Taïrroir – Déjeuner in Taipeh
In der Nähe einer nichtssagenden Straßenkreuzung in Taipeh steht ein schlankes, mehrgeschossiges Geschäftsgebäude. Die Lettern »EAT-T«, ganz oben, sowie weitere an der Fassade angebrachte Werbeplakate mit Restaurantnamen machen klar, dass es in dem Hochhaus um Essen geht.
Auf einem der Plakate steht »Taïrroir«, das ist mein Ziel. Ich bin heute Morgen extra aus Hongkong hierher geflogen, um eine Reservierung zum Mittag wahrzunehmen. Das ist ein kühnes Unterfangen, aber im Rahmen der umfangreichen Agenda dieser Asien-Reise ließ sich das nicht anders umsetzen.
Das Taïrroir ist eines von zwei brandneuen Drei-Sterne-Restaurants in Taiwan und wurde im Jahr 2016 von Küchenchef Kai Ho ins Leben gerufen, der zuvor in vielen renommierten Restaurants in den USA und Asien gearbeitet hat. Der Restaurantname ist offenkundig ein Wortspiel aus den französischen Begriffen »Taïwan« und »Terroir«. Es geht also vermutlich irgendwie um Taiwan als auch um Frankreich.
Ich bin noch etwas zu früh, als ich mit dem Fahrstuhl zum Restaurant hochfahre und direkt einem kleinen Wartebereich ankomme. Die Räumlichkeiten sind deutlich kleiner als von mir (willkürlich) angenommen. Hinter einem barähnlichen Service- und Empfangstresen schließt sich nahtlos der Speisesaal an, in dem lediglich acht Tische untergebracht sind; dahinter blickt man in eine verglaste Küche. Kupferfarbene Deckensegel dienen wohl einer verbesserten Akustik, lockern aber auch das eher sachliche Ambiente etwas auf.
Bei einem Glas Wein aus der offenen Auswahl, einem 2018er Chablis »Les Deux Rives« von der Domaine Olivier Leflaive (ca. 21 €), studiere ich das einzig verfügbare Degustationsmenü, das als spezielles Festtagsmenü ausgewiesen ist (6 908 NT$, ca. 200 €). Die Gänge sind in chinesischer und französischer Sprache ausgewiesen, auch die Zutaten klingen frankophil.
Und dann geht es auch schon los mit den ersten Kleinigkeiten, die nun ganz unmissverständlich in Richtung Frankreich zeigen. Eine überbackene Herzmuschel, heiß und süffig, erinnert wegen eines feinen Einsatzes von Petersilie und Knoblauch und wegen der ähnlichen Texturen an Schnecken aus dem Ofen (8,5/10). Ein Teigbällchen mit einer Füllung aus geräuchertem Lachs und einer Sauce Gribiche ist ebenfalls heiß, angenehm leicht und präzise säurebetont (8/10); und eine Tartelette mit Erbsen, Linsen und einem blumigen Zitrusaroma, das von einer Yuzu herrühren könnte, ist leicht und wunderbar (8,9/10).
Ein heißes, aromatisch dichtes Süppchen vom Kabocha-Kürbis ist dann der erste ausgewiesene Gang des Menüs. Ein kühler Schaum aus Wintertrüffeln, der das Süppchen bedeckt wie Milchschaum einen Cappuccino, bietet spannende Temperaturkontraste und passende erdige Aromen. Eine dazu servierte Madeleine mit Fourme d’Ambert lässt sich gut in das Süppchen stippen. Simpel, aber hervorragend. (8/10)
Ein hausgemachtes Pain au Levain, Sauerteigbrot, mit streichzarter, fettreicher, aber nicht zu fettiger Rillette vom Schwein sowie mit Butter und Salz steht als zweiter Gang im Menü. Das ist so hervorragend, wie so etwas nur sein kann, aber man sollte schon wissen, dass man das irgendwann beiseiteschieben »darf«, um auf den nächsten Gang zu warten. Brot als eigenen Gang zu präsentieren, finde ich daher meist etwas ungeschickt.
Der nächste Gang rüttelt mich etwas wach. Es gibt rohe, größere Stücke Jakobsmuschel aus Hokkaido, an die ein mit geräucherter Zitrone aromatisiertes, intensiv duftendes Dillöl angegossen wird. Taiwanesische Orange, Radieschen und Queller, jeweils nur sehr sparsam dosiert, sind die einzigen weiteren Begleiter dieser schlichten Komposition. Die charakteristische, fleischige Textur der Hokkaido-Jakobsmuschel und das elegante, zitrische Räucheraroma machen diesen Teller unvergesslich gut. (10/10)
Als großer Freund guter Pâtés – immerhin machten es gleich zwei davon in die Liste meiner besten Gerichte des letzten Jahres – freue ich mich auf das folgende Gericht. Es gibt eine Scheibe Pâté en croûte mit, unter anderem, Ente und Entenleber, dazu eine Pistazienvinaigrette in Cremeform sowie einen kleinen Salat. Der Pâté zieht alle Register des klassischen Handwerks und hat eine bissfeste, samtige Konsistenz, bedingt durch einen sehr hohen Fettgehalt. Frische und Säure sind genau die Elemente, die man dazu braucht, um so etwas auszubalancieren; aber ausgerechnet die Vinagrettecreme könnte davon etwas mehr vertragen. Das ist ohne Umschweife eine hervorragende Pastete, doch allzu bemerkenswerte Elemente findet man nicht. (8/10)
Ganz im Gegensatz zu den Œufs en Meurette Bourgignonne, die im Menü als Add-on ausgewiesen sind (zzgl. ca. 26 €). Das burgundische Traditionsgericht mit pochiertem Ei findet man hier in einer Abwandlung mit edlem Matsutake-Pilz, hausgemachtem Speck, Petersilien-Mayonnaise und einer Burgundersauce. Das wachsweiche Ei vermengt sich dabei appetitlich mit allen Komponenten; die Rotweinsauce ist ebenfalls ganz besonders gut gelungen. Eine dünne Scheibe getrockneter Zwiebel fügt dem Ganzen eine süffige Süße hinzu, und auch Kräuter gelangen sehr ausbalanciert zum Einsatz. Gerade die Präzision von Aromen, Proportionen und Texturen macht aus einem bodenständigen Klassiker einen Gang auf Weltklasseniveau. (9/10)
Mit einer Bouillabaisse bleibt auch der nächste Gang französisch. Im Gegensatz zum traditionellen Original kehrt Küchenchef Ho hier die Proportionen zwischen Suppe und Einlage um. So stehen die Meerestiere und deren präzise Garungen und außergewöhnliche Qualitäten ganz im Mittelpunkt des Gerichts. Es gibt leicht gegarten Wahoo (ein thunfischähnlicher Fisch), pochierte Gillardeau-Auster, gegrillte Garnele und Tintenfisch, an die ein heißer, nach Safran und Krustentieren duftender Sud angegossen wird. Schon das allein ist großartig und erinnert etwas an die ähnlich konzipierte Bouillabaisse von Gérald Passedat (Le Petit Nice).
Zu dem Ganzen gibt es einen »Rösti« (auch so bezeichnet), heiß und fettig, mit obenauf einem kleinen Salat von Tintenfisch, Garnelen, etwas Mayonnaise und Kräutern. So absurd es sein mag, nach Taipeh zu fliegen, um dort ein französisches Gericht von einem deutschen Teller zu essen, ist dieser Gang ein Gipfel an Qualität und Genuss. (10/10)
Im Glas habe ich inzwischen einen 2018er Pinot Noir »La Bauge Au-dessus« vom kalifornischen Weingut Au Bon Climat aus der offenen Auswahl (ca. 20 €).
Für den Hauptgang gibt es dann, überraschend schlicht, Steak mit Beilagen, und zwar trockengereiftes Striploin am Knochen der Qualität USDA Prime. Das Fleisch wurde einige Gänge zuvor schon im Rohzustand am Tisch präsentiert. Für diesen Gang wurde es gegrillt, vom Knochen gelöst und in Streifen geschnitten. Als Beilagen gibt es, jeweils in separaten Schälchen, Brokkoli, Chorizo-Pilaw, Champignons mit Kräutern, Salat sowie einen klassischen Fleischjus und eine Sauce Béarnaise.
Es ist schon verwunderlich, dass man in einem Restaurant auf diesem Niveau einen solchen Gang serviert bekommt, denn er versucht nicht einmal, irgendwie außergewöhnlich zu sein. Die Beilagen sind handwerklich so, wie man es von jedem halbwegs ausgebildeten Koch erwarten würde, wenngleich sowohl die Béarnaise als auch die Fleischsauce weniger flüssig sein sollten. Ein Striploin ist ebenfalls nicht die offenkundigste Wahl für saftigen Fleischgenuss, weil das Fett eher außen sitzt als im Fleisch selbst. In diesem Fall lässt es sich ohnehin nur als gummiartiger Rand vom Fleisch abschneiden. Und dann gibt es noch ein ganz anderes Problem: Die intensive Trockenreifung hat das Fleisch mit einem säuerlich-käsigen Aroma durchzogen, das mir in dieser Intensität noch nie begegnet ist. Keine nussig-buttrigen Aromen, auch kein authentischer Rindgeschmack: Das Fleisch, das auch schon längst erkaltet ist, als es serviert wird, schmeckt ausschließlich nach Fermentation und ist dazu auch noch ziemlich trocken. Ich arbeite mich da ein wenig durch, aber das bekommt man selbst in der heimischen Küche besser hin, und zwar von A bis Z. Etwas sonderbar, das Ganze. (6/10)
Zwei kleine Desserts reißen das Ruder dann noch mal herum. In einem kleinen Glas gibt es eine geschichtete Kreation mit taiwanesischer Birne, kleinen Würfeln Aiyu-Gelee (eine Feigenart) und einem schaumigen »Ingwersoda«, das durch etwas Kohlensäure sehr erfrischend ist. Das ist schlank, kühl, nicht zu süß, mit sehr aromatischer Birne und kurzweiligem Texturspaß. (8,5/10)
Die Birnenerfrischung ist eine passende Überleitung zum nächsten Dessert, einer Apfeltarte. Für das Küchlein wurden sehr aromatische Äpfel aus dem chinesischen Fuzhou-Gebirge verwendet, die hier in größeren Stücken verarbeitet und etwas weihnachtlich gewürzt sind. Eine (nicht zu) süße Glasur intensiviert ihr Aroma, während ein kühlendes Apfeleis für Kontraste sorgt. All das, zusammen mit idealen Proportionen, machen dieses kleine Küchlein zu einem hervorragenden Dessert; lediglich der Blätterteig ist etwas zu hart geraten. (8/10)
Ein Oolong-Tee und einige fehlerfreie Petits Fours (7/10) schließen das größtenteils hervorragende, aber inkonsistente Mahl ab. Es fällt auf, dass die Küche sich sehr nah entlang bekannter französischer (Bistro-)Klassiker bewegt, die bei diesem Essen zwar auf hohem Niveau, aber ohne besondere Ideen umgesetzt wurden. Dass der Guide Michelin so etwas mit drei Sternen auszeichnet – und das sogar ganz frisch – ist eigentlich nicht vorstellbar. Recherchiert man ein wenig, fallen die Menüs hier sonst offenbar auch deutlich weniger französisch aus; vielleicht lag es an dem speziellen Feiertagsmenü. An der Qualität, die man geboten bekommt, sollte das aber natürlich nichts ändern. Und jetzt muss ich auch schon wieder los, ich habe einen Flug zurück nach Hongkong. Es hat gerade erst alles begonnen.
(Weitere Artikel im Zusammenhang mit dieser Reise unter diesem Link.)