Forum – Yats späte Ehre
Das Restaurant Forum trägt eigentlich noch den Zusatz »1977« im Namen, ein Hinweis auf dessen langes Bestehen. Es wurde vom aus China stammenden und nach Hongkong ausgewanderten Koon-yat Yeung ins Leben gerufen, der schon vor über sechzig Jahren seine Gastronomiekarriere begann. Yeungs legendäre getrocknete Abalone servierte er bereits prominenten Staatsgästen aus aller Welt. Vor wenigen Monaten erst verstarb der berühmte Koch und Gastronom. Seit über dreißig Jahren steht hier, inzwischen in neuen Räumlichkeiten, Küchenchef Adam Wong Lung, ein Schüler Yeungs, am Herd. Seit einigen Jahren ist das Restaurant mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet, eine späte Ehre für alle Beteiligten.
Wie fast die Regel in asiatischen Metropolen, befindet sich das Lokal in einem Einkaufszentrum. Ich plane in solchen Fällen immer mindestens fünfzehn bis zwanzig Minuten ein, um mich vor Ort zurecht zu finden. Irgendwann, nach einigen Rolltreppen durch Stockwerke mit Mode, signalisiert ein Arsenal an Guide-Michelin-Plaketten, dass ich hier richtig bin.
Hinter dem kleinen Empfangsbereich stolpert man fast direkt in einen großen Speisesaal. Nach Fine Dining sieht es hier nicht aus, zumindest nicht nach einer westlichen Vorstellung davon. Der Raum ist grell beleuchtet und ungemütlich, es fühlt sich wuselig an. Einkaufende in Funktionsjacken und Einkaufstüten, Familien mit Kindern, Asiaten in üblichen Designer-Klamotten: Das Publikum ist bunt gemischt.
Die Speisekarte bietet, wie für ein kantonesisches Restaurant üblich, dutzende, wenn nicht hunderte Speisen an. Jeder findet hier seine favorisierte Version Schweinefleisch, seine Ente, seinen Hummer, seine Abalone, sein Vogelnest und seinen Reis. Sitzt man nicht in großer Runde am Tisch, ist eine Bestellung à la carte in kantonesischen Restaurants daher kaum ratsam, da die meisten Gerichte üppig portioniert und eher zum Teilen an einem großen Tisch gedacht sind.
Ich wähle das spezielle »Forum Three-Michelin-Star Set Menu« (2 948 HK$, ca. € 340), das einige Hausklassiker beinhaltet. Die Weinkarte ist frankreichlastig, überraschend fair bepreist und überwiegend mit etwas reiferen Jahrgängen ausgestattet. Als Bordeaux-Liebhaber findet man z. B. einen 2007er Château Montrose für umgerechnet ca. 200 € oder einen 2012er Château Grand-Puy-Lacoste für ca. 160 €. Meine Wahl fällt schließlich auf einen 2019er Clos-Vougeot von der Domaine Jean-Jacques Confuron für umgerechnet ca. 340 €. Auf Weihnachten!
Zunächst werden, neben ein paar gewöhnlichen Cashewnüssen, verschiedene Saucen an den Tisch gebracht, wie es bei kantonesischen Restaurants die Regel ist. In diesem Fall gibt es eine XO-Sauce und eine Sauce aus fermentierten Sojabohnen. Beide sind natürlich hausgemacht und geschmacklich hochkomplex – umami, pikant, konzentriert, würzig. Sie spielen eine wichtige Rolle während des Essens.
Der erste Gang bestätigt zunächst meine unterschwellige Sorge, dass das »Drei-Sterne-Menü« nicht größtmöglich authentisch ist. Zwar bietet eine sehr kurz angebratene und mit einer Nocke Kaviar getoppte Jakobsmuschel aus Hokkaido ein selten gutes Qualitätserlebnis. Doch für japanische Produkte in französischem Stil muss ich nicht in ein kantonesisches Restaurant nach Hongkong. Die Sauce, eine »Hummersauce«, schmeckt kaum nach Hummer, ist aber typisch für die oft stark gebundenen Saucen dieser Küche. Das ist hervorragend, vor allem wegen der herausragenden Jakobsmuschel, aber ich freue mich auf alles, das ich nicht kenne. (8/10)
Zum Beispiel auf die »zweifach gekochte« Hühnersuppe. Die Suppe ist in einer Kokosnuss angerichtet, die man noch mit einem kleinen »Deckel« versehen hat, um ihre Hitze zu konservieren. In der Suppe befinden sich noch Stücke von einer Meeresschnecke. Die Suppe, auf der appetitliche Fettaugen glänzen, ist so heiß, dass ich eine Weile brauche, um mich ihr überhaupt zuwenden zu können. Ein leicht süßlicher Duft gesellt sich dazu, sehr angenehm und offenbar von der Kokosnuss stammend, die etwas von ihrem Aroma an die Suppe abgibt. Und dann, als nach gefühlten zehn Minuten alles zwar immer noch sehr heiß, aber bereits vorsichtig genießbar ist, zieht mich die unscheinbare Flüssigkeit in ihren Bann. Sie schmeckt nicht so, wie man das sonst von Hühnersuppen oder -fonds kennt, die, auch, wenn sie gut sind, manchmal leicht metallisch schmecken können. Hier steht ein intensiver Geschmack im Vordergrund, der von einem Hauch Süße begleitet wird – absolut köstlich. Wenn man dann noch etwas von der Muschel dazu nimmt und ein wenig XO-Sauce, blüht alles noch einmal auf. Die Hitze, die Schärfe, die charmante Süße, all das ist großes kulinarisches Kino. Ich muss alles bis zum letzten Milliliter auslöffeln. (9/10)
Nach einer kurzen Verschnaufpause geht es weiter mit der hier legendären Ah Yat Abalone. Für umgerechnet ca. 140 € (!) hätte es hier noch mal ein Upgrade mit einer anderen – japanischen – Sorte gegeben; darauf habe ich verzichtet. Ich vermute, dass der Gründergeist von Yeung auch in der Basisversion mitschwingt. Die getrocknete und dann aufwändig geschmorte Abalone kommt zusammen mit ebenso aufwändig zubereiteter Seegurke auf den Teller, eine Zutat, zu der ich bisher ein noch ungeklärtes Verhältnis habe, abgesehen von einer sehr angenehmen Erfahrung im baskischen Etxebarri. Das Ergebnis hier auf dem Teller ist überraschend. Die Seegurke, die naturgemäß eher mit wenig Aroma ausgestattet ist, hat eine »glibberig-feste« Konsistenz, die ich von keiner anderen Zutat in dieser Form kenne. Sie lässt sich leicht schneiden, ist aber sehr formstabil und möchte am Gaumen eigentlich nur zwischen den Zähnen wegrutschen – ohne jedoch besonders kaubedürftig zu sein. Sie ist zudem ein hervorragender Träger für die samtige, sehr aromatische Sauce. Und so kommt eines zu anderen: die außergewöhnlich appetitlichen Texturen der merkwürdigen Meeresbewohner, etwas Reis sowie saftige, gegarte Salatblätter, die dem Gericht Frische verleihen. Ungewöhnlich, fremd- und großartig. (9/10)
Ein Gericht mit regionalem Hummer folgt danach. Das edle Krustentier ist ausgelöst und in seiner Schale in mundgerechten Häppchen angerichtet. Zum Hummer gibt es schlicht etwas weitere XO-Sauce, ein wenig stückiger als die am Tisch, was für pikanten, würzigen Genuss sorgt. Der Hummer selbst hat festes, aromatisches Fleisch und steht der Qualität von bretonischen Exemplaren in nichts nach. Zusammen mit den maritimen Aromen der XO-Sauce ist auch dies ein exzellenter Gang mit einem Spitzenprodukt. (8,5/10)
Das Menü fährt fort mit einem weiteren Klassiker des Hauses, ein mit Garnelen gefüllter Hühnerflügel. Was einen mit dieser Fingerspeise für ein Genuss erwartet, ist dem kleinen Snack nicht unmittelbar anzusehen. Ein Großteil des Genusserlebnisses ist die unglaublich knusprige Haut. Sie stellt das Thema »Knusprigkeit« gar in ein völlig neues Licht. Es kracht richtig beim Hineinbeißen, filigran, dünn wie Zuckerguss, dabei nicht klebrig und mit appetitlichen Röstaromen. Und wenn man dann – unweigerlich – bei der Füllung angekommen ist, erwartet einen die saftige, würzige Farce aus Garnelen und Gemüse. Diese weitere »Texturüberraschung« macht aus dem unscheinbaren Fingersnack einen sicheren Kandidaten für eines der Gerichte des Jahres. (10/10)
Beim nächsten Teller schwimmen mit Gemüse gefüllte Pilze mit dem Namen Tropische Schleierdame (engl. bamboo pith) in einem trüben Fischsud. Den probiere ist zuerst; er schmeckt maritim und leicht süßlich, und die exotischen, netzartigen Pilze verleihen dem Gericht ein Aroma von Dachboden, altem Koffer und alten Karate-Filmen. Die Texturen der Gemüse sind knackig und lebhaft. Es ist gleichzeitig sonderbar und faszinierend, was die Gerichte hier an Bildern auslösen (und dabei auch noch so hervorragend schmecken). (8,9/10)
Es folgt zum Abschluss des Herzhaften ein Reisgericht, ähnlich wie bei japanischen Menüs. Das ursprüngliche Gericht im Menü sah hier eine Version mit Haifischflosse vor, bei der ich um eine Alternative bat. Es gibt stattdessen nun den Hausklassiker Ah Yat Fried Rice. Der Reis wurde hierfür in einem Tontopf gegart, erklärt der Kellner, was länger dauern, aber dem Reis mehr Flüssigkeit entziehen würde. Dies ist offenbar für die anschließende Verarbeitung mit den weiteren Zutaten relevant, in diesem Fall kleine Garnelen, Schweinefleisch, Ei und verschiedene Gemüse. Alle Zutaten sind von bester Qualität, der Reis ist körnig, luftig, leicht ölig; und wenn man das Ganze noch mit den Saucen am Tisch kombiniert, ergibt sich nahezu perfekter Wohlgeschmack – reines Umami. Wenn ein Reisgericht eine Genuss-Obergrenze haben kann, muss es diese sein. (9/10)
Das Dessert, eine sehr heiße Mandelcreme, eher eine Suppe, mit eingearbeitetem Vogelnest lässt ein bisschen Raum, um herunterzukommen. Die skurrile Spezialität in der Creme hat in der chinesischen Küche Tradition, ist am Ende aber nichts anderes als eine Art Texturgeber. Das heiße Süppchen schmeckt etwas nach Marzipan, die dünnen Fäden der an sich verzichtbaren Zutat Vogelnest bringen da etwas Abwechslung hinein. Ein dazu serviertes Mango-Gelee bedient den in der kantonesischen Küche klassischen Akkord Mandel und Mango fehlerfrei, aber nicht spektakulär. (7/10)
Wenngleich mich die kantonesische Küche nicht so berührt wie beispielsweise die japanische, stecken in ihr genauso viel Tradition, gewissenhaftes Handwerk und exzellente Produkte. Auch die Gäste wissen hier genau, was sie wollen. Sie kommen wegen ihres Schweinefleischs, ihrer Ente oder ihres Reisgerichts. Da lässt sich niemand etwas vormachen, erst recht nicht von Dekoration oder Storytelling. Es zählt, was auf dem Teller ist. Von dieser Maxime sollte man sich bei uns zulande als Gast viel öfter einige schmackhafte Scheiben abschneiden.
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