Atelier Moessmer Norbert Niederkofler – Gipfelexpedition

Als jemand, der Berge eher mit einem leichten Unbehagen betrachtet und wenig für das kollektive Aktivitäts- und Vitalitätsbewusstsein in Gebirgsregionen übrig hat, bin ich nur aus einem Grund hier: um zu essen und zu trinken, und zwar keinen Quinoa-Smoothie-Bowl mit Kräutertee.

Heute bin ich im italienischen Bruneck in Südtirol. Hier hat Spitzenkoch Norbert Niederkofler sein neuestes Restaurant eröffnet, nachdem seine bisherige Wirkstätte, das Hotel St. Hubertus in St. Cassiano, für langwierige Umbaumaßnahmen geschlossen wurde.

Das neue Restaurant mit dem sperrigen Namen befindet sich auf dem Areal der Tuchfabrik Moessmer, einem renommierten Stoffproduzenten. In der großen weißen Villa wohnten einst Mitarbeiter aus den Chefetagen. Zu der ungewöhnlichen Kooperation kam es durch Zufall, erklärt mir Niederkofler, der hier im Ort wohnt.

Die architektonische Gestaltung, sowohl innen als auch außen, ist eindrucksvoll. So konnte an dem denkmalgeschützten Gebäude an sich nicht viel verändert werden, erweitert aber schon, unter der Bedingung, dass sich das Neue markant vom Bestand abhebt.

Tatsächlich könnte der Kontrast des Anbaus nicht größer sein. Schwarz, flach und vollverglast verbindet sich der Neubau mit offener Küche und breitem, umlaufendem Tresen über eine kleine »Brücke« mit dem Altbau. Dort beginnt man das Essen auch, in einem großen Zimmer mit Sesseln, Bar und einem weiteren Anrichttresen für erste Snacks.

Ein Glas Jacques Selosse »Initial« (85 €) leitet meinen Abend ein, während ich in der Weinkarte schon über die Fortsetzung nachdenke. Die Speisekarte wird auch schon gereicht. Das Menü steht unter dem von Niederkofler ins Leben gerufenen Motto »Cook The Mountain«, grammatikalisch etwas seltsam, dafür prägnant und sinnträchtig. Alles dreht sich um die Flora und Fauna der nahen Umgebung.

Die Gerichte listen jeweils nur kurz und knapp die jeweilige Hauptzutat auf. Bei einem konzeptstarken Menü wie diesem reicht das auch völlig aus. Man tritt ohnehin eine kulinarische Überraschungsreise an. Drei zusätzliche Klassiker kann man zu dem mit 320 € bepreisten Menü noch dazu bestellen; ich lasse das erst mal offen.

Die Amuse-Bouches erreichen den Tisch, als ich noch in der Weinkarte vertieft bin. Diese Situation ist in vielen Restaurants vom Ablauf her immer noch nicht optimal gelöst; immerhin reicht man aber einen Beistelltisch, damit ich die großformatige Karte kurz beiseitelegen kann. Andererseits: irgendwann muss es ja losgehen.

Es gibt vier – augenscheinlich recht teiglastige – Amuse-Bouches. Eine Tartelette mit Fichtensprossen, Kiefernöl und einer sahnigen, quicheähnlichen Füllung schmeckt ätherisch nach Nadelwald und überrascht dabei mit einer deutlichen Süße (7/10). Eine Waffel mit »Lardo« vom Zander ist recht massig und fällt geschmacklich neutral aus, trotz einer unverkennbar gewissenhaften Zubereitung (6,9/10).

Eine Art Millefeuille aus knuspriger Hühnerhaut mit Taramosalata, einer Creme aus Fischrogen, ist danach angenehm salzbetont und knusprig, mit prägnantem Hühnergeschmack. (7,5/10)

Kekse aus Polenta überraschen mit einer Füllung aus intensivem, pikantem Ziegenfrischkäse Zoncolan di Capra. Auch das ist sehr gut, folgt aber der Rustikalität, die zweifellos so gewollt ist. (7,5/10)

Inzwischen habe ich auch den »Hauptwein« ausgewählt, einen 2021er Chambolle-Musigny »Les Feusselottes« von der Domaine Georges Mugneret-Gibourg – ein rarer Fund, der mich in Verbindung mit meiner guten Laune hier im Restaurant um 630 € zurückwirft. Das entspricht fairerweise in etwa dem aktuellen Marktpreis, sofern man den Wein überhaupt findet.

Die Stimmung im Haus ist gelassen und untermalt von entspannter Jazz-Musik aus High-End-Lautsprechern.

Für den ersten Teil des Menüs geht es zunächst an den Tisch in einem Speisesaal, in dem die reduzierte Ästhetik des Interieurs fortgesetzt wird. Man könne das Mahl später am Tresen im Neubau fortsetzen, ganz wie man möchte, erklärt mir der Küchenchef persönlich nach einer kurzen Tour durch die Räumlichkeiten. Voll wirkt das Haus zu keinem Zeitpunkt, obwohl das Restaurant im Laufe des Abends gut gebucht wirkt.

Die erste Speise am Tisch ist ein Frühlingssalat mit, unter anderem, verschiedenen Kräutern, konservierten Gemüsen und Sonnenblumenkernen. Daran wird eine der Sauce Choron nachempfundenen Sauce auf Basis von Tomaten und Butter angegossen. Der Salat ist sehr aromatisch, mit lebendiger Frische und ansprechender Bitterkeit. Die umamibetonte, durchaus an ein American Dressing erinnernde Sauce bringt herzhaftes Umami und eine willkommene »Cremigkeit« ins Spiel. Das ist ganz hervorragend, nur die separat dazu servierten Dampfnudeln mit Tomatenpulver sind etwas monoton. (8,5/10)

Das Menü fährt mit einer, im weitesten Sinn, Interpretation einer Tagliata fort, in diesem Fall mit dünnen, saftigen Streifen von medium rare gegrilltem Nierenzapfen (Onglet). Das Fleisch wurde in einer Sauce aus fermentierten Linsen eingelegt und hat dadurch eine ansprechend zarte und gleichzeitig bissfeste Textur. Es ist mit einem Salat aus Gutem Heinrich bedeckt, der interessant erdig und herzhaft schmeckt. Darüber finden sich frisch gehobelte Walnusssscheiben, die eine leicht ölige Note hinzufügen. Zuletzt bringt eine erneut umamibetonte Sauce auf Basis von (kalter) Kartoffelbrühe alle Komponenten harmonisch und sehr genussreich zusammen. Das nächste Carpaccio oder die nächste Tagliata beim Italiener dürften für immer ruiniert sein. (9/10)

Als nächstes präsentiert die Küche einige hausgemachte Ingredienzen: Sauerteigbrot mit im Teig eingearbeitetem Kräuterpesto; geschlagene Butter aus dem Ahrntal; hausgemachte Bottarga von der Forelle. Das leicht würzige Brot ist sehr gut, noch etwas warm, nur werde ich auch hier kein Freund von geschlagener Butter.

Die Bottarga gelangt beim nächsten Gericht zum Einsatz. Man hobelt sie über Spaghettone des Herstellers Felicetti, die in einem Sud aus Fischkarkassen, Buttermilch und Kiefernbeeren gar gezogen wurden. Das Gericht vereint die kräftigen, erdigen Aromen der Kiefer, die spontan an Saunaaufguss erinnern, mit der delikaten Salzigkeit der hausgemachten Forellenbottarga. Eine appetitliche Säurestruktur, die von einem Essig herrühren könnte, sorgt für eine angenehme Frische und balanciert die reichen Aromen perfekt aus. Die Pasta ist »italienisch bissfest« und bietet eine ideale Grundlage, um die komplexen Geschmacksnuancen hervorzuheben. Absolut hervorragend. (8,5/10)

Meinen Wunsch nach einem parallelen Glas Wein beantwortet der freundliche Sommelier mit einem 2018er Barolo »Monvigliero« des renommierten Weinguts Comm. G.B. Burlotto (49 €). So gewappnet, geht es dann rüber in den Neubau an den Tresen vor der offenen Küche.

Neben Induktionsfeldern ist ein Holzkohlegrill mit offenem Feuer die einzige weitere Garstelle. Zwei junge Köche haben alles im Griff, von Hektik keine Spur. Es wirkt sogar ein wenig leer.

Obwohl nicht bestellt, besteht die Küche noch auf den Einschub des Klassikers »Rote-Bete-Gnocchi«. Die Sphären aus roter Bete sind mit einer pikanten Meerrettich-Creme gefüllt, während ein samtiges Püree aus deutlich milderem, leicht süßlichem Daikon als Condiment dient. Krumen aus mit Schüttelbrot hergestellter »Biererde« liefern malzige Aromen und knusprige Textur. Ich kenne diesen Gang bereits aus dem St. Hubertus, hier erscheint er mir eine Nuance pikanter und daher etwas spannender. Besonders aufregend finde ich das Gericht nach wie vor nicht. Die alpine Küche Niederkoflers steht aus meiner Sicht eher für andere Geschmacksbilder. Dennoch sehr gut, keine Frage. (7/10)

Inzwischen steht sogar ein dritter Wein auf dem Tisch. Anhand eines 2018er Barolo »Aleste« von Luciano Sandrone illustriert der Sommelier den Unterschied zwischen modernerer und traditioneller Machart von Barolo. Wenn in Restaurants so eine Dynamik beim Thema Wein entsteht, macht das besonders viel Spaß.

Der nächste Gang ist ein kleines Stück Kalbsbries, das man nach dem Kochen noch in einem Tempurateig fertig gebraten hat. Eine Art gepufftes Getreide ummantelt dazu das cremig-zarte Fleisch, das in einer Creme aus Hülsenfrüchten mit Thymian-Minze-Öl angerichtet ist. Bereits im St. Hubertus zählte ein Gericht mit Bries zu den absoluten Highlights, und auch hier ist die Zutat auf bemerkenswertem handwerklichen und qualitativen Niveau. Die Creme trifft aromatisch zwar nicht meinen letzten Nerv, aber fast alle. (8,9/10)

Niederkofler lässt noch einen Gang einschieben, ohne die Zutaten zu verraten. Was auf den ersten Blick aussieht wie Rigatoni-Pasta, hat am Gaumen jedoch eine deutlich weichere Textur, als man sie von Nudeln erwarten würde. Eine leichte Rauheit der Oberfläche lässt mich an Kutteln denken. Tatsächlich entpuppt sich die kuriose Zutat als Dünndarm vom Kalb. Sie schmeckt appetitlich herzhaft, ohne jegliche Anklänge von unangenehmen Aromen, die man bspw. in einer Andouillette finden würde. Trotzdem benötigt die Zutat Würze, welche sie durch Hagebutte, Tomatenpuder und einem Saucenduo aus Formagiella-Käse und Kresseöl erhält. Letzeres steuert eine lebhafte Schärfe bei. Der Gang, der vom römischen Klassiker Rigatoni con la pajata inspiriert ist, ist eine gelungene Überraschung, deren Hauptzutat man vermutlich nicht jedem zumuten kann. (8,5/10)

Das Gesamtpaket aus Ambiente, Service und kulinarischer Kreativität macht den Abend bisher zu einem besonderen Erlebnis. Dazu die entspannte Musik, der stets präsente, aber diskrete Gastgeber und der humorvolle und souveräne Service – all das ist Spitzenklasse.

Mit guter Laune und noch längst nicht leeren Gläsern, erreicht mich der nächste Gang. Es gibt ein tierisches Duo. Auf dem Hauptteller befindet sich Kotelett vom Alpenschwein, das über mehrere Stunden immer wieder nur für einen kurzen Moment aufs Feuer gestellt wurde. Mit dieser Gartechnik behält das Fleisch besonders viel von seiner Saftigkeit, erläutert man. Ein leichter Schweinejus, Kimchi, Marillen, Senfkörner und verschiedene Kräuter höre ich aus der Beschreibung auch noch heraus, kann aber nicht alles ausmachen. Der Teller ist zweifellos hervorragend, mit saftigem, gehaltvollem Fleisch, einem aromatischen Jus und einer erfrischenden Note von einem an Portulak erinnernden Kraut.

Etwas merkwürdig ist dazu ein Satellitenteller mit gefüllten Hühnerflügeln. Die Farce besteht ebenfalls aus Huhn, nose-to-tail ist hier natürlich ein Mantra. Die kleinen, saftigen Flügel, denen man alle störenden Knochen entfernt hat, schmecken ausgezeichnet; die in der Farce verarbeitete Leber und verschiedene Kräuter gelangen besonders gut zum Vorschein. Am Ende kleben die Lippen, der Nachgeschmack ist befriedigend herzhaft und harmonisch – das hat Spaß gemacht. (8/10)

Das Pré-Dessert ist ein bildhübsches Arrangement aus teilweise konservierten Beeren, Obst und Gemüse. Die Zutaten sind in einem burgunderroten Erdbeersud und auf einem Aprikosenpüree angerichtet, der das graue Keramikschälchen ästhetisch ansprechend kontrastiert. Hier kommt alles zusammen: Waldmeisterblüte, Thymian, Majoran, Aprikose, Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren und mehr. Die Komposition erinnert geschmacklich an Rote Grütze, ist jedoch deutlich eleganter, floraler und mit mehr Frische ausgestattet. Himmlisch gut! (10/10)

Es geht weiter mit einer Art Honigkuchen aus Briocheteig. Der ist mit einem Pulver aus Meisterwurz gewürzt und schmeckt, auch dank verschiedener Saucen, nach Nelke, Zimt, Karamell und Weihnachten – ganz wunderbar. Ein à part serviertes Rhabarber-Granité mit Buchweizencrumble stört dagegen fast mit einer offensiven Kälte und wenig Aroma. Wenn man davon absieht, ist das nichts weniger als ein sensationell gutes Stück Kuchen. (8,9/10)

Das trifft dann auch für die Tarte tatin zu, meine einzige Extrabestellung aus der Karte (30 €). Die Torte ist mit Blätterteig gebacken, dadurch luftig und knusprig; die Äpfel sind betörend aromatisch. Auch die Süße ist perfekt – nichts ist zu viel, nichts zu wenig, nichts ist klebrig oder massig. Ein geschmacklich schlankes Joghurteis bringt man obenauf zum Schmelzen. Große Desserts können so »einfach« sein. (9/10)

Für die Petit Fours geht es dann wieder zurück ins Barzimmer. Es gibt Meringata mit Honigcreme, eine Buchweizen-Waffel mit Buchweizen-Creme, einen Krapfen mit Holunder und Kirsch-Gelee mit Kamille. Alles ist über jeden Zweifel erhaben (7,5/10), aber den Gipfel der süßen Genüsse hat man hier wieder verlassen.

Das passt zum Rest der kulinarischen Expedition. Tiefen gab es keine, aber ein kleines Auf und Ab zwischen Gipfeln. Und so sehr ich auch kein Bergmensch bin, hinterlässt Niederkoflers Gebirgsküche erneut bleibende Eindrücke – genauso wie seine neue Wirkstätte. Sollen doch alle anderen hier kraxeln, ihr wisst dann ja, wo ihr mich findet.

Informationen zu diesem Restaurant
Restaurant: Atelier Moessmer Norbert Niederkofler (→ Website)
Chef de Cuisine: Norbert Niederkofler
Ort: Bruneck, Italien
Datum dieses Besuchs: 01.06.2024
Guide Michelin (Italien 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
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