Le Tout-Paris – alles, was man braucht
Zwischen Essen Nummer eins und Essen Nummer drei passt immer noch … ein Essen im Le Tout-Paris. Die Brasserie im siebten Stock des spektakulären Hotels Cheval Blanc in Paris ist das »einfachste« der drei Hotel-Restaurants – wenn man ein Restaurant überhaupt so bezeichnen möchte, das von Arnaud Donckele (aus dem gerade dreifach besternten Plénitude sechs Etagen weiter unten) mitbetreut wird und in dem man einen Blick über die Dächer von Paris, auf die Seine und den Pont Neuf genießt.
Zu meiner Reservierung zum déjeuner am heutigen Freitag ist es regnerisch und windig, aber der Ausblick nach draußen auf die gedeckte Farbkulisse in Sandstein und Silbergrau und, weiter östlich die Seine hinab, auf die angeschlagene Notre-Dame, lässt mich nicht kalt.
Die knallige Farbgebung des Interieurs, mit roten Sitzbänken und gelben Stoffsesseln, setzt dagegen eher gewöhnungsbedürftige Akzente. Das Restaurants bietet einen kleineren Bar- sowie einen deutlich größeren Restaurantbereich mit ungefähr zwanzig Tischen mit unterschiedlichen Sitzkonstellationen: kleine Separees auf einem Podest; mit Sitzbänken; oder ganz normal mit Stühlen.
Mir werden mehrere, großformatige Karten gereicht. Die Weinkarte enthält weit über hundert Positionen zu – für Paris – durchaus annehmbaren Preisen, nicht wenig sogar im zweistelligen Bereich pro Flasche, und lässt vor allem das französische Weinherz höher schlagen. Selbst die kompaktere Auswahl anderer Regionen, von den USA über Deutschland bis Australien, ist durchdacht und besser als das meiste, das man bei uns in vergleichbaren Restaurants findet (vorausgesetzt, man findet ein vergleichbares Restaurant). Ich eröffne mein Mittagessen mit einem offenen 2015er Meursault »Les Casses-Têtes« von der Domaine Arnaud Tessier (€ 28). Schon dieser Meursault an diesem Tisch entlohnt die ganze Anreise.
Die Speisekarte im A2-Format ist nicht nur wegen ihrer Größe anspruchsvoll zu »bedienen«. Dutzende Speisen in unkonventionell betitelten Rubriken bieten mannigfaltige Möglichkeiten, sein Mahl zu gestalten und dürften auch geübte Esser vor Herausforderungen stellen. Der Abschnitt »Tout commence par …« (»Alles beginnt mit …«) ist noch leicht als »Vorspeisen« zu verstehen, die darin enthaltenen Unterrubriken heißen Retour des Halles (in etwa: »vom Großmarkt mitgebracht«) und »À la louche« (»aus der Kelle«). Unter dem Abschnitt »Tout pur un« findet man offenkundig Hautgerichte für eine Person (als fielen die Vorspeisen nicht in diese Kategorie), »Tout pour deux« bietet Speisen zum Teilen, »Les plaisirs« (»die Freuden«) führt Desserts auf. Alles ist teilweise noch weiter unterteilt – zum Beispiel in Fisch, Fleisch und Beilagen –, es gibt auch noch den »verrückten Moment« (»Instant de folie«) mit Kaviar und Trüffeln zu horrenden Preisen. Zusätzlich existiert eine weitere, kleinformatige Karte mit simpleren Speisen (»Tout simplement«), obwohl auch die große Hauptkarte bereits einige vergleichbare Speisen enthält. Es ist nicht unkompliziert, erinnert aber an die Speisekarten klassischer Brasserien, die meist ähnlich aufgebaut sind.
Ich mag es gern, wenn eine Speisekarte mir die Möglichkeit gibt, Umfang und Taktung des Mahls selbst zu gestalten. Von den wenigen kreativen Konzeptrestaurants einmal abgesehen, ziehe ich diese Art des Bestellens jedem vorgegebenen Menü vor. Mit einer flexiblen Karte wird man als Gast dazu angeregt, sich von vornherein mehr mit den beschriebenen Gerichten auseinanderzusetzen. Um welche Art von Speise handelt es sich? Wie könnte das Geschmacksbild sein? Habe ich auf diese oder jene Zutaten Lust? Welche Portionsgrößen sind für meinen Appetit angemessen? Auf welche Art von Abfolge habe ich überhaupt gerade Lust? Nicht selten ergibt sich dabei auch ein kurzweiliger, appetitanregender Dialog mit dem Personal, das im Idealfall alle Speisen kennt und persönliche Präferenzen mit denen des Gasts abgleichen kann oder Abweichendes empfiehlt. Man könnte auch sagen: Das Bestellen à la carte ist die Königsdisziplin des Bestellens.
Nach einiger Zeit steht meine Entscheidung, mich nur in der oberen »Vorspeisen«-Rubrik aufzuhalten. Wenig später ist der gesamte Tisch reich gedeckt.
Ein Salat mit Kartoffeln und geräucherten Sardinen (€ 19) bietet akkurat ausgestanzte Kartoffelscheiben mit Grillmuster sowie, darauf, ein ganzes Potpourri von herzhaft-säuerlichen Zutaten und Zubereitungen. Gedämpfter Lauch, Sardinen, Kräuter, marinierte Zwiebeln und Gurken und eine Dill-Vinaigrette ergeben ein Gericht, das eindringlich nach Sommer schmeckt. Die Grillaromen sind prägnant, aber nicht aufdringlich, das feine Säurespiel aller Zutaten ist belebend und appetitanregend. Ganz wunderbar. (7/10)
In eine geschmacklich ähnliche Richtung geht eine Speise mit Lauch und Vinaigrette (€ 21), bei der gekochter Lauch auf dem Teller »ausgeklappt« wurde und mit Zwiebeln, Kapern, kleinen Kartoffelstücken, getrockneten Algen und knusprigen Brotstückchen kombiniert ist. Eine ähnliche Vinaigrette wie bei den Kartoffeln, hier jedoch ohne Dill, hält alles zusammen. Alle Saucen stehen dazu noch einmal separat in kleinen Mauviel-Töpfen auf dem Tisch. Das Gericht ist durch den Lauch noch etwas leichter als der Kartoffelsalat, dabei genauso harmonisch, süffig und sommerlich. (7/10)
All das genieße ich abwechselnd und in Ruhe. Mein Blick schweift zwischen den farbenfrohen Gerichten und der regnerischen Kulisse.
Weiter auf dem Tisch stehen zwei kleine Baguettes, die leider nicht ganz frisch und deutlich zu hart sind, dafür sind drei dicke Scheiben getoastetes Brot noch warm, leicht knusprig und optimal. Sie sind die Beilage für eine hausgemachte Rillette aus Keulen und Hals von der Ente, zubereitet mit Lorbeer, Cognac und Foie Gras. Letzteres macht den scheinbar simplen Brotaufstrich cremiger und einen Hauch luxuriöser. Zusammen mit den fein herausgearbeiteten Cognac- und Lorbeer-Aromen ist das die beste Rillette, die ich je gegessen habe. Dazu werden kleine, sorgsam tournierte und säuerlich marinierte Gemüse serviert, die den säuerlichen Grundgeschmack mit einem bezaubernden floralen Aroma ergänzen. Exzellentes Handwerk, fabelhafter Geschmack. (7,5/10)
Dazu schwenke ich inzwischen noch ein Glas 2015er Gevrey-Chambertin »Les Evocelles« von der Domaine de la Vougeraie (€ 42). Es ist schon etwas Spezielles, in diesem Moment auf die Dächer von Paris zu blicken.
Dies ist eine Küche, die mich restlos begeistert. Sie kombiniert Einfachheit mit Finesse, Bodenständigkeit mit Präzision, Tradition mit Moderne. Die schiere Vielfalt der Karte ist kaum zu glauben, an anderen Tischen tranchiert man große, saftige Steaks oder serviert ganze Fische in großen Kupferschalen. In Anbetracht meines weiteren Essens in einigen Stunden wäre mir das jetzt zu viel. Aber die Aussicht – auf das nächste Mal Paris und auf die weiteren Möglichkeiten dieser Speisekarte – stimmen mich fröhlich.
Meine Passion gilt dem Genuss. Schon immer haben mich die scheinbar einfachsten Speisen in präzisester Ausführung am meisten begeistert. Zutaten, die nach sich selbst schmecken, eine Speisenfolge ohne enges Korsett, Unbeschwertheit und Authentizität. Es ist wundervoll, dass der bereichernde Kosmos meiner Genusspassion noch so viel Anderes bereithält – Anderes, für das ich weiterhin die ganze Welt bereisen werde –, aber einer Küche wie dieser fehlt es an nichts, um mich glücklich zu machen.
Informationen zu diesen Besuchen | |
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Restaurant: | Le Tout-Paris (→ Website) |
Chef de Cuisine: | William Bequin |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieser Besuche: | 11.03.2022 |
Guide Michelin | Noch nicht bewertet* |
Meine Bewertung dieses Essens: | |
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* Das Restaurant wurde im Guide Michelin, der kurze Zeit nach meinem Besuch erschienen ist, empfohlen, aber nicht besternt.