Amelia by Paulo Airaudo – gekommen, um zu bleiben
Verstärkt durch ähnlich viele Tattoos, erinnert mich Paulo Airaudo frappierend an Marcus Jernmark, den ehemaligen Küchenchef des Frantzén. Die Parallele wird noch deutlicher, je mehr man sich hier im Amelia das offenkundige schwedische Vorbild ins Gedächtnis ruft. Wie auch im hohen Norden gibt es einen Tresen, hinter der eine hippe Küchencrew an einem tasting menu werkelt, das in mehreren seatings serviert wird. Wie in Stockholm werden einem zu Beginn des Menüs exklusive Zutaten aus der ganzen Welt vorab präsentiert. Und wie in Schweden kommt man nach jedem Gang kaum aus dem Staunen heraus.
Es gibt jedoch viele Gründe, warum sich hier in San Sebastián nichts nach einem Abklatsch anfühlt. Zum einen hat das nach Airaudos Tochter benannte Restaurant ein sehr persönliches, entspanntes Flair. An einem langen, geraden Tresen vor der Küche sitzen bis zu zehn Personen mit großzügigem Abstand. Zusätzlich gibt es weitere Sitzgelegenheiten mit bequemen Polsterbänken, von denen aus man das gesamte Geschehen ebenfalls im Blick hat.
Zum anderen herrscht hier eine Souveränität vor, die vor allem von Airaudo ausgeht. Seelenruhig, aber hellwach, koordiniert der argentinische Küchenchef mit italienischen Wurzeln die Abläufe. Die souveräne Ruhe rührt vermutlich auch daher, dass Airaudo hier in San Sebastián laut eigener Aussage endlich angekommen ist. Seine rastlose, aber erfolgreiche Vita verrät diverse Stationen rund um den Globus. Aber dieses Restaurant hat er nicht nach seiner Tochter benannt, um es wieder zu schließen.
Das Amelia eröffnete im Jahr 2017 im Untergeschoss des Boutique-Hotels Villa Favorita. Der erste Stern stolperte regelrecht hinterher, der zweite folgte zuletzt in der aktuellsten Ausgabe des Guide Michelin.
Zu Beginn verrät die Präsentation einiger wesentlicher Zutaten bereits einige kulinarische Highlights des Menüs (€ 255). Rote Garnelen aus Dénia, Kaviar, blauer Hummer, Austern, Seeigel, Erbsen, aromatische Zitrusfrüchte und mehr bereiten Appetit zu einer Playlist mit David Bowie und den Rolling Stones. Der offene Champagner »Platine« Premier Cru von Nicolas Maillart (€ 18) wird kühl aufgetoppt, während ich in der unerwartet irritierenden Weinkarte stöbere.
Diese lässt meine Stimmung etwas kippen, denn während schon erste Amuse-Bouches aufgetischt werden, kämpfe ich mich durch eine Karte mit absurden Mondpreisen. Ein 2018er Puligny-Montrachet von Olivier Leflaive kostet z. B. € 598, ein 2018er Chardonnay »Adriana White Bones« vom argentinischen Weingut Catena steht mit € 460 auf der Karte, und ein 2017er Montepulciano d’Abruzzo von Emidio Pepe kostet € 589 – alles Weine mit einem aktuellen Marktpreis von jeweils ca. € 80. Ich klappe die Karte erst einmal frustriert zu und widme mich den appetitlichen Einstimmungen.
Eine Tartelette mit Stracciatella (dem Käse), marinierter Makrele und dünnen Abschnitten von weißem Spargel bietet ein feinsinniges Säurespiel und elegante Cremigkeit (8/10); ein Cracker mit Rehtartar und Eigelb begeistert durch die herrlich bodenständige Zugabe von Senf, idealer (leicht kühler) Temperatur und verführerischem Schmelz (8,9/10); und eine hauchdünne, knusprige Tartelette mit Hummer und Forellenrogen ist maritim und elegant (8,5/10). Ein Start mit Ausrufezeichen.
Mein zweiter Anlauf hinsichtlich der Weinkarte ist erfolgreicher. Ich werde fündig mit einem 1978er Rioja Alta »Reserva 904« für vergleichsweise faire € 280. Es erfordert ungewöhnliche Anstrengungen, um die wenigen Perlen zu entdecken.
In einem hölzernen Schälchen folgt ein Tartar vom Thunfischbauch von höchster Qualität, eingewoben in ein transparentes, kühles Wasabi-Gelee, getoppt mit feinstem Kaviar. Das klingt simpel, doch ein Geschmacks- und Qualitätserlebnis dieser Art – eine Melange aus Salz, Jod, Schärfe und verführerischem Schmelz – findet man nur in den besten Restaurants der Welt. (9/10)
Kokotxa (Kiemenbacken), eine der Spezialitäten der Region schlechthin, sind wegen ihrer gelatinösen Konsistenz nicht jedermanns Sache. Diese Version, die nicht näher erläutert wird, genießt man in einem unkomplizierten Bissen. Das Stück überzeugt mit einer unkomplizierten, weichen – aber nicht gallertartigen – Textur. Ein angenehmes, leicht säuerliches condiment ergänzt den kurzweiligen Snack. (7/10)
Der nächste Teller verrät schon optisch höchsten Genuss. Rohe Gelbschwanzmakrele kommt in perfekt geschnittener Dicke und mit sensationell buttrigem Schmelz; ein leicht säurebetontes und pikantes Ensemble von Kohlrabisud und Rettich belebt das Ganze, während etwas Dill und nussige Meeresalgen weitere Abwechslung bieten. Immer, wenn ich rohen Fisch auf diesem Niveau genießen kann, wird meine Sehnsucht nach der japanischen Küche ein kleines bisschen gestillt. Das ist erneut auf Weltklasseniveau. (8,9/10)
Es folgt ein Chawanmushi, das man direkt vor dem Gast fertig stellt. Die Art der Finalisierung – auf einem Tablett, mit kleinem Binchotan-Tischgrill und mit einem kleinen Holzbesen zum Verteilen des Abriebs einer raren Zitrusfrucht wie Kalamansi – zeigt nun ganz offenkundig in Richtung der Erlebnisse im Frantzén oder Zén. Aber wer derartige Referenzen zitiert, muss auch liefern können, gerade in einer Stadt wie San Sebastián mit international esserfahrenem Gourmet-Publikum.
Airaudo liefert, und wie. Die ausgelöste, über der Holzkohle kurz nachgegarte rote Garnele aus Dénia wird in kleinere Stücke zerteilt und in einem Schälchen angerichtet, das Vielversprechendes preisgibt. Ich erkenne Seeigel, Erbsen, japanischen Ingwer (Myoga) mit seiner an Tintenfisch erinnernden, rötlichen Farbschattierung, Schnittlauch und Blätter vom Szechuanpfeffer. Das heiße Potpourri klingt fast beliebig weltläufig, hat aber durch eine angegossene Consommé mit geschmortem Aal und Schinkenfett, den Erbsen und der unvergleichlichen Garnele einen frappierenden regionalen Bezug. Unter alledem versteckt sich der heiße japanische »Eierstich«, der alle Komponenten wohltuend miteinander verbindet. Es duftet nach Hafenbecken, frischer Erde und Regenwald – eine Sensation. (10/10)
Eine fluffige, buttrige Brioche mit Süßrahmbutter und Olivenöl kommt dann genau richtig, um etwas durchatmen zu können. Die bisherige Performance war unerwartet aufwühlend, da erdet der Einschub mit Brot auf angenehme Weise.
Für den nächsten Gang gelangt ein perfekt ausgelöster Hummer aus Island auf den Teller. Er ist der Begleiter für eine aufgeschäumte Beurre Blanc mit Kürbispüree, gepufftem japanischem Reis und pikantem ’Nduja-Öl. Die Qualität des Hummers – mit saftig-fleischiger, kurzweilig heterogener Textur und nussig-vollmundigem Geschmack – ist außergewöhnlich; ich habe nur in wenigen Restaurants der Welt eine derartige Qualität erlebt. Die anderen Zubereitungen – mit Schärfe, Opulenz und leichter Säure – ziehen alle Register eines weiteren souveränen Weltklassegerichts. (9/10)
Es folgt Seeteufel. Das durch Reifung dezent wie Perlmutt schillernde Stück ist in einer Topinambur-Consommé angerichtet, die am Tisch mit Haselnussöl fertig gestellt wird. Der Sud ist säurebetont, aber zurückhaltend, dazu kommt etwas Umami von einer mit XO-Sauce aromatisierten Miesmuschel, die auf dem Fisch platziert ist. Letzterer ist beispielhaft zart und fungiert in dieser Komposition eher als »Empfänger« für die weiteren Aromen, die subtil maritim sind, leicht erdig und hin und wieder pikant. Erneut mehr als hervorragend. (8,9/10)
Mit einem gegrillten Rippenstück vom Rind (txuleta) geht es weiter. Das rare gegarte Fleisch hat eine leicht knusprige Kruste und bestätig auch am Gaumen sein saftiges, aromatisches Aussehen. Es wird begleitet von einem glänzenden, exzellenten Rinderjus, der mit belebender Säure ausgestattet ist, sowie kleinen Steinpilzen, etwas Spinat und einem Zwiebelpüree. Die Komposition ist regelrecht französisch und hervorragend umgesetzt. (8/10)
Der nächste Gang überrascht. Als Überleitung zu den Desserts sieht Airaudo einen herzhaften Gang vor, allerdings einen kalten. Eine Interpretation von spaghetti allo scoglio (Meeresfrüchte-Spaghetti) wurde hier mit noch dünnerer, grüner Engelshaar-Pasta umgesetzt, die in einem frischen, etwas angedickten und transparenten Sud angerichtet ist. Letzterer schmeckt nach frischen Kräutern wie Petersilie und Basilikum, allem voran jedoch nach Meer. Ausgelöste Entenmuscheln (percebes) und ein Austerntartar könnten kaum eine bessere Bühne finden. Etwas Tomatenpüree unterstützt den mediterranen Charakter dieses Gerichts, das von einer geradezu poetischen Unentschlossenheit geprägt ist. Mit seinem italienischen Geschmacksprofil, baskischen Zutaten, einem Platz zwischen Herzhaftem und Süßem und der überraschenden, kühlen Temperatur ist das einer der (vielen) besten Gänge des Menüs. (9/10)
Der süße Teil des Abends knüpft an die Idee an, das Herzhafte noch nicht ganz ruhen zu lassen, und beginnt mit einem Rumeis mit Banane und Kaviar. Das Ensemble schmeckt karibisch, der salzige Akzent erinnert an Salzkaramell. Hervorragend. (8,5/10)
Noch einmal richtig aufwühlend ist eine Zubereitung mit Karamelleis – interessanterweise wird damit meine Assoziation von vorhin aufgenommen –, Apfelmarmelade und einer schaumigen Creme aus gerösteten Äpfeln. Am Tisch stellt man das Dessert mit etwas altem Balsamessig fertig. Ein bezauberndes florales Aroma, das an gute, unaufdringliche französische Parfüms erinnert, ist in die gesamte Komposition eingewoben. Durch den milden Essig wird die herzhafte Welt weiterhin lediglich ausgeschlichen. Überwältigend gut. (10/10)
Handwerklich bemerkenswerte Petits-Fours folgen noch. Es gibt einen Ziegenkäse-Flan, einen Mango-Vanille-Kuchen, eine Praline mit Yuzu, ein Whisky-Gum in Darth-Vader-Optik und eine kleine Zitronen-Meringue-Tartelette. Auch hier liefert man ein nun ganz und gar süßes Finale auf höchstem Niveau. (9/10)
Paulo Airaudo, von dem man selbst als vielreisender Essbegeisterter erstaunlich wenig mitbekommt, kocht derzeit zweifellos in der obersten Restaurant-Liga. Und auch, wenn sein Konzept manchmal an Bekanntes erinnert, liefert der Wahlspanier eine ganz eigenständige Küche, die vor allem in dieser Region eine weltläufige Abwechslung bietet. Wäre San Sebastián nicht ohnehin schon eine Reise wert, wäre die Stadt es spätestens jetzt.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Amelia by Paulo Airaudo (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Paulo Airaudo |
Ort: | San Sebastián, Spanien |
Datum dieses Besuchs: | 26.05.2022 |
Guide Michelin (ES 2022): | ** |
Meine Bewertung dieses Essens: | |
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