Le Taillevent – Tradition und Turbulenzen
Die Geschichte des Le Taillevent reicht bis ins Jahr 1946 zurück und kann in seiner Vollständigkeit an anderer Stelle recherchiert werden. Vorweg sei hier lediglich erwähnt, dass das berühmte Pariser Restaurant jahrzehntelang mit drei Sternen ausgezeichnet war, bevor im Jahr 2007 eine Abwertung erfolgte. Der dritte Stern konnte seitdem nicht zurückgewonnen werden. Viele renommierte Küchenchefs haben sich an dieser Aufgabe in den vergangenen Jahren die Zähne ausgebissen.
Das Ganze machte zuletzt einen sehr turbulenten Eindruck. Im Jahr 2018 übernahm David Bizet aus dem Four Seasons George V den Posten von Alain Solivérès und wurde nur zwei Jahre später von Jocelyn Herland abgelöst (Le Meurice Alain Ducasse). Letzteren führt der Guide Michelin fälschlicherweise immer noch als Küchenchef auf, obwohl auch dieser das Restaurant schon vor über einem Jahr verlassen hat, um das Zepter an Giuliano Sperandio anzugeben. Dieser hat sich vor allem im inzwischen geschlossenen La Bigarrade sowie im Le Clarence unter Christophe Pelé einen Namen gemacht. Ich bin zwar kein Freund von Turbulenzen, wollte mir das Ganze aber mal aus der Nähe ansehen. Es ist mein erster Besuch in dem Haus.
Das weitläufige Interieur des Restaurants hat ebenfalls viele Änderungen durchlaufen. Aktuell geben holzvertäfelte Wände, grauer, schallschluckender Teppich, makellos gebügelte Tischtücher und sehr viel Platz einen feudalen Ton vor. Gepolsterte Sitzbänke in geschwungener Form lockern die Atmosphäre etwas auf, was man vom förmlichen Service eher nicht behaupten kann. Erst, als ich selbst nach der Weinkarte frage und ein Glas 2016er Meursault »Les Narvaux« von der Domaine David Moret für € 45 und eine Flasche 2015er Vosne-Romanée von der Domaine Sylvain Cathiard für € 290 bestelle, entspannen sich einige Gesichter. Trotz aller Klischees in dieser Hinsicht beobachte ich so etwas in Paris eigentlich nie.
Die Speisekarte ist typisch für ein traditionelles französisches Spitzenrestaurant. Damit meine ich in diesem Fall drei Gegebenheiten: ganz klar über jeweils eine Hauptzutat betitelte Gerichte, dazu Zutaten, die man ganz allgemein mit französischer Küche assoziiert (Jakobsmuscheln, Kalbsbries, Foie Gras, Hummer, Rinderfilet usw.) sowie Gerichtspreise, die um die Hundert-Euro-Marke pendeln. Es gibt auch zwei Menü-Optionen, aber meine Wahl fällt auf die Auswahl à la carte.
Erste Amuse-Bouches werden aufgetischt. Es gibt einen recht massigen, aber geschmacklich guten Gougère mit eingearbeitetem Périgord-Trüffel (7/10), eine etwas sonderbare – aber nicht schlechte – Kombination von Birne und Dorade (7/10) sowie winzige, frittierte Garnelen zum Wegknabbern mit Haut und Haar, was am simpelsten ist, aber meisten Freude bereitet (6,9/10).
Ein weiterer Gruß folgt in Form einer Komposition mit einem wachsweichen Eigelb, knackigen Stücken von gedämpfter Schwarzwurzel und eine mit dem Rogen von Kaisergranat hergestellte Sauce. Die anspruchsvolle Liaison zwischen Land und Meer wird mit einer leicht bitteren, ansprechend frischen Blüte kombiniert. Eine bereits aufgeschnittene Schere des Krustentiers, die mit dessen Rogen bestrichen ist und etwas später separat serviert wird, unterstreicht den jodig-maritimen Charakter dieser hervorragenden Speise, die ich jedoch an dieser Stelle nicht so recht einzuordnen weiß. (8/10)
Der Sinn dahinter erschließt sich erst, als das Personal erklärt, dass das Amuse-Bouche auf meine erste Speise abgestimmt ist. Dabei handelt es sich ebenfalls um Kaisergranat (€ 98), den man auf dem Hauptteller ausgelöst und perfekt gegart in einem klassischen Krustentierjus wiederfindet. Junge Ackerbohnen liefern dazu jede Menge »Chlorophyllfrische«. Die dominierende Komponente ist allerdings der »Boudin ›Tradition Taillevent‹«, eine wurstförmige, mit Kressesauce ummantelte Zubereitung aus Kaisergranat-Farce, die mit ihrer leichten Textur an Hechtklöße erinnert. Das erscheint zwar etwas voluminös, doch die Mengenverhältnisse der Zutaten sind stimmig.
Sukzessive werden noch weitere Zubereitungen des Protagonisten serviert, erstens eine aufgebrochene Karkasse, die das Krustentierfleisch – mit wunderbaren Aromen vom Grill – zu einer exzellenten, samtigen Sauce Choron präsentiert; zweitens in Form einer Löffeldegustation mit Blattsenf und einer Zubereitung aus dem Kopf des Tiers. Insgesamt entpuppt sich dieser Gang als vielschichtige, handwerklich sorgfältige Präsentation von Kaisergranat mit frühlingshaften, gar sommerlichen Aromen. Das ist alles zweifellos auf sehr hohem Niveau. (8,9/10)
Mein nächster Gang ist ein Gericht mit Kalbsbries (€ 86). Die Speisekarte verrät hierzu schon Spannendes, nämlich eine Kombination der delikaten Innerei mit Austern und Kaviar. Auf dem Teller präsentiert sich das Bries dunkelbraun geröstet, mit knuspriger Kruste, angenehmem Biss und etwas höherer Kerntemperatur als man es sonst oft erlebt – nach meinem Empfinden ideal. Exzellent dazu passt eine sauce grenobloise mit vielen intensiven Kräutern, vor allem Petersilie, und Mandeln, die einen kurzweiligen »Biss« hinzufügen. Kaviar dient dazu als luxuriöse Alternative zu Meersalz, schlägt aber auch gleich eine geschmackliche Brücke zur Auster, die separat serviert wird.
Etwas später wird dann ein weiterer Teller serviert, der kleine weiße Rübchen, paniertes Kalbsbries und Kräuterbutter beinhaltet. Man wird am Gaumen dabei ein wenig an ein norddeutsches Fischbrötchen erinnert, obwohl hier zwar kein Fisch vorhanden ist, dafür aber die üppigen Mengen Kaviar und die Auster ein entsprechendes geschmackliches Fundament gebaut haben. Das ist eine Weltklassedarbietung von Kalbsbries. (9/10)
Warum mich heute Abend ausgerechnet Gerichte mit Surf-and-Turf-Charakter besonders ansprechen (und den Küchenchef hier offensichtlich auch), kann ich nicht genau sagen. Doch auch das Lamm wird bereits in der Speisekarte mit den weiteren Mitspielern Aal und Strandschnecken (bigorneaux) angekündigt (€ 88). Auch dieses Gericht wird nach dem »sukzessiven Satellitenteller-Prinzip« serviert. Auf dem Hauptteller gibt es eine Art Roulade mit Schichten aus Lammfleisch, Lauch und geräuchertem Aal. Das Ganze ist mit gedünstetem, noch bissfesten Dinkel sowie den kleinen Strandschnecken getoppt und wird von Mangold oder einem ähnlichem Gemüse in Form gehalten. Dazu gibt es eine stark reduzierte Demi-glace vom Lamm sowie eine weitere, hellere Sauce. Am Gaumen ergibt sich ein ziemliches intensives Geschmacksbild, das zwischen dem authentischen Lammgeschmack und jodig-salzigem Meerestier hin und her pendelt, dadurch aber auch nicht besonders harmonisch wirkt.
Wohl um die Kontraste auszubalancieren, gibt es auf einem separaten kleinen Teller ein kleines Stück Lammkarree mit getrüffeltem Kartoffelpüree – beides klassisch und hervorragend –, sowie in einem weiteren Schälchen ein »Kuchen mit Lammleber«, einer hellen, aufgeschäumten Sauce und frisch gehobeltem Périgord-Trüffel. Der ungewöhnliche »Kuchen« schmeckt eher unauffällig; der Trüffel dagegen ist mit seinen intensiven, ätherischen Aromen der eigentlichen Star dieses Tellers. Insgesamt bin ich von dem Leitmotiv »Fleisch mit Fisch« zwar etwas überreizt, aber das hervorragende Handwerk, die authentischen Aromen und der rote Faden lassen für diesen Gang kein anderes Urteil als ein (nahezu) hervorragendes zu. Ein bisschen merkwürdig ist das alles trotzdem. (7,9/10)
Auf Desserts aller Art verzichte ich aufgrund meines Sättigungsgrads – und auch, weil das antiquierte gastronomische Erlebnis hier nicht gerade nach einer Fortsetzung schreit. Es fühlt sich ein wenig so an, als hätte sich die Institution Le Taillevent selbst überlebt. Neue Köche wie Sperandio bringen Mut und frische Ideen, aber man spürt, dass da Sand im Getriebe ist. Es schmeckt alles gut, hervorragend sogar, aber ein wenig auch nach Sinnkrise. »Weder Fisch noch Fleisch« könnte man auch sagen, wenn das nicht so unzutreffend wäre.
Informationen zu diesen Besuchen | |
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Restaurant: | Le Taillevent (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Giuliano Sperandio |
Ort: | Paris, Frankreich |
Datum dieser Besuche: | 10.03.2022 |
Guide Michelin | ** |
Meine Bewertung dieses Essens: | |
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