Noma – nordisch by nature
Es ist schon fast Mitternacht, als ich das Noma verlasse, viereinhalb Stunden nach meiner Ankunft in dem Restaurant, über das alle Welt gerade redet — das „beste Restaurant der Welt“. Ich benötige zunächst eine ganze Weile, um mir selbst darüber klar zu werden, wie ich diesen Restaurantbesuch bewerten soll. Und auch nachdem die großen Weine dieses Abends ihre emsige Arbeit in meinem Kopf beendet haben, sehe ich noch immer nicht klarer.
Dabei ist es jedoch von vornherein keine Frage von gut oder weniger gut, sondern lediglich die Frage nach dem Ausmaß von gut, und zwar ganz weit oben auf dieser Skala.
Wie so häufig, ist jedoch auch bei diesem Denkprozess der Weg das Ziel. So kaue ich an den folgenden Tagen rastlos auf meinen eindrucksvollen Eindrücken herum, und gelange schließlich zu der Erkenntnis, dass allein dies schon eine herausragende Leistung für ein Restaurant ist. Einen Gast so lange nach dem Besuch noch intellektuell zu fordern, gehört ganz sicher zu den bemerkenswertesten Fähigkeiten eines Küchenchefs und seines Teams.
Doch lässt sich die Großartigkeit eines Restaurants natürlich nicht allein damit rechtfertigen, dass man lange darüber nachdenkt. Die entscheidende Frage ist, worüber man so lange nachdenkt.
Ich für meinen Teil denke zunächst an den Gesamteindruck, den das Noma bei mir hinterlassen hat. Dieser ist absolut großartig. Mehr als das: noch nie zuvor hat mir ein Restaurantbesuch derart viel Vergnügen bereitet.
Für diese Empfindung gibt es mehrere Gründe, die bereits bei dem charmanten Hafenviertel beginnen, in dem das Noma sich in einem ehemaligen Warenspeicher niedergelassen hat, dem die Gezeiten ganz schön zugesetzt haben. Auch das schlichte, dänisch designte Interieur mit (natürlich absichtlich) nicht mehr ganz so weißen Deckenbalken und der offenen Küche erzeugen von Beginn an eine selten erlebte Wohlfühlatmosphäre (abgesehen von der Hitze an diesem Abend, die sich jedoch nach dem ersten Glas Champagner Marie-Courtin Extra Brut (€ 20*) schon etwas besser aushalten lässt).
Dann das junge, kosmopolitische Service-Team, von denen jeder Einzelne die perfekte Balance zwischen unverkrampfter Natürlichkeit und absoluter Professionalität und Effizienz beherrscht. Jeder von ihnen schafft es, genau zu erkennen, wie weit sich der Gast dem Personal nähern möchte und geht entsprechend darauf ein. (Ich finde nichts ernüchternder als Restaurantpersonal, das nicht auf eine vom Gast vorgelebte Lockerheit auf Grund vermeintlicher Professionalität einzugehen weiß.) So ist es im Noma ohne weiteres möglich, mit dem Personal lebhafte, gar freundschaftliche Konversationen zu führen. Fast hätte ich einige von ihnen mit an den Tisch gebeten. Wohlbemerkt beruhte diese Nähe auf meiner Bereitschaft und wurde nicht etwa vom Personal in diese Richtung forciert. Wer in diesen Räumlichkeiten von derlei Frivolitäten Abstand nehmen möchte, kann dies allerdings auch tun.
Und natürlich dann das Essen.
Es ist gut, sehr gut sogar; völlig neuartig, aber nicht bloß deswegen gut. Die Kreationen von René Redzepi sind verblüffend visionär und dennoch sehr nah am Gast. Redzepi hat sich zu seiner nordischen Heimat verpflichtet wie Ferran Adrià zu seinen katalanischen Wurzeln. Es gibt keine Kompromisse. Olivenöl und Tahitivanille? Fehlanzeige. Wagyu-Beef und Fleur de Sel? Kommt hier nicht in die Pfanne. Bretonische Butter? Wozu, wenn man die Milch einheimischer Kühe auch selbst schlagen kann.
Und was bringt dem Gast nun diese nordische Besessenheit auf den Teller? Auf dem zwölfgängigen Menü (€ 186), das ich wähle (die einzige Frage, die einem im Noma hinsichtlich des Essens gestellt wird ist die nach der Anzahl an Gängen; bis zu zwölf können gewählt werden, eine Karte wird nicht gereicht), stehen Zutaten wie Sanddorn, Estragon, Seehase, schwedische Trüffeln, violette Karotten, Wacholder, Rosenblätter, Fenchelsamen, Sommerwild, Pfifferlinge, Buttermilch.
Mit all diesen lokalen Zutaten und einer ordentlichen Prise Mut und Genialität orchestriert René Redzepi eine Abfolge weitestgehend „grüner“ Gerichte mit völlig neuartigen Geschmackseindrücken. Trotz der sporadisch bemerkbaren Zuhilfenahme moderner Küchentechniken aus Adriàs Lehrstuhl will sich kein Gericht mit molekularen Trends bekleckern. Effekthascherei überlässt Redzepi lieber der alten (Avant)garde.
Die Weine an diesem Abend sind dabei zunächst ein fantastischer 2004 Puligny-Montrachet „Les Folatières“ der Domaine Leflaive (€ 256) und später ein ebenso grandioser 2002 Volnay „Santenots du Milieu“ von der Domaine des Comtes Lafon (€ 180), die neben ihren gefeierten Meursaults eben auch diesen fabelhaften Volnay erzeugen.
Die kulinarische Reise beginnt. (Ich beschreibe nicht alle Gerichte im Detail – die Vielfalt ist hierfür einfach zu groß.)
Sea-buckthorn leather and pickled hip roses (Meer-Kreuzdorn-"Leder" und eingelegte Heckenrosen). Dieses Amuse-bouche wird mit den Fingern im Ganzen verspeist. Die Rosenblätter werden ein Jahr lang eingelegt, um ihnen ein besonderes Aroma zu verleihen.
Der Snack ist besonders von seinen Texturen und dem intensiven Geschmack sehr beeindruckend und erinnert mich geschmacklich ein wenig an Quittengelee, nur viel feiner. Ein überraschender, sehr guter Auftakt.
Cookie with lardo and currant (Keks mit Lardo und Johannisbeer)
Rye bread, chicken skin, lumpfish roe and smoked cheese (Roggenbrot, Hähnchenhaut, Rogen vom Seehasen and geräucherter Käse).
Die Teller werden jetzt mittlerweile in hohem Tempo gewechselt. Die Geschwindigkeit stört hier jedoch überhaupt nicht; im Gegenteil, sie ist beruhigend, als wolle sie sagen: "Das hier ist alles Kleinkram, darüber musst du noch nicht ernsthaft nachdenken. Die wirklich guten Sachen kommen alle noch". Wie schön, dass dieser "Kleinkram" schon so raffiniert ist!
Smoked and pickled quail egg (Geräuchertes und eingelegtes Wachtelei).
Kaum öffnet man die eiförmige „Umverpackung“, bietet allein der aufsteigende Dampf bereits ein visuelles und olfaktorisches Spektakel. Der Sinn dieser Darbietung erschließt sich umgehend: der Dampf, der nach Lagerfeuer und gesengtem Stroh riecht/duftet (je nach Empfindung), umhüllt die Wachteleier bis zum Moment des Öffnens durch den Gast. Auf diese Weise kann das Räucheraroma seine volle Wirkung ausspielen, man isst den Dampf quasi atmend mit. Der für die Geschmacksempfindung wichtigste Sinn, der Geruchssinn, wird auf diese Art spielerisch hervorgehoben. Das Wachtelei selbst ist genau auf den Punkt gegart und schmeckt interessant rauchig-würzig.
Radish, soil and herbs (Radieschen, Erde und Kräuter).
Alles bei diesem signature dish ist genießbar, bis auf den Topf. In diesem befinden sich eine estragonbasierte Kräutercreme, die mit dunklen, mit Malz zubereiteten Krumen bedeckt ist und so den Eindruck von Erde vermittelt. In dieser "Erde" stecken dann Radieschen mit "Haut und Haar".
Dies ist eines der ersten Gerichte, die verdeutlichen, dass Rezepi den Gast so nah wie möglich an das Produkt und die Natur bringen möchte; häufig eben im wahrsten Sinn. Als Vorreiter dieses Konzepts wäre hier sicherlich auch Michel Bras zu nennen, dessen Restaurant in Laguiole ich jedoch noch nicht besucht habe.
Toast, herbs, smoked cod roe and vinegar (Toast, Kräuter, geräucherter Dorschrogen und Essig).
Dieses „Kräutergesteck“ ist nicht nur ein wahres Kunstwerk, sondern eines der besten Gerichte an diesem Abend, auch wenn es nur ein kleiner Snack ist. Die Vielfalt und Harmonie der Kräuter erzeugen ein unglaubliches Geschmackserlebnis. Frisch, würzig, ganz leicht säuerlich, das Salzige vom Rogen, dann wieder die Süße vom Toast — fantastisch. Einer der Köche erklärt mir später, dass dies eine der aufwändigsten Präparationen ist und hohe Fingerfertigkeit erfordert: jeder einzelne Halm und jedes Kraut werden jeweils einzeln in eines der kleinen Fischeier gesteckt, die sich (auch auf dem Foto) kaum erkennbar auf dem Toast befinden. Großartig!
Brot.
Das Brot ist hervorragend, natürlich selbst gebacken aus lokalen Erzeugnissen. Auch die Butter stammt von Kühen aus der Umgebung und wird hier im Noma selbst geschlagen. Man benötigt keine vielfältige Brotauswahl, wenn eines schon so gut ist wie dieses.
Beetroots and sorrel, malt flat bread (Rote Bete und Sauerampfer, Malz-Fladenbrot), danach Razor clam and parsley, horseradish and dill (Schwertmuschel und Petersilie, Meerrettich und Dill).
Die rohe Schwertmuschel, umhüllt mit einer Art Petersiliengelee schmeckt wunderbar frisch nach Meer. Der Meerrettich wurde offenbar schockgefroren und dann pulverisiert und fügt sowohl eine angenehme Schärfe als auch, durch die Kälte, einen spielerischen Kontrast hinzu. Die Kombination mit der Dillsauce unterstreicht die Frische.
Tatar and sorrel, tarragon and juniper (Tatar und Sauerampfer, Estragon und Wacholder).
Endlich Fleisch! Und man darf (muss) es sogar mit den Fingern essen – das befriedigt gleich doppelt. Das Tatar ist mit Kräutern bedeckt, mit denen man das Fleisch "festhält" und dann durch die Sauce zieht und zum Mund führt. Schmeckt hervorragend.
Langoustine and söl, parsley and seawater (Kaisergranat und Söl(?), Petersilie und Meerwasser).
Diese Langustine ist ein nordisches Prachtexemplar, so breit wie ein Daumen und perfekt gegart für diesen Frischegrad, nämlich fast roh. Auch hierfür wird kein Besteck benötigt, man nimmt die Langustine und nimmt etwas von dem Dip auf, der mir jedoch etwas zu salzig ist.
New potato and milkskin, stems and lovage (Neue Kartoffeln und Milchhaut, Stängel und Liebstöckel).
Dieses Gericht ist fast ausschließlich mit unterschiedlichen Teilen der Kartoffeln zubereitet. Die Sauce, auf Kartoffelfondbasis, wird separat angegossen. Das Gericht ist sehr gut und ungemein kreativ, jedoch Geschmacklich nicht überragend; etwas fad.
Violet Carrot and truffle from Gotland (Lila Karotten und Trüffel aus Gotland (Schweden)).
Die violetten Karotten wurden bereits zu Beginn des Essens präsentiert (Bild li.), als handele es sich um einen Braten. Die Karotten werden über einen lägneren Zeitraum mit vielen Aromaten (Thymian, andere Kräuter und Blüten) gegart und später, mit ihren Blättern sowie einer Trüffelsauce serviert.
Kingcrab and mussels, leeks and ashes (Königskrabbe und Miesmuschel, Lauch und Asche).
Eine hervorragende Kombination unterscheidlichster Aromen und Texturen; und über die Frische der Zutaten muss ohnehin zu keinem Zeitpunkt ein Wort verloren werden.
The hen and the egg (Die Henne und das Ei).
Ja, in der Tat, hier muss man ein Gericht sogar selbst zubereiten, aber auch hier hinter steckt natürlich wieder unverkennbar Redzepis Maxime, den Esser nah an das Produkt zu bringen und ein hervorragend schmeckendes Gericht zu entmystifizieren. Die Aussage: du benötigst nur wenige sehr gute, frische, einfache Zutaten (Heuöl, ein Ei, frische Kräuter, ein wenig nordische Blüten und eine heiße gusseiserne Pfanne) um ein tolles Gericht herzustellen. Sehr originell und hier absolut passend. Nur vor den Fettspritzern aus der Pfanne hätte man warnen können...
Summer deer and snails, forest shoots and chanterelles (Sommerwild and Schnecken, Schößlinge aus dem Wald und Pfifferlinge).
Dieser zweite "Fleischgang" ist leider nicht ganz so gut wie erhofft und mit dem Kräutergarten mir zu diesem Zeitpunkt des Menüs etwas zu sehr auf die Spitze getrieben. Jetzt, vor den Desserts, wäre noch mal etwas wirklich Herzhaftes wünschenswert gewesen. Dennoch gut.
Sheep's milk mousse, sorrel and fennel seeds (Schafsmilch-Mousse, Sauerampfer und Fenchelsamen).
Carrot and buttermilk (Karotte und Buttermilch).
Jerusalem artichoke and marjoram, apple and malt (Topinambur und Majoran, Apfel und Malz).
Ein überragendes Menü. Jeder kleine Gang ist eine Hommage an die Natur – insbesondere an die Vielfalt des (nordischen) Pflanzenreichs, bei der jedoch nicht nur Vegetarier auf ihre Kosten kommen, sofern diese Spezies hier überhaupt anzutreffen ist. Zugegeben, etwas mehr Fleisch und Fisch hätte es ruhig sein können, die Rezeptoren für salzig und umami wurden zumindest an meinem Gaumen etwas zu selten aktiviert. Dafür spielt Redzepi geschickt mit säuerlichen und bitteren Aromen aus Stängeln und Blättern. Und die Dessertgänge könnten wiederum etwas mehr Süße vertragen.
Und genau hier sehe ich schließlich auch das Verbesserungspotenzial in Redzepis scheinbar unerschöpflichem Schaffensdrang. Es ist auch meine Vermutung, warum die werten Inspektoren des Guide Michelin sich beim Noma bisher mit dem dritten Stern zurückgehalten haben, obwohl dieses Restaurant wegen des Essens allein eine Reise wert ist. Dieser Auffassung waren an diesem Abend bestimmt auch die asiatischen Coche-Dury und Yquem trinkenden Herrschaften am Nachbartisch.
Im Noma zu speisen war für mich eine Offenbarung. Wenn man Ferran Adrià mit seinem El Bulli als Wegbereiter für eine neue Art der Küche versteht – eine mutige Geht-nicht-gibt’s-nicht-Küche fast ohne Tabus, die an Dogmen und Konventionen rüttelt –, und man im Gegensatz dazu jedoch jahrelang an all den Trittbrettfahrern verzweifeln musste, die durch Mangel an Verständnis und Weitblick heiße Gelees um ihrer selbst willen hergestellt, Saucen in Pipetten serviert und irgendwelche Flüssigkeiten in Kalziumbädern zu Kapseln geformt haben, musste man sich langsam fragen, ob es nicht endlich mal jemanden gibt, der das Thema „visionär“ noch einmal anders aufgreift, nämlich auf eine Art und Weise, die Gäste nicht verzweifeln lässt, sondern ihnen Freude bereitet. René Redzepi ist nun genau dieser neue Jemand. Rosige Aussichten!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Noma (→ Website) |
Chef de Cuisine: | René Redzepi |
Ort: | Kopenhagen, Dänemark |
Datum dieses Besuchs: | 03.07.2010 |
Guide Michelin (EU 2010): | ** |
Meine Bewertung dieses Essens |