Atrio – Teil 2: Die Pastete
Nimmersatt, töricht, man kann es bezeichnen, wie man will, dass ich einfach für beide Abende, die ich im Atrio vor Ort bin, im selben Restaurant einen Tisch gebucht habe. Aber dazu fällt mir nur das berühmte Zitat von Steve Jobs ein: »Stay hungry, stay foolish!«. Klar, der Kontext war ein anderer.
Dennoch, hätte ich gewusst, dass hier nur ein einziges Degustationsmenü serviert wird, hätte ich mich zumindest vorher erkundigt, ob es im dreifach besternten Hausrestaurant verschiedene Essensoptionen gibt.
Am Ende kann man natürlich davon ausgehen, dass sich ein Haus dieser Klasse bei einem melden würde, beginge man irgendwelche groben Planungsfehler. Etwas nervös wurde ich gestern Abend dennoch, als mir nach dem fulminanten Menü einfiel, dass mir am Folgeabend eigentlich noch mal dasselbe Erlebnis bevorstehen könnte. So gut das auch war, brauche ich davon nach vierundzwanzig Stunden keine Wiederholung. Und hätte ich vorher gewusst, dass die Inhaber Toño Perez und José Polo gerade ein neues Bistro gegenüber eröffnet haben, mit einer legeren A-la-carte-Küche und einem märchenhaft beleuchteten Innenhof, säße ich vermutlich heute Abend dort.
Doch man ist bestens vorbereitet. Ich bin immerhin nicht der einzige Gast, der auf die Idee kommt, das Haus länger als nur eine Nacht zu besuchen.
So gibt es heute, auf meinen Wunsch an einem anderen Tisch mit neuer Perspektive, ein Menü mit »Klassikern«, aber auch einigen Experimenten. Es ist daher nicht als aktuelle kulinarische Referenz zu verstehen, sehr wohl aber als ein Zeichen von Kreativität, Flexibilität und handwerklichem Können.
Mit dem passionierten Sommelier, dessen Ernsthaftigkeit man nicht mit Arroganz verwechseln darf, hatte ich gestern bereits einige Optionen den Wein betreffend ausgelotet. Eine davon macht er zum Start in den Abend in Form eines 1991er Vinhas Velhas Branco vom Weingut Luis Pato dingfest (150 €), ein noch sehr lebendiger, komplexer Weißwein aus dem Weinbaugebiet Bairrada in Portugal.
Den Aperitif begleitet ein Rote-Bete-Macaron mit Sellerie und Kaviar, der von einer feinen Süße und einem authentischen Rote-Bete-Aroma lebt. Der Kaviar dürfte hier ruhig noch etwas mehr zum Vorschein gelangen, um die Süße zu kontrastieren, dennoch ist das hervorragend. (8/10)
Ein weiteres Quartett von Snacks folgt. Eine Blume aus knusprigem Mais mit Eigelb und Kaviar setzt das Thema »fruchtige Süße mit Kaviar« fort; in diesem Fall nimmt ein »Frittiergeschmack« aber etwas überhand (7/10). Um Klassen besser ist eine Tartelette mit einer Mousse vom Lachs mit Lachsrogen und verschiedenen Blüten: salzbetont, floral und ein mundfüllendes Vergnügen (8,9/10).
Ein »Tempura« vom Hummer, serviert an einem kleinen Spieß, demonstriert zwar nicht die verführerisch luftige Knusprigkeit der japanischen Technik, wohl aber süffigen Wohlgeschmack und eine gewitzte Säure von eingelegtem Gemüse (8/10). Als letztes in dieser Reihe gibt es ein Stück eingelegten grünen Spargel auf einem (etwas zu festen) Gebäck. Eine Korianderemulsion hält den Spargel darauf fest und sorgt für einen aromatisch sehr gelungenen Zweiklang (8/10).
Beim Servieren der Kleinigkeiten wird mehrfach betont, dass es sich teilweise um noch nicht fertig optimierte Kreationen oder um Improvisiertes handelt. Im Vergleich zum gestrigen Menüauftakt ist das zwar an Details erkennbar, aber das Niveau ist allgemein sehr hoch. Ich bin gespannt, welche Richtung das Menü einschlagen wird, wenn der rote Faden jetzt nicht mehr so klar definiert ist wie mit dem gestrigen Thema Iberico-Schwein.
Mit »Bloody Mary« folgt dann zunächst ein avantgardistisch anmutender Gang. Auf einem leuchtend roten Tomaten-Granité ist ein cremiges Eis von grüner Olive angerichtet, daneben ein kleiner Salat aus Staudensellerie. Am Tisch wird noch ein knallroter, kühler Tomaten-Sardellen-Sud angegossen. Das ergibt, auch der niedrigen Temperatur wegen, ein schlankes, geradliniges Geschmacksbild mit glasklaren Aromen von pfeffrig gewürzter Tomate, etwas Tiefe von der Sardelle, mediterraner Olive und frischen Kontrasten durch den Sellerie. Küchenchef Perez und sein Team haben schon gestern demonstriert, wie hervorragend sie Aromen kombinieren – das hier ist ein weiteres Beispiel. (8,9/10)
Mit einem Carpaccio von marinierten Garnelen geht es weiter. Interessant ist die Konsistenz: Man hat das Fleisch der Krustentiere offenbar so geplättet, dass eine fast homogene dünne Schicht entsteht, die erst bei näherer »Bearbeitung« ihre tatsächliche Kleinteiligkeit offenbart. Das Ganze ist mit einer authentischen, klassischen Vinaigrette angemacht und mit saurer Sahne und Kaviar umrandet. Man erhält hier ein sehr verfeinertes Bild von der Idee »Krustentier mit Essig und Öl«. Das Gericht erinnert mich sehr an den Carpaccio-Klassiker mit Dorade in den »Ateliers« von Joël Robuchon, wobei es mir bei derart grundlegenden Rezepten gar nicht um eine Urheberschaft geht. Zweifellos hervorragend. (8/10)
Was dann über nächste Gänge, nur kurz ununterbrochen, folgt, ist aber nicht weniger als eine kulinarische Sensation.
Den Beginn macht ein Pâté en croute, den einer der Köche im Ganzen direkt am Tisch präsentiert. Er hätte sich während der Pandemie und Lockdowns intensiver mit solchen Dingen beschäftigt, erklärt er mit sichtlich stolzer und zufriedener Miene. Besonders das Zwei-Sterne-Restaurant Bozar in Brüssel, das für seine Pasteten berühmt ist, diente ihm für diesen Gang als Inspiration.
In die Pastete wurden unter anderem Huhn, Ente, pluma und secreto vom Iberico-Schwein, Pistazien, Karotten und provenzalische Kräuter verarbeitet. Auf dem Teller findet man eine in handliche Portionen geschnittene Scheibe des Patés, dazu dünne Scheiben schwarzen Trüffels, einige kleine Salatblätter und Kräuter, kleine scheiben Essiggurken und -zwiebeln, eine Kräutercreme und eine »japanische Mayonnaise« mit Algenpulver. Die behutsame Portionierung der klassischen Bistro-Zutaten sorgt in Kombination mit dem Trüffel und den komplexeren Cremes dafür, dass die Bodenständigkeit der Pastete – ihr »Bistro-Charakter« – nur noch als Idee über dem Teller schwebt. Der üppige Fettgehalt der Pastete, ihre dichte, eher weiche Konsistenz und das ständige Spiel mit ausbalancierender Säure und Frische ist größtes kulinarisches Kino. Und welch besseres Kompliment könnte man in die Küche zurücksenden als um eine weitere Portion zu einem späteren Zeitpunkt zu bitten? (10/10)
Ein »Cappuccino« mit einer Creme aus Foie Gras, knusprigem Mais und Parmesan-Schaum kontrastiert, vielleicht ungewollt, den überraschenden Höhenflug mit einer deutlichen Bitterkeit, die von der Foie Gras herrührt. Eigentlich klingen die Zutaten nach einem Garant für süffigen Wohlgeschmack, doch die bittere Note nimmt leider etwas überhand. Sehr gut, dennoch. (7/10)
Der folgende Gang ist ein Ceviche, das in einer Art Eisblock serviert wird. Das ist eine gute Idee, nicht nur, weil Kälte bei einem Ceviche besonders wichtig ist, um die typische Säure und Frische zu betonen, sondern auch, weil der direkte Kontakt mit dem Eis hier auch dafür sorgt, dass die Zutaten fester und viskoser werden. Dabei schafft man es erstaunlicherweise, dass das Eisgefäß kaum Schmelzwasser abgibt und die Zutaten auch nicht anfrieren. Hierbei hilft vielleicht auch eine Schicht Basilikumöl, die sich zwischen dem Eis und den restlichen Zutaten befindet. Dies sind Wolfsbarsch, rote Zwiebeln, geröstete Maiskörner, Koriander und eine mit Passionsfrucht und Limone aromatisierte leche de tigre. Letztere ist deutlich cremiger als bei der klassischen Vorlage und schmeckt hier leicht »senfig«, was eine – wohl zufällige – aromatische Brücke zu der Pastete schlägt. Eine spürbare Schärfe bringt etwas kontrastierende Hitze ins Spiel. Das ist insgesamt eine himmlische Kombination: spannungsvoll, herzhaft, leicht und zum Augenschließen wohlschmeckend. Nie hätte ich mich lieber in einen Eisblock hineingelegt. (10/10)
Die Reise geht weiter mit einem Risotto, dessen weitere Begleiter hauchdünne Scheiben von weißem Spargel, etwas Spinat und schwarzer Trüffel sind. Die spanischen Wintertrüffeln haben einen etwas animalischen Duft im Gegensatz zu den bekannteren Exemplaren aus dem Périgord oder Australien und positionieren das Gericht damit in die Region. Mein Platz duftet, nach Wald, nach Herzhaftem, nach Säure und Hitze; und genau so schmeckt es auch. Es ist fast, als könne man die cremige Sämigkeit des Risottos riechen. Eine leichte Schärfe lässt am Gaumen alles noch präsenter wirken. Das Risotto kann es mühelos mit einer Referenz wie dem legendären Safranrisotto im Le Calandre aufnehmen. Auch dies ist ein kleines Meisterwerk. (10/10)
Im Glas und in der Karaffe ist längst auch ein Rotwein, ein 2013er Cornas von Auguste Clape (230 €). Der elegant würzige Syrah könnte kaum besser zu dem noch nachklingenden Gericht passen.
Ein Gericht mit gedämpftem Hecht, Blumenkohl und Mandelpüree mit Flakes von getrockneter Jakobsmuschel ergreift mich vor allem durch eine phänomenale, saftige Textur des Fischs und ein frappierend grandios integriertes Knoblauch-Aroma, das von einer Ajoblanco-Sauce herrührt, eine Spezialität der Region. In diesem seltenen Genuss-Fluss vergesse ich glatt, Fotos von dem Gericht zu machen. Aber meine Notizen zeigen es ganz eindeutig, auch dieser Gang ist eine glatte 10/10.
Rechtzeitig zum nächsten Gang bin ich wieder ganz bei Sinnen. Es gibt ein Stück Zicklein, sehr klassisch in einer »klebrigen« Kraftsauce (vom gleichen Tier) angerichtet und lediglich von einem Kartoffelpüree und einem transparenten Kartoffelchip begleitet. Das Fleisch duftet appetitlich herzhaft, und bereits das Berühren mit der Gabel offenbart dessen saftige, buttrige Zartheit. Es ist eine seltene Qualitätsoffenbarung und zweifellos eine Referenz für diese Zutat.
Zu diesem fulminanten herzhaften Finale tischt man schließlich noch einmal eine kleine Portion des Patés auf. Es ist genau der richtige Moment für diese erbetene Wiederholung. Das gleichzeitige Servieren zum Zicklein erlaubt ganz neue Eindrücke: der Trüffel zum Zicklein, die Sauce zur Pastete und die mit ihrer bodenständigen Säure alles auflockernde Essiggurke. Das ist nicht nur qualitativ und handwerklich auf höchstem Niveau, sondern herzerwärmend und denkwürdig. (10/10)
Nach diesem selten grandiosen Gipfelmarsch sieht das erste Werk aus der Patisserie ebenso vielversprechend aus. Es rankt um das Thema rote Früchte. Verschiedene Erdbeersorten, Blaubeeren und Himbeere, jeweils in unterschiedlichen Zubereitungen, kommen hier auf einem in Sherry getränkten Kuchen in einem kalten Himbeersüppchen zusammen. Holunderblüten verleihen der Speise eine florale Ästhetik. Fast würde die Speise den vorherigen Höhenflug fortsetzen, wäre sie nicht ein wenig zu üppig portioniert, der Sherry nicht allzu spritig eingebunden und der Kuchenboden vielleicht doch nicht so ganz aufgeweicht. Große Klasse ist das dennoch, vor allem wegen der besonders aromatischen Beeren. Wir kommen von ganz oben. (8,9/10)
Mit Tocinillo, benannt nach der andalusischen Flan-Spezialität, folgt ein Joghurteis mit schlanker Säure, kombiniert mit warmer Eigelbcreme, exotischem Kokosschaum und einem knusprigen Krokantring. Das ist makellos. Wie Puzzleteile kommen Säure und Süße, Kühle und Wärme, Knuspriges und Cremiges hier zusammen. (9/10)
Die Petit-Fours sind wie gestern, das heißt sehr gut, aber nicht an das Niveau des Menüs anknüpfend. Angesichts der offenkundigen Fähigkeiten der Patisserie ist das etwas seltsam. Am besten ist eine Tartelette, die das Thema Beeren und Holunderblüten wieder aufgreift, hier etwas komprimierter. Die weiteren Kleinigkeiten sind mir oft eine Spur zu süß oder zu trocken. (7/10)
Hieß vor vierundzwanzig Stunden der rote Faden noch Iberico-Schwein, war dieses Menü eher klassisch französisch fundiert, dennoch oft mit regionalem Bezug, und handwerklich meisterhaft umgesetzt. So sehr das heutige Menü damit konzeptionell nicht das aktuelle Œuvre der Küche repräsentiert, zeigte es sehr wohl ihr Können. Ich meinte dabei zu spüren, dass die Küchenbrigade heute sogar noch eine kleine Prise mehr Herz und weniger Konzept verarbeitet hat. In jedem Fall besiegelt dieser Abend die zweite große kulinarische Darbietung des Atrio innerhalb von 48 Stunden. Ein Frage drängt sich mir aber auf: Warum habe ich hier nicht auch zum Mittag gegessen?