JAAN by Kirk Westaway – Etage 70, Wolke 7
Die Erlebnisse des Zén von gestern Abend noch in meinen Gedanken, geht es heute Mittag schon wieder weiter. Mein Appetit ist da, aber, gerade während eines solchen Essmarathons wie hier in Singapur, bin ich nicht frei von der Befürchtung, dass das nächste Mahl im schlimmsten Fall entbehrlich sein könnte. Meine Lust, das herauszufinden, ist aber auch heute größer als der Impuls zur Mäßigung.
Etwas Skepsis bleibt dennoch, als ich mit dem Taxi auf das Zielobjekt zusteuere. Es handelt sich um das inzwischen zur Fairmont-Gruppe gehörende Swissôtel The Stamford, erbaut vom berühmten Architekten I. M. Pei. Seine berühmte Pyramide am Louvre ist allerdings etwas eleganter. Das Gebäude war zu seiner Eröffnung Ende der Achtzigerjahre das höchste Hotel der Welt. Inzwischen wirkt der Wolkenkratzer von außen eher nach einem depressiven Business-Hotel für Events und Tagungen. An einem mediokren Essen in einer solchen Atmosphäre hätte ich jetzt nicht die größte Freude.
Doch ich habe meine Überschlagsrechnung ohne die Parameter einer kulinarisch und gastronomisch lebendigen Metropole wie Singapur gemacht. Das Hotel ist durchaus ansprechend renoviert – so gut es die etwas gedrungene Bauweise zulässt –, und als ich feststelle, dass sich das Restaurant im obersten Stockwerk befindet, dem siebzigsten, steigt meine Spannung.
Das JAAN by Kirk Westaway wurde im Guide Michelin erst kürzlich mit einem zweiten Stern ausgezeichnet. Der namensgebende Küchenchef ist Ende dreißig, kommt aus einem Küstenort im Südwesten Englands und hat sich eine Modernisierung der britischen Küche zu seinem Leitmotiv gemacht (Reinventing British).
Der lichtdurchflutete Speisesaal bietet eine atemberaubende Kulisse auf den südöstlichsten Zipfel Singapurs. Das Marina Bay Sands erscheint zum Greifen nah, dahinter warten hunderte Schiffe auf die Einfahrt in den Hafen, und am Horizont sieht man schon Indonesien. Hin und wieder fliegen Kampfjets des kleinen Inselstaats ihre Runden. Es wirkt alles ein bisschen wie in der Computersimulation Sim City. Schwindelfreiheit hilft bei einem Platz am Fenster.
Zum Lunch werden zwei Menüs angeboten, meine Wahl fällt auf das umfangreichere fünfgängige (178 SGD, ca. € 116). Das siebengängige Abendmenü ist auch verfügbar, ist aber trotz einer hohen Schnittmenge bei den Gerichten seltsamerweise fast doppelt so teuer.
Das Menü beginnt mit vier hübsch präsentierten und offenkundig sehr präzise gearbeiteten Einstimmungen. Ganz unten – man empfiehlt, sich den Weg nach oben zu bahnen – präsentiert eine Meringue mit Gurkengel und Dillblüte ein konzentriertes, aber wolkig-leichtes Gurkenaroma (7,5/10). Ein Cheddar Pie in Form eines warmen, hauchdünnen Teigkörbchens, schlägt mit süffiger Käsecreme, erfrischendem Schnittlauch und kleinen Zwiebelringen charmant und äußerst wohlschmeckend eine filigrane Brücke zur bürgerlichen Küche (8,5/10). Ein Chip mit einem Püree aus Kichererbse und einem Ornament aus schwarzer Olive enthält exotische, »warme« Aromen, die an indische Küche erinnern (8/10); und eine abermals sehr fein konstruierte Tartelette mit Gänse-Mousse, Rote-Bete-Gelee und schwarzem Trüffel schmeckt elegant nach Foie Gras, Wald und Frucht (8/10). Ein äußerst geschmackvoller, leichter Start in über zweihundert Metern Höhe.
Das Glas Rosé-Champagner zum Einstieg (nicht notiert) weicht einem offen servierten 2018er Chassagne-Montrachet 1er Cru »Morgeot« von der Domaine Fontaine-Gagnard (ca. € 31). So ein exzellenter Auftakt mit derartiger Kulisse lässt mich schon wieder fast vergessen, dass ich die letzten vier Tage schon acht Mal üppig gespeist habe.
Ein weiteres Amuse-Bouche kommt in Form eines heißen Kartoffelschaumsüppchens, in das eine Brühe von gebranntem Lauch angegossen wird. Das an sich ist schon verführerisch; bissfeste Kartoffelstückchen auf dem Grund der Schale sowie Schnittlauch referenzieren dann wieder stolz etwas Bodenständigkeit. Der Salzgehalt ist innerhalb einer optimalen Bandbreite am unteren Ende, was positiv überrascht. Das Gericht möchte trotz aller Erdung elegant sein; zu viel Salz könnte diesen Charakter zerstören. Dass man dazu eine buttrige, knusprige Zwiebelwaffel eintunken darf, vollendet den Hochgenuss. (8/10)
Der erste reguläre Gang des Menüs ist in Salz gebackene weiße Rübe, hauchdünn aufgeschnitten, zu Röllchen geformt und mit geschmolzenem Weichkäse gefüllt. Die Röllchen sind in einer leicht cremigen Sauce mit Dill und Kaviar angerichtet, die wunderbar duftet und nach Meer und Kräutern schmeckt. Die natürlich Süße der Bete wird von einem Zitrusgel ausbalanciert, das zusammen mit Dillblüten floral und frisch schmeckt. Weitere, etwas gröber geschnittene Bete sorgt für etwas Biss. Die Komposition ist ein Wohlfühlgericht par excellence; man muss hier nach nichts suchen außer nach Nachschub. (8/10)
»Henn’s Egg, 5J Ham« ist der Titel des nächsten Gangs. Der verspricht mit seinen Zutaten – Ei, Pata-Negra-Schinken »Cinco Jotas« und weißem Trüffel – süffigsten Hochgenuss. Tatsächlich hält das Gericht seine Versprechen. Der salzige, fettreiche Schinken ist, analog zu Rührei mit Speck, eine perfekte Würzung für das Ei, das sich mit seinem gestockten Eiweiß und wachsweichem Eigelb ideal als »Tunke« für eine himmlisch leichte, separat servierte Toastwaffel eignet. Das Eigelb dürfte allerdings eine Nuance flüssiger sein. Etwas Zwiebelpüree auf dem Grund des Tellers bringt noch etwas schelmische Süße ins Spiel, und der ätherische weiße Alba-Trüffel tut sein luxuriöses Übriges. A part steht noch ein Schälchen Selleriekompott bereit, dessen Sinn sich sofort erschließt, wenn man die kleinen, bissfest und in Schinkenfett gegarten Stückchen, die an ein Risotto erinnern, dazu probiert. Erneut schwingt hier so etwas wie »englische Bodenständigkeit« mit, die hier auf ein Weltklasseniveau gehoben wird. (8,9/10)
Obwohl mit gehaltvollen Zutaten nicht gegeizt wird (Schinken, Ei, Kartoffel, Waffeln usw.) wirken die Gerichte äußerst leicht und »bekömmlich«, was ich vor allem idealen Mengen und Proportionen zuschreibe. Die Leichtigkeit wird auch durch den Ausblick unterstützt, der den Eindruck vermittelt, man speiste auf einer Wolke.
Es geht weiter mit einem Duo von englischem Wolfsbarsch und Jakobsmuschel. Der aus Cornwall stammende Fisch ist saftig, mit einer erstaunlich festen Struktur, und in einer samtigen Velouté gebettet, in der man verschiedene Kräuter, vor allem Schnittlauch und Kerbel, sowie geschmolzenen Frühlingslauch findet. Schon diese Komponenten begeistern mit einer handwerklich makellosen Ausführung und fantastischen Qualitäten. Doch die Küche legt buchstäblich noch einen drauf: mit dünnen, goldbraun angebratenen Tranchen Jakobsmuschel aus Hokkaido, deren nussige Süße das samtige, elegante Erlebnis am Gaumen komplettiert. Erneut strahlt das Gericht eine souveräne Lässigkeit aus, die unter anderem auch der Anrichtweise in einem tiefen Teller geschuldet ist. Das erhält die Hitze, bündelt die Aromen und ermuntert zu einem Verzehr mit Löffel und Gabel – mitunter ein Markenzeichen vieler der grandiosesten Gerichte. (8,5/10)
Der letzte herzhafte Gang ist Perlhuhn in Form einer dünn aufgeschnittenen Tranche mit einer Kruste aus knusprigen Bröseln aus Hühnerhaut. Das saftige, aromatische Fleisch ist auf etwas Grünkohl gebettet (die erste »bürgerliche« Referenz), dazu gibt es eine Chicken Gravy (die zweite) sowie ein Zwiebel-Senf-Kompott (die dritte) und eine mit Kräutern ummantelte Kartoffel (Referenz Nummer vier). Der erste etwas klassischer angerichtete Teller fällt auf hohen Niveau ein wenig zurück; mir ist die sehr homogene Textur des Fleischs ein wenig zu spannungslos (womöglich durch Sous-vide-Garung), dennoch gefällt die Komposition geschmacklich besonders wegen der erneut sehr gelungenen eleganten Herzhaftigkeit, vor allem bezüglich der Kombination von Huhn, Senf und Kohl. Mehr als sehr gut ist das nach wie vor. (7,5/10)
Zu einer Auswahl feiner englischer Käse lasse ich mich auch noch hinreißen. The Cure spielt dazu im Hintergrund passend »Just Like Heaven«.
Das Pré-Dessert ist ein samtiges Earl-Grey-Sorbet mit dezenter Süße, gebettet in einem wolkigen Milchschaum mit Zitronenzesten und Pomelo. Die sehr fein gearbeitete Speise löst damit auf diplomatische Art den Konflikt, ob man Earl Grey lieber mit Zitrone oder Milch kombinieren sollte. (7,9/10)
Das Dessert selbst ist eine Tarte mit Vanillecreme, karamellisierter Conference-Birne und Vanilleeis. Was simpel klingt, ist, wie vieles hier, so optimal umgesetzt, dass das Küchlein maximalen Genuss bereitet. Allein der Teig schmeckt schon exzellent, dazu kommen noch die leichte Vanillecreme, die von noch warmem Karamell überzogene Birne sowie das kühlende Eis und hauchdünne, knusprige kleine »Kekse« in Blätterform. (8,5/10)
Vier ansprechende, aber gegen alles Vorherige etwas abfallende Petits-Fours beenden den fabelhaften Lunch. (7/10)
Ich würde hier am liebsten sitzen bleiben, um auf den Übergang zum Abend zu warten. Wenn es hier gegen 19 Uhr dunkel wird und die Lichter der Stadt zu leuchten beginnen, muss es spektakulär von hier oben aussehen. Aber jetzt heißt es erst mal wieder runterkommen von Wolke sieben. Siebzig Stockwerke weiter unten warten wieder neue Abenteuer auf mich.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | JAAN by Kirk Westaway (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Kirk Westaway |
Ort: | Singapur |
Datum dieses Besuchs: | 11.11.2021 |
Guide Michelin (SG 2021): | ** |
Meine Bewertung dieses Essens: | |
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