Hill Street Tai Hwa Pork Noodle – Michelin-Stern für € 3,90
Das günstigste Sterne-Restaurant der Welt befindet sich in einer kleinen Ess-Halle, dem Tai Hwa Eating House, etwa zehn Autominuten nordöstlich des Stadtzentrums von Singapur. Wer den extremsten Beweis dafür sucht, wie wenig ein Michelin-Stern mit bequemen Annehmlichkeiten oder üppigem Budget zu tun haben muss, reist am besten hier hin.
Ich benötige diesen Beweis nicht, dennoch reizt es mich, zu erkunden, was dem Guide Michelin an diesem Imbiss so gefallen mag, dass er hier seine begehrte Auszeichnung für eine »Küche voller Finesse« attestiert.
An meinem ersten Tag in Singapur fahre ich daher gleich morgens gegen halb zehn in Richtung des Stadtteils Kallang. Das Hill Street Tai Hwa Pork Noodle ist dort einer von einer Handvoll Imbissständen (hawker) und berüchtigt für lange Wartezeiten, besonders mittags. Wenn ich mein Mittagessen also zum Frühstück mache, so meine Überlegung, wird es bestimmt nicht so schlimm.
Doch ich habe die Rechnung ohne die Tatsache gemacht, dass heute Sonntag ist. Offenbar bestellen die Kunden heute ihr Mittagessen für die ganze Großfamilie – anstatt, wie vermutlich werktags während der Arbeitszeit, nur für sich allein. Als ich mich um 9:52 Uhr in der kurzen Schlange einreihe, stehen vor mir lediglich acht bis elf Personen. Die genaue Anzahl zu ermitteln, scheint Parallelen zur Quantenphysik zu haben, denn immer, wenn ich zähle, ergibt sich ein anderer Wert. Mal ist auf einmal jemand weg, der gerade noch in der Schlange stand, mal kommt jemand von der Seite und stellt sich dazu, ohne mit irgendwem zu kommunizieren. Ich frage mich, warum niemand außer mir das merkwürdig findet.
Es geht auch überhaupt nicht weiter. Die erste Person vorne in der Schlange hat sich seit dreizehn Minuten nicht bewegt. Allein aus Prinzip möchte ich jetzt herausfinden, ob ich vor Ladenschluss um 21:30 Uhr noch drankomme, oder ob ich in einer Singularität gefangen bin. Die Person bewegt sich schließlich ein bisschen, ein Hinweis auf eine mögliche Veränderung der Dynamik. Tatsächlich läuft die Person wenig später mit mehreren Plastiktüten aus der Halle, die jeweils mehrere Essensportionen enthalten. Der nächste Kunde macht es ihr nach. Es dauert insgesamt zweiundneunzig Minuten, bis ich an der Reihe bin. Mein Frühstück wird also doch zum Mittagessen.
Das Hill Street Tai Hwa Pork Noodle serviert im Wesentlichen nur ein Gericht namens Bak Chor Mee. Das bedeutet wörtlich übersetzt »Hackfleisch-Nudeln« und ist eines der bekanntesten traditionellen Gerichte der Singapurischen Küche. Jeder Koch hat seine Version, jeder Gast seine Präferenz. Fast immer besteht das Bak Chor, das Hackfleisch, aus Schwein. Die Nudeln, Mee, werden klassischerweise in Essig geschwenkt, dazu gibt es oft Pilze, Frühlingszwiebeln und gebackenen Fisch – in Summe eine etwas wirr klingende Kombination.
Ich habe Glück, dass Küchenchef Tang Chay Seng heute persönlich am Herd steht. Der 75-Jährige führt das Restaurant, das innerhalb der Jahrzehnte mehrfach umgezogen ist (und viele Nachahmer mit gleichem Namen hat), bereits in dritter Generation.
Die Optionen, vor denen man als Kunde steht, betreffen einmal den Preis (sechs, acht oder zehn Singapur-Dollar, ca. € 3,90–6,50), der mit der Portionsgröße korrespondiert, sowie die Frage, ob man die dry-Version bestellen möchte, bei der ein Süppchen separat serviert wird, oder eine Version, bei der die Suppe zu den Fleisch-Nudeln gegeben wird. Ich bestelle, was alle bestellen: die reguläre Portion in dry für acht Dollar.
Chay Seng hat zwei weitere Köche in seinem Laden, sowie eine Kraft zum Verpacken und Kassieren. Alle Handgriffe sind routiniert. Frische Schweineleber wird per Hand geschnitten, Saucen werden angerührt, sogar die Nudeln werden hier selbstgemacht. Die hygienischen Umstände sind auf den ersten Blick etwas prekär, aber die große Hitze, die hier im Spiel ist, erstickt eventuelle Bedenken diesbezüglich im Keim.
Irgendwann ist mein Bak Chor Mee fertig, und ich trage es auf einem Plastiktablett an einen Plastiktisch. Es gibt dazu simple Essstäbchen aus Holz. Von einem Getränkestand nebenan kaufe ich mir noch eine Flasche Wasser, fertig ist mein Sterne-Mahl.
Das Gericht selbst duftet herzhaft und leicht säuerlich. Die Schüssel beinhaltet die hausgemachten Nudeln, die al dente gekocht sind, dazu mit Schweinefleisch gefüllte Teigtaschen, Schweinefleisch-Bällchen, Schweinehack und Schweineleber. Letztere ist präzise gegart, sodass sie noch zart und saftig ist. Des Weiteren findet man noch frittierte Stücke Tee Poh, ein mit Seezunge verwandter Plattfisch, sowie etwas Frühlingslauch. Zusammen mit der mit Essig und Chili prägnant gewürzten Sauce belebt das Gemüse das Gericht mit einer pikanten Frische.
Trotz der üppigen Portion und der Fülle an reichhaltigen Zutaten wirkt das Gericht leicht und bekömmlich sowie aromatisch sehr ausbalanciert. Richtete man einzelne dieser Zutaten, z. B. nur einige Nudeln mit etwas von der Sauce, kunstvoll in kleinen Schälchen als Teil eines Menüs an, wäre es für manch einen bestimmt noch offenkundiger, dass man es auf diesem Teller mit hoher kulinarischer Qualität und Finesse zu tun hat. (7/10)
Dieses Mahl ist befriedigender als so manches »Pinzetten-Menü« aus deutschen Sternerestaurants. Dass man diesem Imbiss einen Stern attestiert, ist vor allem wegen des gewissenhaften Handwerks gut nachvollziehbar. Es hilft natürlich, sich seit Jahrzehnten auf ein Gericht zu konzentrieren. Die Frage – wenn man sich überhaupt eine stellen möchte – ist nicht, ob hier ein Stern gerechtfertigt ist, sondern, ob es unter Anwendung dieses Qualitätsstandards nicht viel mehr solcher Auszeichnungen rund um die Welt geben müsste. Im Grunde eignen sich die meisten Gerichte in ihrer jeweils perfekten Ausführung für einen Michelin-Stern. Wo aber bleiben die Currywurst-Buden, die Wurst und Curryketchup komplett selbst herstellen? Wo bleibt das handwerklich die entscheidende Nuance oberhalb der »Bürgerlichkeit« zubereitete Eisbein mit Sauerkraut? Warum gibt es außerhalb der Spitzengastronomie in Hamburg keinen guten Fisch zu essen? Warum jagen manche jungen Köche bei uns zu Hause immer noch viel zu oft »Tellerlandschaften« hinterher, als sich einmal intensiv mit bestimmten Zubereitungen und Qualitäten auseinanderzusetzen?
Die Erörterung der Antworten führt an dieser Stelle zu weit, aber zweifellos schmeckt das Gericht nicht nur gut, sondern regt auch noch zum Denken an. Wenn das keinen Stern verdient, dann weiß ich auch nicht.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Hill Street Tai Hwa Pork Noodle |
Chef de Cuisine: | Tang Chay Seng |
Ort: | Singapur |
Datum dieses Besuchs: | 07.11.2021 |
Guide Michelin (SG 2021): | * |
Meine Bewertung dieses Essens: | |
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