auf hohem Niveau.
Ebenfalls sehr gut sind die Weinbergschnecken, Champignons de Paris, Hirse und Weizengras. Das Gericht will erkundet werden, und belohnt den Neugierigen dann mit einem vielschichtigen sensorischen und aromatischen Erlebnis, das an einen Waldspaziergang erinnert. Texturell bietet das Gericht alles – vom Jus über das cremige Getreide, den Champignons bis zu den bissfesten Schnecken und einem krossen Chip. Aromatisch schmeichelt die Kreation mit einem erdig-kräuterigen Jus, ätherisch-frische Pilzaromen und einer feinen, keinesfalls aufdringlichen, Knoblauch-Schärfe. Sehr gut.
Einen Gang zurück schaltet das Menü mit Buntes Bentheimer Schwein, Eisberg, French Dressing und Lotuswurzel. Der (unkonventionelle) Eisbergsalat fällt hier zwar eher positiv auf, doch weder der getrockneten Lotuswurzel noch, vor allem, dem geschmorten Fleisch kann ich in diesem Fall viel abgewinnen.
Ein Zwischenruf sei an dieser Stelle ausdrücklich dem Service gewidmet, der entspannt, freundlich, kompetent und unaufdringlich ist.
Die Wahl des Bestecks sollte dagegen dringend überdacht werden. Es ist zu schmal, zu kurz und bohrt sich mit seinen spitzen Kanten gerne in die Handinnenflächen. Außer einem Designanspruch erfüllt es damit keine der von einem Besteck gewünschten Eigenschaften (ähnlich übrigens, wie die friemelig-dürren Bestecke in Gerald Zogbaums Küchenwerkstatt, die nur nicht ganz so schmerzhaft sind).
Vor dem offiziellen Hauptgang wird ein einfallsreicher Zwischengang eingeschoben: Mandarine, Fencheldolde und Absinth. Eine Komposition, die berauschend mit den ätherischen Aromen von Zitrusfrucht, Fenchel, Anis und Wermut spielt. Sehr stimmig und angenehm erfrischend.
Es folgt der in der Karte fettgedruckte Hauptgang Dänischer Steinbutt, Maronen, Douglasie und Lauch mit einem eher mittelprächtigen Steinbutt und einem interessanteren Jus von der Douglastanne. Manchmal ist der Weg eben besser als das Ziel.
Den Abschluss des Menüs bilden dann der Käsegang Fourme de Montbrison AOC, Süßpaprika und Feigen, welcher zum Käse gut passende Komponenten aneinanderreiht; sowie einige Mignardises,Darjeeling und Blüten; Kakao und Idianerreis; Honigecke und Kirsche.
Von allen vier Restaurantbesuchen meiner aktuellen Berlinreise (Facil, Fischers Fritz, Tim Raue) lässt mich dieser Abend im reinstoff zwar mit dem vergleichsweise geringsten Enthusiasmus zurück, doch ganz gewiss nicht ohne Genusserlebnisse.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | reinstoff (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Daniel Achilles |
Ort: | Berlin, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 22.10.2011 |
Guide Michelin (D 2011): | * |
Meine Bewertung dieses Essens |