Dorian – erweiterte Nachbarschaft
Mehr denn je bin ich derzeit auf der Suche nach unkomplizierter Gastronomie mit gutem Essen. Das bedeutet für mich eine hohe Produktqualität, eine flexible und abwechslungsreiche Speiseauswahl à la carte, ein stimmungsvolles Ambiente und eine gute Weinkarte. Eigentlich genau das, was man sich in seiner Nachbarschaft wünscht. Da ich bei mir zu Hause längst mit diesem Kapitel abgeschlossen habe, zieht es mich seit einiger Zeit auch in dieser Hinsicht öfter ins Ausland.
Heute Abend stehe ich vor dem Dorian, einem Nachbarschafts-Bistro (»bistro for locals«, laut eigener Website) im Londoner Stadtteil Notting Hill. Der Küchenchef, Max Coen, hat zuvor im Frantzén und in einigen Londoner Top-Restaurants gearbeitet und das erst im Herbst 2022 eröffnete Dorian schnell zu einem Michelin-Stern geführt. Inhaber ist der in London bekannte Gastro-Unternehmer Chris D’Sylva.
Dabei ist das Dorian ein Paradebeispiel für unzählige Dinge, die ein Sternerestaurant nicht sein muss, zum Beispiel: spießig, förmlich, kompliziert, leise, menübasiert, verkopft, belehrend, teuer, luxuriös, prätentiös, anstrengend, aufwändig. Als ich den Laden betrete – ich habe ein Seating um viertel nach neun – ist es ist laut und voll. Aber es ist auch: herzlich, schick, lebhaft, illuster und appetitanregend.
Im Speisesaal sind die Tische so eng gestellt wie in einem französischen Bistro; am Tresen, wo ich reserviert habe, ist es zwischen den Seatings kurzzeitig etwas leerer, was den Blick auf das Geschehen dahinter preisgibt. Herzstück des Restaurants ist ein Grill mit offenem Feuer, der einen so guten Rauchabzug hat, dass man – selbst davorsitzend – kaum etwas davon riecht. Küchenchef Coen steht ganz am Ende der Theke und prüft jede Speise, die zu den Gästen gebracht wird. Er lächelt nicht viel, wirkt konzentriert.
Ich sitze erst mal auf dem Barhocker und genieße die Atmosphäre bei einem Negroni. Die Kellner sind auf Zack, es wird schnell gesprochen, schnell serviert, sich schnell bewegt – ein bisschen hektisch.
Ich wende mich der Speisekarte zu, die jemand gerade platziert hat. Auf einer Seite enthält die Karte dreißig Gerichte, die nach unten hin im Preisniveau, und damit vermutlich auch in der Menge, zunehmen. So weit, so simpel. Doch das Fehlen von Überschriften – oder von Hinweisen, wie viel man in etwa bestellen soll – kann auch geübte Esser herausfordern.
Die Speisen selbst listen nur knapp ihre jeweiligen Hauptzutaten auf. Ohne viel Erfahrung mit diversen Produkten und Zubereitungsarten kann man kaum beurteilen, ob man eher auf einen Oyster & Beef Tongue Rösti zum Start Lust hat oder auf Bluefin Tuna Carpaccio, Tostada & Shiso – oder einfach gleich beides bestellt, dazu noch einen Red Mullet, Mylor Prawn & Squid Skewer und später vielleicht eines der Steaks. Dass man so etwas in London machen kann, lässt viele Rückschlüsse auf die kulinarische und gastronomische Erfahrung des Publikums zu.
Ich kenne viele Leute, die mit einer solchen Karte nicht zurechtkämen. Es gibt schließlich Gründe, warum derartige Konzepte in Deutschland nicht zu finden sind. In unseren Breiten wird man, gerade in der gehobenen Gastronomie, fast überall mit Menüs konfrontiert. Aber das hier ist gehobene Gastronomie. Es fehlt nur der förmliche Rahmen.
So gehört es bei uns zulande für viele dazu, durch den Abend geführt zu werden, Entscheidungen abgenommen zu bekommen, überrascht zu werden. Dabei ist Letzteres oft nur ein Euphemismus für die Unfähigkeit, selbst auswählen zu können – außer vielleicht die Anzahl an Gängen. Aber dass man Brokkoli nicht mag und Muscheln sowieso nicht, das kann man klar formulieren. Man weiß, was man nicht mag, aber nicht, was man mag.
In einer Situation wie heute Abend bestelle ich oft gerne einfach schon mal ein paar Speisen zum Starten und schaue später, wie es weitergehen könnte. Doch durch diese Rechnung macht mir der Kellner einen Strich, des späten Seatings wegen. Die Gerichte müssen alle bald abgerufen werden.
Mich fordert das alles vor allem deshalb heraus, weil alle Gerichte so schmackhaft klingen, dass ich nicht weiß, wo ich mich einschränken soll. Im kurzen Schlagabtausch mit dem Kellner, der natürlich Tipps parat hat, auch zur Menge, steht dann aber meine Auswahl. Die Weinkarte ist ebenfalls bemerkenswert, und ich finde dieses gesamte Setup einfach nur traumhaft.
Zum 2018er Nuits-Saint-Georges 1er Cru »Les Vaucrains« von der exzellenten Domaine Henri Gouges (275 £, ca. 320 €) erreicht der erste Snack den schönen Marmortresen. Es gibt eine (Eingangs schon erwähnte) knusprige Tostada mit Thunfisch (ca. 16 €) – von hervorragender Qualität, kühl und »dicht« –, mit einer elegant mit Soja abgeschmeckten Sauce und einer ordentlichen Portion gehackten Perilla-Blättern. Der köstliche Snack ist sorgfältig, aber nicht angestrengt angerichtet, will nicht geometrisch akkurat sein, sondern mit Qualität und Geschmack überzeugen, was ihm voll und ganz gelingt. (7/10)
Auch der zweite Fingersnack, ein »Rösti« mit Miesmuscheln, Sauce Gribiche und Sauerampfer (ca. 11 €; im Bild sind zwei) fällt in die Kategorie knusprig, herzhaft, hochwertig und schmackhaft. Das macht jetzt alles schon richtig Freude. (7/10)
Es geht alles etwas zügig, weswegen gleich schon der nächste Teller den Tisch erreicht. Knusprig gebackenes Kalbsbries ist hier als Duo mit roten Garnelen angerichtet (ca. 42 €), beide Produkte sind von bemerkenswerter Qualität und Zubereitung. Das Surf and Turf ist in einem aufgeschäumten, sehr stimmig abgeschmeckten Krustentiersud angerichtet, ein wenig Fenchel und Salat lockern das Ganze mit etwas Frische auf. Ebenfalls sehr gut. (7/10)
Der letzte Snack ist ein Spieß mit Garnele, Rotbarbe und Tintenfisch (ca. 14 €), appetitlich gegrillt und über einer öligen Sauce mit Kräutern angerichtet. Rustikal, aber auf hohem Niveau. Man will den ganzen Abend so weitermachen. (6,9/10)
Aber der Bestellung eines Steaks konnte ich – angesichts des eindrucksvollen Grill-Geschehens, das hier direkt vor mir stattfindet – nicht widerstehen. Das Bone-in Sirloin (ca. 140 €) wurde sehr gleichmäßig medium rare gegrillt, teilweise auch direkt in der Flamme, was das Fleisch mit einer fast schwarzen, aber nicht »verbrannten« Kruste versieht. Das Fleisch stammt von einer Züchtung in North Yorkshire, einer Kreuzung aus Holstein- und Tajima-Rind, welches von einem Geschäft in der Nachbarschaft gereift und geliefert wird.
Das zwei Finger dicke Steak ist auf dem Teller bereits vorgeschnitten und in einem dicht reduzierten Fleischjus angerichtet. Es schmeckt saftig und sehr aromatisch; das Verhältnis von Muskelfleisch zu integriertem Fett ist ausgewogen. Zum dem puristischen Fleischgenuss benötigt man eigentlich nicht viel mehr, zwei Beilagen probiere ich dennoch. Die gegrillten Pilze und Gemüse in einer sahnigen, grünen Sauce sowie Röstkartoffeln (je ca. 9 €) sind zwar gut, aber etwas mächtig. Ganze Steaks in Restaurants zu bestellen, ist oft ein Glücksspiel, hier im Dorian dürfte es eine sichere Bank sein. (7/10)
Ein Dessert mit Schokolade, Rum-Eis und Kaffee (ca. 13 €) schmeckt primär und schlicht nach guter Schokolade, nicht viel mehr, nicht viel weniger. (6,9/10)
Wer ein solches Restaurant in seiner Nachbarschaft hat, ist zweifellos zu beneiden. Aber Nachbarschaft ist ein dehnbarer Begriff. Ich zähle mich jetzt auch dazu.