Cocina Hermanos Torres – zwischen den Stühlen
Barcelonas jüngstes, inzwischen drittes, Drei-Sterne-Restaurant rief bei mir eine Reise in die katalonische Stadt auf den Plan. Gegen halb neun komme ich an diesem schon frühlingshaften Februarabend im Restaurant an. Der auffällig gestaltete Eingang mit schwarz umrahmter Tür könnte auch zu einem trendigen Nachtclub gehören.
Überraschend unbeholfen geht man mit der Empfangssituation um, bei der es zunächst heißt, im vorderen Barbereich zu warten. Vorschläge für Getränke werden dabei nicht gemacht, man könne aber gerne einen Sommelier kommen lassen. Das klingt mir zu umständlich. Von irgendwo her gelangen dann doch noch ein kleiner Teller mit Schinken an den Tresen sowie ein Glas Cava (2016 Juvé & Camps Millesimé Brut Reserva, 18 €), dann geht es aber auch schon mit dem Glas in der Hand an den Tisch.
Der achthundert Quadratmeter große Saal, zuvor industriell genutzt, ähnelt einer Veranstaltungshalle, in deren Mitte die Köchinnen und Köche an drei langen Küchenzeilen an ihren Posten arbeiten, dazwischen die Zwillinge Sergio und Javier Torres. Die Brüder kochen nicht nur bereits seit vielen Jahren in unterschiedlichen Restaurants zusammen, sondern sind auch medial präsent und haben ein in avantgardistischen Küchen weit verbreitetes Gerät namens Gastrovac entwickelt. Das Cocina Hermanos Torres eröffnete erst im Jahr 2018 seine Pforten.
Als Gast hat man von jedem Tisch aus einen Blick über das kurzweilige Geschehen, und trotz der schwarzen Wände und grellen Beleuchtung ist das alles recht atmosphärisch.
Angeboten wird ein umfangreiches Degustationsmenü zu 255 €. Die Weinkarte bietet diverse spannende Möglichkeiten aus der ganzen Welt zu vergleichsweise fairen Preisen, wie in Spanien üblich. Richtige Schnäppchen gibt es aber nicht. Nach dem Cava fällt meine Wahl auf einen 2008er Viña Tondonia Rosé (195 €).
Das Menü beginnt mit einer in ein Glas eingeschenkten Wildconsommé, die sich am Gaumen verführerisch leicht präsentiert; ein dazu gereichter filigraner Cracker mit Rosmarin übernimmt mit einem ausschweifenden Bouquet an ätherischen Aromen den kraftvollen Teil dieser Darbietung. Sehr eindrucksvoll. (9/10)
Weitere Amuse-Bouches werden sukzessive aufgetischt: eine herzhafte, mit flüssiger Paprika gefüllte Praline mit Sardelle (8,9/10), eine deutlich zu große, am Gaumen leicht stumpfe, aber dennoch wunderbar erdige Tartelette mit spanischem Wintertrüffel (8/10), sowie ein mit appetitlich eingelegtem Gemüse gefüllter und einer Scheibe üppigem Eichelschinken getoppter Chip (8,5/10). Es ist ein kurzweiliger Einstieg ins Menü, angenehm schlicht und doch voller geschmacklicher Präzision.
Die nächste Kreation ist ein Surf and turf, bei dem übereinander angerichtete Nocken von fein gewürfeltem, geräuchertem Tintenfisch sowie Kaviar die maritime Seite verkörpern, während ein kühler, klarer Hühnerfond Herzhaftes vom Land thematisiert. Das Gericht ist von frappierender Klarheit. Die kleinen Tintenfischwürfel mit kompakter Textur und leicht rauchiger Tiefe, der betont nussige Kaviar, und der elegante, kühle Hühnerfond ergeben einen Dreiklang zum Abtauchen. Die niedrige Temperatur ist eine wichtige Komponente dieser Kreation, weil sie die Klarheit der Aromen intensiviert. Absolut großartig. (10/10)
Es geht weiter mit Aal, einer beliebten Zutat hier in Katalonien. In Anbetracht der vorherigen Schlichtheit wirkt die jetzige Präsentation fast schon enttäuschend komplex. Der ringförmig angerichtete, gegrillte Aal versteckt sich in Form von mehreren Stücken unter einer Dekoration mit sternförmig ausgestochenem Gemüse wie eingelegtem Blumenkohl, Zitrusfrüchten und Forellenkaviar. All das ist in einem warmen Blumenkohlsud angerichtet, und wenn man einen Löffel von dem heißen Aal mit seinen deutlich präsenten Röstspuren probiert und feststellt, wie elegant dessen Üppigkeit durch die Säure der anderen Komponenten ausbalanciert wird, bleibt am Ende nur noch der Hauch des Gedankens übrig, dass man diese Eindrücke vielleicht noch etwas fokussierter auf den Teller bekäme. (8,5/10)
Die zweite Darbietung mit Aal ist ein Add-on (45 €) mit Baby-Aal (angulas), eine Spezialität aus Nordspanien. Die kostspielige, aber leider auch recht neutral schmeckenden Delikatesse ist auf einem Pil-Pil-Schaum und einer Creme aus schwarzem Knoblauch angerichtet – eine Hommage an die entsprechende, in Spanien beliebte, Knoblauch-Öl-Sauce. Wenngleich der Umgang mit Knoblauch hier durch die wolkige Textur des Schaums elegant wirkt, habe ich für Gerichte, denen man ihr Anrichten mit einer iSi-Sprühflasche sofort ansieht, nicht besonders viele Emotionen übrig. Ein sehr ausbalancierter Salzgehalt, der präsente, aber elegant integrierte Knoblauch und die angenehm bissfesten Fischchen machen dies dennoch zu einer hervorragenden Speise. (8/10)
Der – auf hohem Niveau – leichte Spannungsabfall der letzten Gänge lässt mich ein wenig besorgt zurück, ob das alles hier in die richtige Richtung geht. Immerhin zählte ich Spaniens kreative Drei-Sterne-Restaurants in der Vergangenheit nicht gerade zu meinen besten kulinarischen Erlebnissen.
Die Stimmung im Restaurant und am Tisch hat gleichwohl mit Besorgtheit nichts zu tun. Ein 2019er Volnay 1er Cru »Les Chevrets« von der Domaine Henri Boillot (205 €) bereitet elegant-würzige Burgunderfreude, und es macht Spaß, Teil des geschäftigen Restaurantbetriebs zu sein.
Und dann kommt das Meer, die Marina, das Hafenbecken: ganz klar, es geht um Seeigel. Die Delikatesse, der man von Los Angeles über Barcelona bis Tokio als passionierter Esser nur verfallen sein kann, macht hier ihre gute Figur in Form eines Gerichts mit Pasta. Dünne Tagliolini liegen längs aufgerollt in einer cremigen Seeigel-Sauce; auf der Pasta selbst liegen drei Zungen des Stachelhäuters in dunkelorangem Teint, ein Hinweis auf ihre europäische Herkunft, in diesem Fall Galizien. Es gibt wenig Süffig-Wohlschmeckenderes als bissfeste Pasta mit jodig-cremigem Seeigel. Ein luftiger Algen-Schaum erweitert die maritime Geschmackswelt um etwas leicht Herbes. Das Gericht ist, vom Handwerk der Pasta bis zum hervorragenden Seeigel, auf einem Weltklasseniveau, aber an meine Referenz für Seeigelpasta aus dem Masseria in Washington, D.C. kommt das nicht ganz heran. Es macht Freude, solche Vergleiche zu haben. (8,9/10)
Wir sind also zurück in der Spur. Und es gibt Grund zur Vorfreude, denn der nächste Gang thematisiert Erbsen, eine Zutat, die man in Spanien in höchster Güte genießen kann. Diese Exemplare stammen aus Maresme, ganz hier in der Nähe, und platzen im Mund auf wie nichts Vergleichbares, während sie dabei ihre chlorophyllherbe Süße preisgeben. Die Erbsen wurden hier durch einen Schinkensud mit etwas mehr Tiefe und Salz ausgestattet, feine Brotkrumen (migas de pastor) bringen einen abwechslungsreichen, aber fast nicht nötigen, Texturkontrast. Eine wunderbare Hommage an ein wunderbares Produkt. (8,9/10)
Mit dem nächsten Gang folgt ein Signature-Gericht der Torres-Brüder, eine Art Zwiebelsuppe mit Parmesan und Wintertrüffeln. Letztere beiden Zutaten scheinen optisch über dem Gericht zu schweben, was an einer geschickten Anrichtweise in Form eines ringförmigen Ornaments aus Parmesan liegt, das seines Durchmessers wegen in dem tiefen Teller oberhalb der Suppe platziert werden kann, ohne darin zu versinken. Das Gericht duftet nach süßer Zwiebel, herzhaftem Parmesan und erdigem Trüffel – und damit eigentlich nach großem Genuss. Doch nach wenigen Löffeln ist klar: der Duft täuscht. Die große Menge Parmesan verwandelt sich in der Suppe, die eher ein Mus ist, zu einer pappigen Masse, die Trüffeln (aus Aragon) sind gut, aber nicht großartig, und am Ende bleibt ein pappig-süßer Eindruck am Gaumen, den ich nicht allzu sehr in die Länge ziehen möchte. Ein kleiner Rest bleibt daher auf dem Teller, Rückfragen bleiben aus. Apropos Vergleichsmöglichkeiten: eine noch kreativere Zwiebelsuppe aus einem von Barcelonas anderen Drei-Sterne-Restaurants, dem ABaC, ebenfalls mit einer Zubereitung aus Parmesan, bescherte mir vor einigen Jahren eine der Speisen des Jahres. Verkostete man die Gerichte parallel, wäre jedem Esser unmittelbar klar, welches Gericht den Vorsprung hat. Unter Aspekten der Bodenständigkeit ist das hier vielleicht noch ein akzeptables Gericht, aber nicht im Menü eines Drei-Sterne-Restaurants. (6,5/10)
Der folgende Gang ist wieder verständlicher. Es gibt rohe andalusische Garnele in Stücken, dazu feine Ringe von mariniertem Daikon, eine kammförmig angerichtete »Seefenchel-Béarnaise« sowie eine Corail-Mayonnaise. Die rohe Garnele ist von herausragender Qualität, eine der besten, die ich je probiert habe: mit kompakter, bissfester Textur und angenehm »meerigem« Aroma. Zusammen mit den cremigen, aber durch den unverkennbaren Texturgeber-Einsatz etwas artifiziell wirkenden Saucen schmeckt die Garnele hervorragend. Auch etwas Alge, die aufgrund der manierierten Anrichtweise fast vom Tellerrand fällt, passt gut zum maritimen Fokus des Gerichts. Eine hervorragende Qualitätsschau. (8,5/10)
Ich freue mich nun auch auf etwas Fleisch, das beim nächsten Gang in Form von Milchferkel auf den Teller gelangt. Zwei unterschiedliche, kross gebratene Stücke mit jeweils appetitanregendem Fettdeckel präsentieren erneut ein Produkt höchster Güte und dessen makellose Zubereitung. Nicht nur das Fleisch ist saftig und aromatisch, die Fettschichten, eingeritzt und herrlich kross gebraten, sind fast so zart wie ein Gelee. Eine nach allen Regeln der (französischen) Kochkunst reduzierte Demi-glace bringt etwas Klassik auf den Teller, für deren regelrecht erleichternden Genuss man sich nicht zu schämen braucht. Tamarinde und Aprikose in Form von dekorativ aufgetragenen Pürees wurden dem Fleisch als süßlich-fruchtige Begleiter mitgegeben, die ihren Zweck erfüllen. Erneut entdeckt man hier eine Produktqualität von seltener Güte und exzellentes Handwerk. Besonders aufwühlend ist aber auch dieser Teller nicht. (8,5/10)
Im Glas klingt dazu eine Flasche 2019er Flor de Pingus (270 €) aus. Der fruchtig-würzige Tempranillo war zum Ferkel sehr passend.
Eine Gaumenerfrischung nach dem Hauptgang folgt in Form eines luftigen Wermut-Eis mit den Aromaten Rosmarin, Zitrone und schwarzer Olive in unterschiedlichen Formen. Das Dessert ist geschmacklich exzellent zwischen Bitterkeit, Säure und Süße ausbalanciert, auch aromatisch passt das zusammen wie bei einem gutem Cocktail. (8,5/10)
Das nächste Dessert ist eines dieser Art, die mit ihrem Texturschauspiel eher zum Fürchten aussehen. Die Kreation rankt um die Zutaten Apfel, Spinat, Karamell und einige Kräuter. Auch das klingt wirr, aber am Gaumen kommt das alles recht harmonisch zusammen. Wenn es jedoch nur darum geht, irgendwelche Aromen möglichst stark verarbeitet auf dem Teller zu kombinieren, sind mir derartige Kreationen deutlich zu weit weg von Themen, die mich in Bezug auf gutes Essen begeistern. Unter handwerklichen und geschmacklichen Gesichtspunkten ist das trotzdem sehr gut. (7,5/10)
Die letzte süße Kreation präsentiert Schokolade in unterschiedlichen Varianten, als Mousse, in Form von dünnen »Segeln« sowie als weißes Eis. Die außergewöhnlich gute Schokolade des Herstellers Cacao Barry, die hier verwendet wurde, fällt durch ihre erfrischende Säure sofort auf. Das Dessert tanzt zwischen Süße und Säure, knusprigen und cremigen sowie unterschiedlich temperierten Elementen. (8,5/10)
Das war genauso hervorragend wie die Petit-fours, die noch folgen. Es gibt einen Yuzu-Marshmallow, ein Zitronenküchlein, eine Schokoladenpraline mit Karamell, eine knusprige Brioche, Carquinyoli-Keks und Passionsfrucht-Profiteroles. (8,5/10)
Damit endet ein kurzweiliger Abend, der einen dennoch verwundert zurücklassen darf. Die Küche war größtenteils hervorragend, aber vor dem Hintergrund, dass hier gerade ein dritter Stern vergeben wurde, vermisste ich bei fast allen Gängen ein Niveau, das eine solche Aufwertung erklären könnte. Ebenfalls stellt sich eine noch viel tiefgreifendere Frage, nämlich die nach der Relevanz einer solchen Küche. Alles ja schön und gut, könnte man sagen, aber was soll das Theater? Hat man das nicht alles schon irgendwo gesehen? Wenn ja, warum wäre das erhaltenswert? Ist das Ganze sogar eher konservativ als kreativ? Was möchten uns die Autoren mit alledem sagen? Fragen, mit denen ich mich in den spanischen Spitzenrestaurants bekanntlich öfter konfrontiert sehe. Beantworten kann ich sie heute Abend nicht mehr, stattdessen trübt noch ein Problem mit dem Kreditkartengerät und mehreren irrtümlichen Abbuchungen den Rest des Abends (und des nächsten Vormittags). Dafür kann keiner was, aber der Abend endet genau so, wie er begonnen hat: mit einem hektischen Wirrwarr im Eingangsbereich. Ein kühles Glas Champagner ist abermals Fehlanzeige.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Cocina Hermanos Torres (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Javier Torres, Sergio Torres |
Ort: | Barcelona, Spanien |
Datum dieses Besuchs: | 10.02.2023 |
Guide Michelin (ES/PT 2023): | *** |
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