Lockdown-Notizen VIII: Fernweh

Max Strohe (Tulus Lotrek) zieht es nach Italien, Tim Raue nach St. Tropez, und Eric Menchon (Le Moissonnier) kocht sich gleich durch ganz Südamerika. Das kann nur eines bedeuten: auch Köche leiden derzeit unter Fernweh.

Diese Schlussfolgerung ist vielleicht etwas opportunistisch oder, sagen wir, eher Koinzidenz als Kausalität; dennoch fällt auf, dass einige Spitzenrestaurants in Zeiten des reinen Lieferbetriebs nach Abwechselung suchen. Das ist nachvollziehbar, denn aus der Perspektive des Kunden ist es ein Unterschied, ob man jede Woche in dasselbe Restaurant einkehrt oder jede Woche dasselbe Menü dieses Restaurants per Post nach Hause geliefert bekommt. Im sozialen Kontext eines Restaurants kann das Essen von Mahl zu Mahl noch so gleich sein ‒ man würde das dann eher konstant nennen ‒; dennoch verleiht das Spontane, das Soziale, das Erratische, das Exzessive einem Essen im Restaurant eine Einzigartigkeit, die ‒ in einer Zeit mit Kontaktbeschränkungen ‒ zu Hause nicht unbedingt reproduzierbar ist.

In jedem Fall bleibt abzuwarten, ob einige Restaurants die Chance wahrnehmen, ihr kulinarisches Repertoire auch nach dem Lockdown so zu erweitern, wie man es derzeit mit einigen Lieferangeboten erleben kann.

Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass sich Eric Menchon aus dem urfranzösischen Le Moissonnier zu einem »panamerikanischen« Menü bekennt? Dass man jemandem wie Menchon handwerklich und qualitativ so ziemlich jedes Menü zutraut, ist dabei nicht der Punkt. Die offene Frage, ob vielleicht eine persönliche Beziehung des Kochs ‒ hier ‒ zu Südamerika besteht, oder ob es sich einfach um eine Laune, um Sehnsucht oder um Faszination handelt, verleiht dem Menü eine spannende, persönliche Note.

Ein Ceviche interpretiert Menchon zum Beispiel untypisch, aber sehr gut, mit Thunfisch, Orangen-Ingwer-Marinade, Paprika, Gurke und Zwiebeln. Das bekannte säuerliche Geschmacksbild eines Ceviche findet man hier zwar (offenbar absichtlich) nicht, aber Sonne und schattige Kühle befinden sich eindeutig auf dem Teller und lassen die Sinne angenehm abschweifen.

Weitere Highlights des Menüs (€ 200 für zwei Personen) sind ein hervorragendes ecuadorianisches Encocado mit Meeresfrüchten, bei dem die dickliche Kokossauce texturell spannend von einem à part angerichteten Maisküchlein kontrastiert wird, sowie ein halbes Huhn (cocquelet grillé), nur noch im Ofen fertig zu stellen und begleitet von einer frisch-würzigen Chimichurri-Sauce und sprachlos machenden schwarzen Bohnen in Salsa Roja. Letztere sind so gut, nicht zuletzt wegen des ganz und gar nicht südamerikanischen »Tricks«, das Ganze mit etwas Eisbein zu verfeinern, dass ich noch eine kleine Portion für morgen aufbewahre.


Tim Raue macht es natürlich direkter und liefert eine Erklärung für sein Menü »Fuh Kin Great: St. Tropez« (€ 68 pro Person) gleich mit. So erfährt man, dass das Restaurantteam vor längerer Zeit einmal ein Pop-Up-Restaurant an dem französischen Küstenort gemanagt hat und Raue die »Energie und Lebensfreude« des Orts sehr verinnerlicht hat.

Es gibt zu Beginn des Menüs einen Tomatensalat »Ramatuelle« ‒ schlicht, aber gut durch eine raffinierte Basilikumsauce ‒ und eine Vichyssoise »Club 55« mit Imperial-Kaviar. Alle Speisen sind mühelos anzurichten und transportieren konsequent die Idee von schattigen Mittagessen in der Sommerhitze Frankreichs.

Das »Yacht Dinner«, so die Bezeichnung des Hauptgangs, besteht aus Rinderfiletscheiben, grünem Spargel, Estragonpüree und einer Sauce Béarnaise, an der trotz des Versands keine Qualitätseinbußen feststellbar sind. Dass man das Fleisch bereits etwas vorgebraten hat, tut der Textur nicht ganz so gut (Christian Bau verschickt sein Rind beispielsweise immer roh), gleichwohl bringt Raue alle kulinarischen Ideen kompakt auf den Punkt. Die Saucen sind besonders gelungen.

Eine Tarte Tropézienne mit Vanillecreme und Zitrusfrüchten bildet dann noch einen exzellenten Abschluss eines Essens, in dem, wenn man Raue etwas kennt, dann doch wieder mehr zwischen den Zeilen steht als in den Erläuterungen.

Neben dem kulinarischen Aspekt sind für mich gerade all das Nichtausgesprochene, der Kontext, die Bilder, die eigenen Projektionen, die solche Themenmenüs hervorrufen, besonders reizvoll.

Optimistisch habe ich auch schon eine Reise nach Frankreich geplant. Wir werden sehen, was der Sommer bringt.