Aqua – lässig souverän
Nach wie vor heißt das von mir am häufigsten besuchte Drei-Sterne-Restaurant Aqua. Das ist zwar in erster Linie der Nähe Wolfsburgs zu meinem Wohnort Hamburg geschuldet. Und ich kann nicht abstreiten, dass das Gesamterlebnis, etwas Zeit im Ritz-Carlton Wolfsburg zu verbringen, einen entscheidenden Teil zu meiner Besuchsfrequenz beiträgt. Bald ist mein letzter Besuch dennoch wieder zwei Jahre her, kaum zu glauben.
Die Suiten hier sind sehr komfortabel, die Pflegeprodukte von Diptyque erstaunliche niche, und die Macarons auf dem Zimmer setzen die kulinarische Messlatte schon mal dahin, wo sie hier hingehört. Spätestens nach ein paar obligatorischen Bahnen im dampfenden 50-Meter-Außenpool mit Blick auf die Wolfsburger Fabriklandschaft bekommt man ohnehin wieder Appetit.
Während sich im Restaurant an dem sachlichen und zwischen Raumschiffkantine und Vorstandsetage auf seltsame Art angenehmem Ambiente, dem freundlichen, aber zurückhaltenden Service und der flexiblen Menüauswahl nichts geändert hat, sind mit Restaurantleiterin Stefanie Weidner und Sommelière Anna-Helene Herpers zwei neue Gesichter an der vorderen Servicefront. Letztere manövriert sich von Beginn an charmant und souverän durch die in diesen Räumlichkeiten wohl etwas unkonventionelleren Wünsche an unserem Tisch. »Unkonventionell« aber nur insoweit als uns in dieser Runde Konventionen eben nicht besonders wichtig sind. Mit Champagner starten? Hatten wir vorhin schon an der Bar zu Pommes mit Mayo und Ketchup. Also Weiß? Wir schauen mal in die Karte. Aber gerne schon mal zwei Gläser für jeden; wir trinken bestimmt gleich irgendwas parallel. Neue Gläser für neuen Wein sind auch nicht nötig.
Nichts geht über ein solch flexibles Setup.
Wir haben auch noch eine Flasche 2009er Echézeaux von der Domaine du Comte Liger-Belair im Gepäck. Mit solchen Tropfen kann die für ein Drei-Sterne-Restaurant etwas zu dürftige Weinkarte hier nicht mithalten. Es gibt dennoch einige gute Funde, zum Beispiel einen 2019er Saalwachter Silvaner »Grauer Stein« (160 €) und einen 2010er Spätburgunder »Frauenberg« vom Weingut Klaus-Peter Keller (255 €).
Was das Kulinarische betrifft, wähle ich eine Schnittmenge aus beiden Menüs (7 Gänge, 245 €).
Es geht los mit einem Klassiker, der karamellisierten Kalamata-Olive. Der Snack, von dem ich lediglich das Gefühl habe, dass die Olive etwas kleiner ist als früher, spielt mit Süße, Salzigkeit und Umami nach wie vor so verführerisch wie die Duftnoten in einem komplexen Parfüm (9/10). Ein Röllchen »Vitello Tonnato« auf einem hauchdünnen Brotchip mit Rucolapesto spielt ebenfalls mit einer feinen Knusprigkeit und präzisen, herzhaften Aromen (8,9/10). Die Küche setzt wie eh und je auf bekannte, bodenständige Geschmacksbilder.
Auch einen Tomatensalat mit Brotchips sollte jeder gedanklich abrufen können; hier jedoch gelangt Tamarillo zum Einsatz: kühl, aromatisch und saftig, dazu gibt es einen säurebetonten Burrata-Kerbel-Schaum. Knusprige Elemente, eine erfrischende Kühle und der Fokus auf Säure und Umami sind mehr als hervorragend. (8,5/10)
Immer noch Teil der »Einstimmungen« sind zwei Zubereitungen vom Wildschwein, einmal als Essenz mit Preiselbeersirup, Ingwerbier und Meerrettich – hervorragend, aber eine Nuance zu süß – (8,5/10), sowie als Praline von geschmorter Schulter, frittiert mit würziger Hoisin-Sauce und Ingwer – heiß, pikant, exzellent (8,9/10).
Die folgenden beiden Gänge stammen aus unterschiedlichen Menüs und haben beide lachsartige Protagonisten. Der erste Gang, lauwarm temperiert, präsentiert gebeizte und geflämmte Forelle aus der Lüneburger Heide mit Buttermilch, Paprika und Rettich. Die im Aqua stets herausragende Fischqualität ist sofort offenkundig, und eine leichte Räuchernote macht Laune. Eine »unkomplizierte Süffigkeit«, die ich als eines der Markenzeichen von Elverfelds Küche betrachte, wohnt diesem Gang genauso inne wie dem folgenden. (8,5/10)
Manchmal gerät diese Zugänglichkeit etwas zu schlicht. Ein Stück gedämpfter Saibling aus Tainach von makelloser Güte ist beim nächsten Gang auf einer Avocadocreme platziert – vielleicht ist das schon keine allzu elaborierte Idee – und in einer milden, etwas undefinierten Sauce mit Gurke und weiteren Zutaten angerichtet. Das schmeckt überzeugend »klar«, und abermals hat das Gericht einen »Essensfluss«, bei dem man nur ungern eine Pause machen möchte. Dennoch ist das geschmacklich etwas eindimensional. Mindestens sehr gut, aber nicht weltbewegend. (7,5/10)
Einige Gänge höher schaltet die Küche mit bretonischer Seezunge. Das saftige, schneeweiße Filetstück ist auf einer Kalbszungen-Duxelles sowie in weiteren, etwas kräuterig-öligeren Saucen angerichtet. Das schmeckt hervorragend, nicht zuletzt wegen der besonders aromatischen Champignons in verschiedenen Zubereitungen, mit der der hervorragende Fisch getoppt ist. Zudem kann man, gerade in Deutschland, immer wieder erstaunt darüber sein, wie erfrischend unkompliziert die Teller hier angerichtet sind. Es ist eines der Attribute, die ich an Elverfelds Küche sehr schätze. (8,5/10)
Der Kombination von Kaisergranat mit Schweinekinn kann man im Aqua regelmäßig begegnen, wobei mich eine Kreation vor einigen Jahren nicht überzeugen konnte. Die aktuelle Komposition unterscheidet sich jedoch deutlich davon. Der gebratene Kaisergranat ist hier als zentrales Element in einem aufgeschäumten Krustentiersud mit etwas Krustentier-Mayonnaise angerichtet; das geschmorte Schweinekinn findet man, würzig abgeschmeckt und zum selbst dosieren, etwas an den Rand der Kreation gerückt. Der Kaisergranat ist qualitativ und handwerklich hervorragend, der Sud aromatisch konzentriert, dabei aber an einer etwas ausgereizten Salzgrenze. Besonders viel mehr passiert hier dann allerdings auch nicht; gerade aromatisch ist hier nicht viel zu entdecken. Das Niveau bleibt gleichwohl hoch. (8/10)
Auch Ei bleibt eine Lieblingszutat von Elverfeld, was ich stets als Hommage an die deutsche Küche verstehe. Doch damit war es das auch schon mit einer Referenz an die Heimat, denn das anfangs noch intakte und in einem Kräutersud leicht gegarte Eigelb versteckt sich unter einem Potpourri an Zutaten mit orientalischem Kontext, wie Bulgursalat, Kefirschaum, Granatapfelkernen und mit Ras el-Hanout geschmorter Lammschulter. Die komplexe Gewürzmischung mit milden, warmen Aromen gelangt hier wundervoll zur Geltung. Elverfeld, der längst auch weitere gastronomische Unternehmungen der Ritz-Carlton-Marke im Ausland betreut, verarbeitet in seinen Menüs öfter auch Eindrücke von seinen Reisen. Ihm gelingt das, wie mit dieser aromatisch fesselnden Komposition, stets überzeugend, nie klischeehaft. In diesem Moment wünschte man sich ein komplettes orientalisches Menü aus Elverfelds Feder. (9/10)
Meine Menüfolge fährt mit Onglet »vom Weiderind« fort. Es ist ungewöhnlich, dieser Zutat in der Spitzengastronomie zu begegnen, die vielerorts meist mit gehaltvollem Wagyu aus den USA oder Japan beeindrucken möchte. Die Küche hier präsentiert von dem saftigen Nierenzapfen mit der typisch heterogenen Textur vier Tranchen in einer klassischen, kraftvollen Demiglace, dazu gibt es ein Stück geschmorter Querrippe, Krautsalat und eine Röstzwiebelcreme. Was dabei überrascht: Trotz fehlerfreier Zubereitung, makellosem Saucenhandwerk und zweifelsfreier Qualitäten ist leider nicht viel Spannendes hier zu erleben. Die etwas »amerikanische« Ausrichtung mit Krautsalat und Röstzwiebeln passt auch nicht so recht zur französischen Kombination aus Fleisch und Sauce. Am Ende verschwimmt das alles in einer leicht säuerlichen Geschmackswelt ohne klare Ausrichtung. Wegen der Zutaten und der Handwerks ist das immer noch sehr gut, aber man vergisst während des Essens ja auch nicht, dass hier drei Michelin-Sterne an der Tür hängen. (7/10)
Weil es am Tisch gerade so viel Spaß macht, soll noch ein herzhafter Gang her; eigentlich ginge es jetzt schon mit dem süßen Teil weiter. Was wenige wissen, ich bis dato auch nicht: Es gibt im Aqua immer auch ein paar feste Gerichte – für genau solche Wünsche. Zum Beispiel kann man immer die gelierte Kalbsschwanzessenz mit Osietra-Kaviar und Crème fraîche bestellen (92 €), die ich schon von einem meiner letzten Besuche kenne. Der Gang ist eine sichere Bank und kombiniert kühlen, an den Lippen leicht klebenden Kalbsfond mit nussig-salzigem Kaviar und einer die Intensität abfedernden Crème frâiche. Und während man so darin schwelgt, darf man ruhig dazu stehen, dass dem Menü hier und da ein paar mehr »Luxuszutaten« nicht schlecht stehen würden. Nicht, dass es sie bräuchte, aber ist nicht gerade auch Zeit für weißen Alba-Trüffel? (9/10)
Auf den »Baba au Scotch« schiele ich schon von Anfang an, denn der (klassischerweise mit Rum) zubereitete Klassiker ist eines der wenigen Desserts, auf die ich mich schon im Voraus freue. Diese Interpretation ist alles andere als klassisch, was von der kreativen Patisserie hier auch nicht zu erwarten ist. Der Baba in diesem Dessert ist aber nur eine von mehreren Komponenten. Es gibt zum Beispiel noch ein Zwetschgensorbet, Aprikose sowie weitere Zubereitungen mit Kokos und rotem Shiso. Gleichwohl steht der Baba mit seiner verführerischen, weichen Textur im Mittelpunkt. Man hat ihn mit Royal Salute 21 getränkt, ein rauchig-fruchtiger Whisky, der sehr gut mit den dunkelfruchtigen Aromen der Zwetschge harmoniert. Von irgendwoher kommt auch noch eine belebende ätherische Schärfe. Das ist großer Dessertgenuss. (8,9/10)
Lustig verspielt ist dann das »süße Finale« in Form eines weißen Schokoladen-Espumas mit Grapefruitstückchen sowie kleinen, süß-fruchtigen, kalten Perlen. Kaffernlimette und Purple Curry spielen auch noch irgendwo eine Rolle, und am Gaumen knistert das so, wie die Kaugummis mit Astronautenmotiv aus den Achtzigerjahren. Das will jetzt auch nicht unbedingt die Patisserie-Welt revolutionieren, aber die kurzweilige süße und erquickende Gaumenfreude in an dieser Stelle absolut zufriedenstellend. (8/10)
Wer das Menü klassisch ausklingen lassen möchte, so wie ich heute Abend, genießt noch Käse und Pralinen, die beide auf entsprechenden Wägen präsentiert werden. Beides ist hervorragend; auch die Pralinen sind auf hohem Niveau (8/10).
Es bleibt beim Alten. Der Spaß, hier am Tisch zu sitzen, die charmant unprätentiöse, manchmal regelrecht »bodenständige« Küche, die nie protzen möchte oder kompliziert sein will, die sich stets auch etwas der Heimat zuwendet, die einfach nur köstlich sein will, und die stets makelloses Handwerk zur Schau stellt: all das ist hier Teil des Erlebnisses.
Man kann aber auch feststellen, dass hier in letzter Zeit nicht mehr allzu viel Überraschendes geschieht. Die Zeiten, in denen man die Küche hier als »kreativ« einordnen konnte, liegen eindeutig in der Vergangenheit. Und wer die Produkte, Techniken und Präsentationen mit vielen anderen Drei-Sterne-Küchen vergleicht, darf sich hin und wieder auch mal wundern. Aber die lässige Souveränität, mit der die Küche hier aufgetischt wird, die sucht auf diesem Niveau in Deutschland ihresgleichen.