Tulus Lotrek ‒ schenk ein, das Ding!
Mein erstes Sternerestaurant, das ich in diesem Jahr besuche, ist das Tulus Lotrek in Berlin. Nach weit über einem halben Jahr gastronomischer Zwangsabstinenz soll dieser Ausflug in die Hauptstadt das Vakuum füllen, das die Pandemie bei mir hinterlassen hat. Trotz aller Einschränkungen, die bei meiner ursprünglichen Planung noch bestand (nur Außengastronomie, nicht zu nah, aber auch nicht zu fern), ist die Auswahl des Restaurants von und mit Max Strohe und Ilona Scholl weder Kompromiss noch Zufall. Tatsächlich fallen mir nur wenige andere Restaurants ein, bei denen man den Wiedereintritt in die Welt des Schlemmens so hemmungslos und kulinarisch befriedigend zelebrieren könnte wie hier ‒ und dabei noch auf volles Verständnis stößt.
Der Berliner Altbau mit seinen weitläufigen Zimmern ruft Assoziationen an geheimnisvolle Partys im Stil von Kubricks »Eyes Wide Shut« hervor. Anonymität, Intimität, Verbotenes. Dabei ist die Agenda des Restaurants erstaunlich schlicht. Man will hier eigentlich nichts anderes, außer, den Gästen einen neutralen, individuell gestaltbaren Rahmen für Genuss zu bieten. Es ist daher auch kein Zufall, dass das Personal mit seiner perfekt abgestimmten Kleidung in der Tapete zu verschwinden scheint.
Das Tulus Lotrek ist so vieles nicht, dass genau diese Abwesenheit vieler Aspekte für mich mindestens so reizvoll ist wie alle vorhandenen Annehmlichkeiten. Diese Ambivalenz spiegelt derzeit genau meine Empfindungen nach den darbenden Monaten des Lockdowns wider. Ich möchte so vieles aufholen ‒ und dabei auch von so vielem Abstand nehmen. Ich brauche jetzt weder mittelmäßige Zutaten, pseudokreativ angerichtete Teller noch einen Service, der nachfragt, ob es für den Herrn noch etwas von dem Wasser sein dürfte. Mensch, schenk ein, das Ding! Wasser, Wein, ganz egal, Hauptsache Burgund. Ach ja, und bitte kocht etwas, das mich flasht.
Die großzügige Außenterrasse ist von blickdichten Hecken umsäumt. Für den Schutz von oben ‒ es heißt, Nachbarn würfen hier manchmal mit Eiern ‒ dienen weit ausfahrende Markisen. Auf dem weißen Tischtuch sorgt ein mit diversen Besteckteilen befüllter Metallkasten in Verbindung mit dem Menü für Vorfreude auf stundenlanges Schlemmen. Es werden sechs.
Die Gläser bleiben auch nicht lange leer. Der Sommelier hat an unserem Tisch ‒ wir sind zu sechst ‒ freie Hand, Vorlieben sind bekannt, aber alles ist erlaubt. Während ich die Menükarte studiere und am liebsten aus jeder Option eine Folge machen möchte, werden erste Gläser befüllt. Auf einen Champagner (2013 »Instantanée« von Huré Frères, glasweise zu € 19) folgt ein vom Sommelier zielsicher ausgewählter 2017 Corton-Charlemagne »Le Charlemagne« von der Domaine Tawse (€ 190).
Meine Wahl fällt schließlich auf das omnivore Menü (sechs bis acht Gänge, € 135‒€ 169), mit meiner Bitte, einige Optionen aus der vegetarischen Variante einzuschieben. Welche genau, überlasse ich der Küche. Hier gibt es keine falschen Entscheidungen.
Zu Beginn nordet ein Rhabarber-Macaron mit Ingwergel und grünem Pfeffer die Geschmacksnerven auf eine leichte Schärfe und ein akkurates Handwerk als roten Faden durch das Menü ein. Solchen Macarons kann man in unzähligen qualitativen Schattierungen begegnen ‒ von pappig-neutral bis zu saftig und voller Spannung. Dieser zählt zur letzteren Gattung. (7/10)
Der zweite Snack ist eine mit noch etwas warmem Hummerscherenfleisch gefüllte Nori-Algen-Rolle. Die natürliche Süße des Krustentiers wird von der Alge stimmig kontrastiert; es entsteht ein spannungsvolles »japanisches« Geschmacksbild, das Fernweh hervorruft. Eines der besten Häppchen seit langer Zeit. (8/10)
In Ponzusauce angerichtete Gelbschwanzmakrele mit Sommertrüffel, »Lauchstroh« und Gurke setzt das Japangefühl fort. Neben der exzellenten rohen Makrele in idealer Dicke sorgt ein süffiger Umamigeschmack in Kombination mit einem Aroma, das amüsant, aber höchst zufriedenstellend, an einen alten Koffer erinnert, für Freude am Gaumen. (7,5/10)
Der erste Menügang ist eine Kreation aus gelierter Ochsenschwanzconsommé mit Crème de Bresse, deren gewissenhafte Zubereitung sich in ihrem konzentrierten Geschmack widerspiegelt. Dazu gibt es, geschichtet, Stücke und Sud von gebeizter Rote Bete, »N25 Kaluga«-Kaviar mit Rauch- und Nussaromen sowie verschiedene Kräuter. Rauchig, cremig, hin und wieder unterbrochen durch feine Säurespitzen, ist das ein weiterer Genuss auf hohem Niveau. (7,5/10)
Ein erster Einschub aus dem vegetarischen Menü folgt in Form von weißem und wildem grünen Spargel. Dünne Tranchen des roh marinierten Gemüses sind in Kreisform in Tellermitte angerichtet und umzingeln eine cremige, leicht säurebetonte Melange aus Spargelmolke, Spargelstückchen, Haselnussmilch und Haselnussvinaigrette. Gehobelte Haselnuss ergänzt das nussige Geschmacksbild um spannende Texturkontraste. Sehr fein. (7/10)
Eine Tartelette aus Waffelteig folgt. Sie ist knusprig, fettig und gefüllt mit frischen Erbsen, Kräutern und Zitrone-Minze-Gel. Das mundfüllende Häppchen verwandelt sich am Gaumen zu einem anfangs knusprigen, schließlich cremigen Erlebnis, geschmacklich geprägt von der ätherischen Frische der Erbsen, einer leichten Süße und einer kontrastreichen, »senfigen« Schärfe von einem der Kräuter. (7/10)
Im Anschluss betört der Duft von versengtem Launch. Ein Stück der Stange ist aufrecht auf dem Teller in Lauchöl angerichtet und mit einem süßlich-süffigen Soubise-Schaum sowie gehobeltem Gudbrandsdalen-Karamellkäse aus Norwegen getoppt. Man isst das Konstrukt möglichst in einem Happen, es entfaltet sich dann am Gaumen eine wohlige Mischung aus lauchigen Röstnoten und viel Umami. Leidglich die Proportionen könnten noch etwas Justierung erfahren, aber in Summe ist das ein Moment zum Augenschließen. (7,5/10)
Die nächsten Gänge sind Muscheln, Fischen und Krustentieren gewidmet, und darauf kann man sich bei Strohe immer freuen. Eine goldbraun geröstete, in ihrer Schale servierte Jakobsmuschel ist mit einer spannungsvollen Creme aus Karotte und Seeigel begleitet, was eigentlich schon ausreichen würde, um den Gang mit einem überzeugten Nicken zu quittieren. Doch ein Dashi aus Jakobsmuschelabschnitten sorgt für weitere Tiefe und irgendwo noch eingewirkte Habanero-Schote für wachrüttelnde Schärfe, dezent, aber fast schon emblematisch. Dass die Muschel in kleine Scheiben aufgeschnitten ist, die man am besten mit Stäbchen isst, hat dazu noch einen »Texturvorteil« am Gaumen. (7,5/10)
Für das nächste Gericht wurde ein Kaisergranat in seiner Schale frittiert und kurz über Holzkohle nachgegart, was die mittelfeste Textur des Tiers hervorragend zur Geltung bringt. Man könnte über die Andeutung einer zu langen Garung stolpern, doch die hervorragende Qualität wischt derartige Gedanken schnell beiseite. Mit dem Schwanz als Griff tunkt man das Krustentier in eine mit Ahornsirup und Haselnussöl schaumig aufgeschäumte Sahne-Butter-Beurre-Blanc, die das prägnant nussige Eigenaroma süffig abrundet. (7/10)
Es folgt Rotbarbe, ein kleines, saftiges Exemplar, auf dessen frittierte Schuppen man Carabinero platziert und Wildkräutersalat drappiert hat. Letzterer ist unter anderem mit einer hausgemachten XO-Sauce angemacht. Diese Geheimwaffe aus Strohes Küche, die, wie der Name des Restaurants, zwinkernd gegen jede Assoziation der Küche mit französischer Klassik rebelliert, bringt in diesem Gericht den Geschmack Hongkongs ins Spiel. Die außen knusprige, innen feste und saftige Rotbarbe ist qualitativ genauso ein Höhepunkt wie die zarten, leicht süßlichen Garnelen. Der kleine Salat, der seinen charmanten französischen Akzent trotz der fernöstlichen Sauce nicht ablegen kann, sorgt dabei für eine lässige Frische. (7/10)
Dann schiebt Strohe noch einen Hummer ein. Der ist in »Thermidor«-Manier zubereitet und liegt ganz schlicht auf dem Teller, dazu steht ein Saucentopf auf dem Tisch, in dem sich ein konzentriertes Potpourri aus würzigem Krustentierjus und Carabinero-Stückchen befindet. Intensiver Estragon verleiht dem Ganzen eine ätherische Frische, und auch hier findet man eine dezente Schärfe wieder. Gewissenhaftes Handwerk, makellose Qualitäten, hemmungsloses Schlemmen. (7,5/10)
Der letzte herzhafte Gang ist ein Gericht mit Kalbsfilet und -bries, Artischocke à la Barigoule, wildem Spargel und Kräutern. Eine Schnittlauch-Beurre-Blanc sowie ein klassischer Kalbsjus sorgen für Spannung auf dem Saucenspiegel. Dass man sich hier nicht für eine Sauce entschieden hat, ist nämlich alles andere als eine Unsicherheit. Mit jeder Gabel kann man sich einen neuen Geschmackseindruck zusammenstellen. Diese Kurzweiligkeit stellt dann auch das sonst oftmals eher als langweilig betrachtete Kalbsfilet auf eine ganz andere Ebene. Am Tisch herrscht genießerisches Schweigen. (7/10)
Beim ersten Dessert dreht sich alles um Aprikose und Thymian. Es gibt Nussbuttereis, eingelegte Aprikose und Aprikosenespuma, dazu Wermut und sehr viel Thymian. Das passt geschmacklich alles gut zusammen, lediglich die Portionsgröße könnte etwas nach unten korrigiert werden, da man des Schaums und Thymians nach ein paar Löffeln etwas überdrüssig wird. (6,9/10)
Ein Haselnuss-Nougateis mit Meersalz überkompensiert die eigentlich gar nicht vorhandene Enttäuschung über das Zuviel des Guten mit einem Dessert aus dem Schlaraffenland, mit Karamell und Nuss, Eis und Creme und was man sich sonst von einem wahrhaftigen Dessert wünschen dürfte. Ganz wunderbar. (8/10)
Es vergehen noch zwei Stunden, bis ich das Restaurant verlasse. Wir sind inzwischen in ein Hinterzimmer umgezogen, es fließt noch Champagner als wäre es das letzte Mal. Dabei geht es gerade erst wieder los. Um kurz vor eins wird klar, was längst unumstößlich war: mein erster Ausflug in die Welt der Sterneküche in diesem Jahr war ein rauschendes Fest.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Tulus Lotrek (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Max Strohe |
Ort: | Berlin, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 12.06.2021 |
Guide Michelin (D 2021): | * |
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