Les Amis – vive la France!

Das Restaurant Les Amis ist das Aushängeschild der gleichnamigen Betreibergruppe, eine Firma, die in mehreren Ländern Südostasiens überwiegend Pizza-, Pasta- und Tapas-Restaurants betreibt. Das Konzept einer solchen »Betreibergruppe« findet man in Asien häufig, meist in Zusammenhang mit dem Betrieb der jeweiligen Restaurants in Einkaufszentren oder ähnlichen Gebäuden mit Mischnutzung.

Les Amis befindet sich im Erdgeschoss des Shaw Centre, einem etwas in die Jahre gekommenen Bürogebäude mit Einkaufszentrum in der Central Area von Singapur. Küchenchef des Restaurants ist Sebastien Lepinoy, der viele Jahre als rechte Hand Joël Robuchons galt. Nach verschiedenen Stationen, von Monaco über Ungarn bis Hongkong, wechselte Lepinoy im Jahr 2010 nach Singapur ins Les Amis und erarbeitete dort letztlich die Spitzenwertung von drei Michelin-Sternen.

Meinen siebenminütigen Spaziergang vom Hotel überstehe ich gerade noch unklimatisiert, dann wird es aber schon Zeit für gemäßigte Temperaturen und ein erträgliches Maß an Luftfeuchtigkeit.

Das Ambiente im Restaurant ist förmlich, die Belegschaft, die ich zu Gesicht bekomme, komplett männlich – das fällt etwas merkwürdig auf – und das Interieur ein unruhiger Mix aus einer Farbpalette von beigefarbenen Stühlen über dunkelbraunen, gemusterten Teppich und violetten Tischtüchern bis zu schwarz gefliesten Wänden. Ausgebucht ist das Restaurant an diesem Montagabend nicht.

Die Speisekarte bietet einen A-la-carte-Teil mit jeweils sechs Vor- und Hauptspeisen (zwischen SGD 75 und 160, ca. € 50–105) sowie vier Desserts. Alternativ stehen zwei Menüs zur Auswahl (ca. € 245 bzw. € 330), die sich weitestgehend an den A-la-carte-Gerichten orientieren. Mein Wahl fällt auf das zweite, etwas umfangreichere Menü (»Le Menu d’Automne Dégustation«) mit einer Modifikation beim Hauptgang.

Den Auftakt macht eine filigrane Steinpilz-Tartelette, bei der rund ausgestanzte Scheiben des hocharomatischen Pilzes zusammen mit darunter verstecktem schwarzem Trüffel und etwas Thymian eine himmlische Einstimmung ergeben. Besonders fein integriert sich das Thymianaroma in die waldigen, erdigen Noten der Pilze. Ich habe derartige Ausrufezeichen zu Beginn eines Menüs deutlich lieber als eine Armada mittelguter Petitessen. (9/10)

Etwas fernöstlicher geht es mit der nächsten Einstimmung weiter, wenngleich ein Spieß von abwechselnd geschichteter, saftiger Hühnchenbrust und Frühlingszwiebeln, serviert mit einer milden Currysauce, fast schon aufgesetzt exotisch wirkt – fast so, als wäre ganz Südostasien schlicht mit »Curry« thematisiert. Den Hühnerstreifen kann man eine sehr gute Qualität attestieren, sie lassen aber, auch mit dem Lauch zusammen, Großartiges vermissen. Die exzellente Sauce dazu ist ein mit einer Currymischung aromatisierter Geflügeljus und hätte in einer anderen Proportion – z. B. ein kleinerer Spieß – vielleicht noch besser zur Geltung gelangen können. Einige Fragezeichen hinter einem trotz allem sehr guten Snack. (7/10)

Als der erste offizielle Gang des Menüs serviert wird, halte ich eine Sekunde inne, weil mir das Gericht allzu bekannt erscheint, wende mich aber zunächst dem Genuss zu. Unter einer alles überdeckenden Robe einer Kresse-Sauce findet man ein pochiertes Ei auf einem Bett von kleinen, glasierten französischen Rübchenscheiben und Blutampfer. Das Ei ist perfekt gegart, sodass das Eigelb gerade noch flüssig ist und einen vollmundigen, leicht süßen Gegenpol zum lebhaften Wechselspiel der Kresse-Sauce zwischen Bitterkeit und Säure bildet. Auch die Rübchen sind wachrüttelnd gut und passen mit ihrer natürlichen Süße perfekt zum Ei. Der Kaviar, der hier äußerst großzügig dazugegeben wurde, komplettiert mit seiner nussigen, jodigen Salzigkeit das kulinarische Meisterwerk. (10/10)

Durch den schnellen Austausch über soziale Medien werde ich später daran erinnert, dass das Gericht in fast identischer Form – jedoch meist mit grünem Spargel statt der Rübchen – ein Klassiker ist, den man Bernard Pacaud aus dem grandiosen L’Ambroisie in Paris zuordnet. Sucht man online nach Pacauds Chaud froid d’oeuf mollet au cresson, asperges vertes au caviar golden wird die Inspirationsquelle offenkundig. Bei meinen Besuchen im L’Ambroisie stand dieses Gericht indes nie auf der Karte.

Wo die Grenzen zwischen einem Klassiker, einer Kopie und einer Inspiration verlaufen, ist regelmäßig eine ausführliche Diskussion wert, aber eines ist auch klar: Sie muss nicht dazu führen, einem objektiv grandiosen Gericht irgendetwas von seiner Großartigkeit abzusprechen. »Lieber gut kopiert als schlecht selbst gemacht« lässt sich dazu schnell kolportieren, doch das Gericht hier im Les Amis ist durchaus »selbst gemacht«, und zwar auf höchstem Niveau. Schade nur, dass man es nicht als Hommage deklariert, wenn es eigentlich eine ist.

Auf der Weinseite arbeite ich derweil an einem 2016er Pommard »Pézerolles« 1er Cru von der Domaine Vincent Dancer (ca. € 228), eine hervorragende Neuentdeckung.

Gang zwei rankt um eine Jakobsmuschel aus Erquy in der Bretagne, die vermutlich frischer ist als so manches Exemplar, das in unseren Breiten aus der Bretagne kommt. Die Muschel – von einer Größe, die fast als »kleines Rinderfilet« durchgehen könnte – wurde mit der Algenbutter von Bordier bestrichen und ausschließlich im Ofen gegart; auf ein Anbraten mit Röstnoten wurde bewusst verzichtet (»cuit au four sans coloration«). Die saftige, nussig-süße Muschel auf qualitativ überragendem Niveau und mit perfektem Garpunkt thront in einer süffigen, buttrigen Sauce auf der Basis von Weißwein, Butter, Algen und Kräutern wie Dill und Kerbel, die grandios zueinander ausbalanciert sind. Auch ein Chip aus Tintenfischtinte trägt mit seinem leicht salzigen Geschmack und einer luftigen, knusprigen Textur wesentlich zur Komposition bei. Der Gang ist klar und rein, überraschend wenig effekthascherisch, schlicht und großartig. (9/10)

Es folgt ein zéphyr au fromage, das heißt eine Art Käse-Soufflé, hier mit 14-monatigem, also recht jungem, cremigem Comté umgesetzt und mit Estragon gespickt. Die Käsewolke sitzt in einer samtigen sauce suprême, also Geflügelrahmsauce. Finalisiert wird das Ganze mit Unmengen an weißem, frisch gehobeltem Alba-Trüffel, von dem – das werden noch weitere Restaurantbesuche offenbaren – eine signifikante Menge der Ernte nach Singapur transportiert worden sein muss. (Das ist nur gerecht, wenn man sich bei uns zulande regelmäßig mit minderwertigerem Herbsttrüffel oder sogar Trüffelöl zufrieden gibt.) Das Gericht ist leicht, ätherisch, süffig, exzellent. (9/10)

Die kulinarisch famose Reise in gastronomisch etwas langweiligem Rahmen geht weiter. In letzterer Agenda vermisse ich so ziemlich alles: weniger grelles Licht, weniger »Perfektion«, weniger Formalität, humorvollen Service, weniger Augen, die ständig meinen Tisch nach Imperfektionen absuchen … und sagte ich schon etwas Diversität? Kaum zu glauben, dass nur »alte weiße Männer« an meinen Tisch kommen, um mir nach allen Regeln der Kunst Wasser nachzuschenken und Krümel zu entfernen.

Mit dem »Herz vom Lachs aus Isigny« bringt Küchenchef Lepinoy mit dem nächsten Gang ein Produkt auf den Teller, das in der gehobenen Küche vergleichsweise selten den Weg zum Gast findet. Der hier zylindrisch geformte Fisch ist mit seiner eigenen, jedoch entfetteten, Haut ummantelt, sodass diese sich fast von selbst auflöst, wenn man sie mit dem Fisch zusammen probiert. Das Ganze ist in einer sauce civet angerichtet, die hier nicht in ihrer klassischen Zubereitung mit Wild und Blut Verwendung findet, sondern als eine Liaison aus den Lachskarkassen und viel reduziertem Rotwein. Lachs und Rotweinsauce kann man ihre Bodenständigkeit nicht absprechen, doch der Übergang zur kulinarischen Spitze ist fließend – und eindrucksvoll. Der Lachs ist dicht, aromatisch und »buttrig« wie ein Wagyu-Rind, die etwas »schroffe« Rotweinsauce mit ihren würzigen Aromaten wie Zwiebeln und Schnittlauch traut sich zu Recht, dem Fisch geschmacklich etwas entgegenzusetzen und gleichzeitig zu umgarnen, während ein Klecks Beurre Blanc, fast poetisch, den Lachs zu sich ruft. Dass dieser sich letztlich nicht bewegt, liegt vielleicht am betörenden Parfüm der Perillablüten, die an ihm lehnen. Am Gaumen schmeckt die Balz der Zutaten jedenfalls genauso verführerisch. (9/10)

Den Hauptgang, den ich gegen die eigentlich vorgesehene Challans-Ente getauscht habe, ist Kalbskopf »Île de France« mit sauce ravigote und verschiedenen Kräutern. Das Gericht zieht erneut alle Register der klassischen französischen Küche. Bei dieser Zubereitung findet man ein Stück Kalbszunge in einer Ummantelung von gelatinösem Kalbskopf – ein mächtiges Zutatenduo, das mit viel saftiger, säuerlicher Frische ausbalanciert werden muss. Das gelingt, klassischerweise, mit der ravigote auf Basis von Kapern, Kalbsfond, Olivenöl, Paprika und Zwiebeln, sowie, nicht unwesentlich, mit einem kleinen, perfekt gekühltem Wildkräutersalat mit Vinaigrette. Nun wäre das schon die höchstem Weihen wert, doch à part erlaubt man sich noch das Servieren von in Orange und Knoblauch gegarten Karotten aus Nantes mit Estragon – mit die besten Karotten, die ich je probiert habe –, sowie Selleriescheiben mit schwarzem Trüffel und Schnittlauch, ebenfalls großartig. Perfekter kann man das alles nicht umsetzen, lediglich die Masse der fleischlichen Zutaten ist – gerade im Kontext dieses umfangreichen Menüs – mehr als fordernd. Das ist eine typische Situation, in der die Küche möglicherweise der Meinung ist, einem mit einer A-la-carte-Portion eine Freude zu machen, wobei meistens das Gegenteil der Fall ist. (9/10)

Das zweifellos jetzt schon denkwürdige Mahl geht weiter mit im Ofen geschmolzenem Vacherin Mont d’Or, über den man einen Berg von weißem Alba-Trüffel hobelt und dazu ein hausgemachtes, krosses Stück Baguette serviert. Käse, Trüffel, Baguette, Trüffel, Käse, Baguette, Käse, Trüffel … Es ist fast so als hätte sich der Kalbskopf in Luft aufgelöst, um diesem himmlischen, »einfachen« Vergnügen den Raum zu schaffen, den es verdient. (10/10)

Den dann folgenden Käsewagen winke ich dankend ab – das brauche ich jetzt wirklich nicht mehr –, aber den dann folgenden Eiswagen (!) lasse ich mir gerne näherbringen. Ich wähle drei Sorten: Kastanie mit Rum; Bora-Bora-Vanille und sizilianische Pistazie. Schon der erste Probierlöffel beim Vanilleeis zementiert die Tatsache, dass ich noch nie so großartiges Eis gegessen habe. Die homogene, cremige Textur und hohe Dichte sind eine Sache, aber die authentischen, intensiven Aromen – ausschweifend blumige Vanille, süßliche Kastanie mit Karibikflair und Pistazieneis, das tatsächlich nach echten, gerösteten Pistazien schmeckt – müssen aus einem kurz geöffneten Türspalt zum Schlaraffenland hergekommen sein. Wie wohl die anderen Sorten schmecken? Aber der Wagen ist schon weg … (10/10)

Das finale Dessert ist ein Baba au rhum, ein wahrhaftiges »Lieblingsdessert« von mir. Vorschusslorbeeren gibt es – gerade deswegen – aber nicht. Schließlich muss die Ausführung eines Baba au rhum makellos sein, mit fluffigem, aber saftigem Teig, kühler Chantilly mit bester Vanille und hervorragendem Rum, davon weder zu viel noch zu wenig. Die Überseegebiete Frankreichs erzeugen praktischerweise einige der besten Rums der Karibik. Hier im Les Amis kann man zum Baba verschiedene Sorten verkosten und sich eine für den Baba aussuchen. Ich überlasse das dem Kellner, ich glaube, er wählt einen 2002er-Jahrgang des Hauses Clément. Wird der Baba, wie hier, in einer silbernen Schale serviert, so wie man es vor allem von Alain Ducasse kennt, hält das die gewünschten Temperaturen der Komponenten recht lange konstant. Dieser Baba ist in jedem Detail perfekt, einer der besten überhaupt, und für mich eine aktuelle Referenz, die ich nie vergessen werde. (10/10)

Die Pralinen zum Schluss lasse ich mir noch einpacken, das ergibt morgen ein gutes Frühstück.

Das Les Amis ist eine unerwartete Bastion der klassischen französischen Küche – und nimmt damit unter allen aktuellen Drei-Sterne-Restaurants eine relativ einzigartige Position ein, die sich das Restaurant allenfalls noch mit Les Prés d’Eugénie, Georges Blanc und Waterside Inn teilt, stilistisch dann aber doch wieder völlig anders ist und handwerklich und qualitativ ohnehin überlegener, besonders gegenüber den beiden Letztgenannten. Ein Kaliber wie L’Ambroisie ist ebenfalls schlecht vergleichbar, weil die Küche von Vater und Sohn Pacaud deutlich kreativer (im Sinne einer Eigenleistung) ist als hier, wo jeder Gang in Hunderten von Kochbüchern stehen dürfte. Wie auch immer man das Les Amis einordnen möchte, war das kulinarisch zweifellos einer der besten Abende des Jahres.

Und jetzt geht’s hinaus in die schwüle Hitze. Das passt zum Rum und zur Karibik, die immer noch nachklingt, aber nicht weiter entfernt sein könnte. Wo bin ich hier eigentlich? Egal, vive la France!

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Les Amis (→ Website)
Chef de Cuisine: Sebastien Lepinoy
Ort: Singapur
Datum dieser Besuche: 08.11.2021
Guide Michelin ***
Meine Bewertung dieses Essens: 9 (Was bedeutet das?)
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