Lakeside – Wein im Sinn
Das Restaurant Lakeside in Hamburgs gerade mal fünf Jahre jungem Luxushotel The Fontenay hat bereits eine bewegte Historie: ein zielstrebig erkochter Stern mit dem ersten Küchenchef Cornelius Speinle, ein Zerwürfnis zwischen diesem und Inhaber Michael Kühne, danach hastig ein neues Konzept ohne Stern, den dann wiederum der aktuelle Küchenchef Julian Stowasser (ehemals Weinsinn in Frankfurt) zurückholt, dann die Schließung während der Pandemie – und seit diesem Jahr sogar zwei Michelin-Sterne.
In der siebten Etage des Hotels sitzt es sich eigentlich spektakulär – eigentlich, weil die grauweißen Räumlichkeiten nach wie vor eine eher biedere Sachlichkeit ausstrahlen als gute Laune. Und wenn man im Winter kommt, verwandelt sich die große Fensterfront mit charmantem Alsterblick in Ermangelung einer leuchtenden Skyline in eine Art schwarzen Spiegel.
Dafür ist die Weinkarte eine der besten in Hamburg. Gerne gehe ich eine Etage tiefer an die Bar, bestelle einige (leider stark verbesserungsbedürftige) Snacks und ein gutes Fläschchen. Nach oben ins Restaurant, zum aufwändigen Mehr-Gänge-Menü und förmlicher Routine, zieht es mich selten. Das hat weniger mit dem Können der Küche zu tun als mit dem Konzept.
Das aktuelle Menü (sieben Gänge, 225 €) beginnt mit drei Petitessen. Ein Gurkendrop mit Crème fraîche ist sehr akkurat gearbeitet und gefällt mir aromatisch besonders gut in Kombination mit der obenauf platzierten Dillblüte (7/10); eine Croustade mit geschmacklich intensiver Tomatenfüllung und Basilikum folgt der präzisen Verarbeitung mit einem angenehm leichten Teig und bietet dabei reichlich Umami (7/10); ein Ume-Baiser mit Pilzcreme und Kräutern erinnert geschmacklich an Vadouvan, was spannend ist. Auch die feinknusprige – statt oft in dieser Form klebrige – Textur ist sehr gut umgesetzt (7,5/10).
Der nächste Appetizer ist eine gegrillte Auster, die mit einer sahnigen Kaviarcreme und Sellerie in einem Porzellanschälchen in Austernoptik angerichtet ist. Die Sauce mit Kaviar unterstreicht sehr genussvoll den maritimen Charakter der qualitativ exzellenten Auster, während die cremige Textur alles etwas abmildert. Man hat hier eine herausragende Balance zwischen kühler Temperatur, Salz, Jod, Säure und noch einigen knusprigen Elementen. Das ist mehr als hervorragend, was man auch mit dem aufwändigen Geschirr unmissverständlich unterstreichen möchte. (8,5/10)
Das Menü startet offiziell mit Wagyu aus Bayern, das man in dünnen, rohen Scheiben mit einer Tafelspitzvinaigrette, »Frankfurter Kräutern« und Röstzwiebeln serviert. Den Wohlgeschmack sieht man der Kreation bereits an, weswegen die dazu am Tisch folgende Vorstellung, bei der eine geeiste Zwiebelvinaigrette in Form von dampfend kalten und knisternden Stücken über den Teller gegeben wird, entbehrlich wäre. Aber auch das ist folgerichtig, denn das hiesige Publikum lässt vermuten, dass es eher über solche Effekte staunt als bereits über die appetitliche Marmorierung des hervorragenden Rinds. Am Gaumen geht es letztlich um den verführerischen Schmelz des Fleischs in Kombination mit einer süffigen Säure. Die Aromen der Röstzwiebel steuern noch etwas angenehm Rustikales hinzu. Erneut ist das hervorragend. (8/10)
Die Weine fallen heute Abend in Anbetracht einer privaten Feierlichkeit recht umfangreich aus. Es floss bereits ein 2005er Dizy »Corne Bautray« des Champagnerwinzers Jacquesson (260 €), jetzt ist ein 2018er Skurfberg Chenin Blanc von Eben Sadie aus Südafrika im Glas (99 €), und ein 2019er Puligny-Montrachet »Clavoillon« von der Domaine Leflaive (310 €) ist bereits auf dem Weg in die Karaffe. Weiteres ist bestellt.
Das weiße Line-up passt auch gut zum bretonischen Hummer, der in mundgerechten Stücken in einer Zitronengrasbouillon angerichtet ist. Weitere Komponenten, die man teilweise auf dem Tellerrand anrichtet, beinhalten kleine Karottenröllchen mit Ananas sowie Sesammayonnaise. Es geht hier also prinzipiell um das sehr gute Krustentier in Kombination mit säurebetonten exotischen Fruchtaromen. Die Säure ist ein wenig am Anschlag justiert, ansonsten ist das, sagen wir, unspektakulär einwandfrei. (7/10)
Das Thema mit der exotischen Säure ist beim nächsten Gang mit Wolfsbarsch noch etwas besser umgesetzt. Ein quaderförmiges Stück des Fischs wurde mit Queller, Artischocke, Sepiachips und Tupfen von Rouille-Mayonnaise dekoriert; dazu wird am Tisch ein Fenchelsud mit Safran und Olivenöl angegossen. Die Zutaten ziehen alle Register eines angenehm mediterranen Geschmacksbilds. Wieder ist eine appetitanregende Säure präsent, die hier auf kurzweilige Art mit den warmen Aromen des Safrans spielt. Das ist aromatisch so gelungen, dass es sogar den etwas überstrapazierten Garpunkt des Wolfsbarschs kaschiert, den man ohnehin nicht zum Leitmotiv erhebt. Sei es drum, es schmeckt exzellent, und der Fisch ist in jedem Fall von makelloser Qualität. (7,5/10)
Der nächste Gang wäre eigentlich mit Taube vorgesehen; ich habe diese durch Rinderfilet ersetzen lassen. Das Fleisch ist luftig-knusprig mit Quinoa ummantelt, darauf findet man ein blumiges Shiso-Gel, alles schmiegt sich an eine mit Miso und Yuzu aromatisierte Hollandaise, der man bodenständigen Schnittlauch untergehoben hat. Yuzu, Shiso: Da sind sie wieder, die Zutaten, die man nur schmeckt, aber in deutschen Restaurants so gut wie nie zu Gesicht bekommt. Dennoch ist alles an diesem Gericht fachlich hervorragend, vom Garpunkt des saftigen Filets über die üppige, fluffige und hervorragend abgeschmeckte Hollandaise bis zum kleinen Frischeakzent durch eine auf dem Tellerrand angerichtete Komponente mit Sellerie und Buchenpilzen. (8/10)
Der Hauptgang mit Lamm aus dem Limousin überzeugt dann durch eine sehr präzise orientalische Geschmackswelt und eine nach allen Registern der Kochkunst hervorragende Demiglace. Der »warme«, fernöstliche Eindruck wird durch eine Praline mit Minzspinat und einem zu einer Art Dragee geformten Auberginenconfit unterstrichen. Die Fettschicht des Lammrückens weist appetitliche Röstspuren auf; das Fleisch selbst ist saftig, aromatisch und zart – einwandfrei also –, zählt aber wegen einer sehr homogenen Garung und Magerkeit nicht zu den aufregendsten Stücken Lamm. Ein à part serviertes kaltes Naan-Brot mit Joghurt-Tupfen steigert das – wohlbemerkt sehr gute – Niveau nicht (denn auch »sehr gut« ist steigerbar, daran muss immer wieder erinnert werden). In Summe schmeckt das hervorragend, ist aber etwas technisch. (7/10)
Und so sehr ich mir wünschen würde, dass die wegen dutzender Tupfen und Kleckse manieristische Anrichtweise eines Käse-Dessert-Zwittergangs mit Gorgonzola, Pfirsichkompott und sizilianischer Pistazie nur optisch vom tatsächlichen Genuss ablenkt, schmeckt das alles ziemlich wirr – vor allem, weil sämtliche Zutaten verarbeitet und verfremdet wurden. (6,9/10)
Ganz anders dagegen eine Kreation um »Schwarzwälder Kirsch«. Die Interpretation der namensgebenden Torte ist hier sozusagen »umgekehrt« angerichtet, mit einem weich-knusprigen Kuchenboden ganz obenauf, darunter dann verschiedene cremige und marmeladenartige Zubereitungen von Sahnecreme und Kirschen. Das ist ein Dessert aus dem Schlaraffenland, das vor allem durch eine anspruchsvolle Balance zwischen Süße, Säure und feiner Salzigkeit (aus dem Teig) herausragt. (8,5/10)
Ein zweites Dessert mit Amalfi-Zitrone, Salz-Cracker, Holunderblüte und geflämmtem Baiser begeistert wieder mit einem weichen, aber dennoch knusprigem »Kuchenboden«, sommerlichen Zitrusaromen und einer erweckten Erinnerung an Lagerfeuer-Marshmallow. Geschmacklich und handwerklich ist das erneut sehr gelungen. (7,9/10)
Auch die Pralinen sind stark: Es gibt Piña Colada, Cassis-Cheesecake, Gin Basil Smash und Himbeer-Joghurt in unterschiedlichen Formen, alle hervorragend – nicht zu süß und mit sehr präzise herausgearbeiteten Geschmacksbildern des jeweiligen Themas. (8,5/10)
Der Service war den ganzen Abend über freundlich und kompetent, und dass man zwischen den Gängen ab und zu mal mit seinem Weinglas auf die Terrasse spazieren kann (was niemand sonst in Anspruch nimmt), lockert den Ablauf etwas auf.
Der Gelegenheitsgourmet kann an dieser Stelle – ob der technischen Präzision, Begriffen wie Wagyu und Shiso, des professionell nachgeschenkten Wasserglases oder eines »rundum gelungenen Abends« – nur ein schwärmerisches Fazit ziehen. Als passionierterer Esser wird man Mühe haben, sich für diese Küche zu begeistern, da es hier weder um eine kulinarische Vision noch um die Darstellung besonders interessanter Zutaten geht. Wer »Gurkendrop« und »Ume« sagt, kann auch »Selleriebaiser« und »Yuzu« sagen, ohne dass sich jemand wundern würde. Es ist diese Art von Beliebigkeit, die immer noch vielen deutschen Spitzenrestaurants innewohnt, die sich den mausgrauen Teppich mit dem Lakeside teilen. Sie spricht einer solchen Küche ausdrücklich nicht ihre Leistung ab, aber ihre Relevanz. Aber wenn man schon mal hier ist, kann man ja noch mal einen Blick in die Weinkarte werfen.