Chef’s Table at Brooklyn Fare – die Welt dahinter
Kodawari bezeichnet bei Japanern die Philosophie, Dinge über ein Maß hinaus zu perfektionieren, das bei uns längst als vollkommen gilt. Praktiziert man dies, erschließt sich dahinter eine neue, vorher verborgene, Welt.
César Ramirez, Küchenchef mit obsessiver Qualitätsfixierung und unbegrenzten Ressourcen, betreibt kodawari in seinem legendären Restaurant in New York, indem er Zutaten beschafft, auf die die meisten Köche der Welt keinen Zugriff haben, weil sie zu teuer und zu rar sind und auch, weil sie nicht auf die Idee kommen würden, etwas noch Besseres zu verlangen als das bereits Beste. Ramirez lässt japanischen Sushimeistern den Fisch unter der Nase wegkaufen, weil er mehr bezahlen kann. Aber auch, weil er eine bestimmte Vision seiner Speisen hat und die richtigen Einkäufer beschäftigt. Die wissen nicht nur, in welcher Ecke der Welt eine bestimmte Zutat ‒ von einer Schalotte bis zum Seeohr ‒ ihr qualitatives Maximum erreicht, sondern besorgen ihm von dieser A-Ware dann auch noch die feinste Auslese und schicken ihm die Sachen täglich frisch nach New York.
Im Chef’s Table at Brooklyn Fare, längst nach Manhattan umgezogen, aber immer noch charmant im hinteren Teil eines Supermarkts versteckt, kombiniert Autodidakt Ramirez diese Produkte mit seiner Leidenschaft für die besten Küchen ‒ die japanische und die französische ‒ zu den außergewöhnlichsten Speisen, die man überhaupt irgendwo genießen kann. „Julien“, erklärt mir Ramirez mit einer kindlichen Freude, leicht verschwitztem Gesicht und charmantem mexikanischem Akzent, „I can buy anything I want. This is the only restaurant in the world that has no limits.“
Apropos verschwitzt. Ramirez steht täglich selbst in der Küche seines Restaurants ‒ seit Neuestem sechs Mal pro Woche ‒, mit Schürze, Schnauzer und Kochtüchern. Er hat keine Ambitionen, sein Universum zu vergrößern, klinkt sich aus jeglichem Social-Media-Zirkus aus, nimmt an keinen „Four Hands“-Events und sonstigen Veranstaltungen teil, scheut die Öffentlichkeit. Ich war mit Ramirez letztes Jahr eine Pizza essen, wir tranken dazu alten Barolo, niemand drehte sich nach ihm um. Ramirez operiert in seiner eigenen Welt, in einer surrealen Blase, die eigentlich nicht existieren dürfte.
Zum Glück existiert sie. Mir bleiben an diesem letzten Freitag des Jahres auch nur noch wenige Tage Zeit, um das Jahr erfolgreich abzuschließen. Ein Jahr ohne einen Besuch im Chef’s Table at Brooklyn Fare ist für mich kein vollkommenes Jahr. Eine Woche eigentlich auch nicht, aber leider trennen mich ein paar Tausend Kilometer vom besten Restaurant der Welt. Jetzt ist es auch mal ausgesprochen. Was soll ich da noch verheimlichen? Ich bin immer wie vom Blitz getroffen, wenn ich die Gerichte von Ramirez probiere. So als äße ich zum ersten Mal in einem Spitzenrestaurant, als erführe ich zum ersten Mal derartigen Genuss. Jedes Mal aufs Neue. Gäbe es von Hamburg aus eine Direktverbindung nach New York, würde ich hinfliegen, nur um dort zu essen. Der eigentliche Sinn der Concorde ergibt sich erst Jahrzehnte nach ihrem Aus.
Dieses Mal sitze ich wieder an einem der normalen Tische anstatt am Tresen, was mit meiner Reservierungszeit um 19 Uhr zu tun hat. Es gibt acht unterschiedliche Reservierungszeiten zwischen 18 und 22 Uhr, manche davon am Tresen, manche am Tisch. Beide Optionen sind angenehm, wenngleich ich nächstes Mal wieder den Tresen bevorzugen würde.
Das Menü beginnt mit einer hauchdünnen, aber prall gefüllten Tartelette. Eine Creme aus geräucherter Forelle dient als Trägermasse für ein Tatar von der Gelbschwanzmakrele, dies wiederum ist das Podest für die eigentlich Hauptzutat Kaviar. Ramirez verwendet den exzellenten chinesischen „Imperial Caviar“ von Kaluga Queen. Am Gaumen ist die große Portion zunächst eine Herausforderung, doch die Menge ist Konzept: wie eine große Welle überrumpelt einen hier der Geschmack nach Meer, schließlich kommt etwas Rauch hinzu, über allem liegt die elegante Nussigkeit der salzigen Fischeier. Während sich die Portion am Gaumen langsam verkleinert, bringen Shisoblüten ein geheimnisvolles, florales Aroma ins Spiel, das an Kirschblüten in Kyoto erinnert. Alle Sinne tanzen. (10/10)
Ich schließe meine Augen. Endlich wieder hier.
Tartelette Nummer zwei stellt Flunder zur Schau. Dazu gibt es frisch geriebenen Wasabi und knusprige Seetang-Fäden. Die phänomenale Qualität des Fischs macht hier schon mal einen ersten Auftritt, noch etwas versteckt unter dem Seetang, aber elegant abgerundet mit einem winzigen, nach Zitrusfrüchten und Pfeffer schmeckenden Blättchen von der Szechuanpfeffer-Pflanze. Großartig. (9/10)
Es geht weiter mit einem Klassiker des Hauses. Bei dem thront eine generöse Portion Hokkaido-Seeigel auf einem Stück noch warmer, knuspriger Brioche. Obenauf, wo normalerweise ein kleines Stück eingelegten schwarzen Trüffels platziert ist, serviert Ramirez zu dieser Jahreszeit eine voluminöse Portion hauchdünn gehobelten weißen Alba-Trüffels. Dessen kräftige, ätherische Aromen gehen mit der jodigen Süße des Seeigels eine schier himmlische Kombination ein. Ein Henkershappen, der in dieser Menge schon einen nicht unwesentlichen Anteil des Menüpreises in Höhe von umgerechnet knapp € 350 erklären dürfte. (10/10)
Der nächste Gang ist bezeichnend für die schlichte Perfektion von Ramirez’ Küche, bei der es oft nur um ein einziges, makelloses Produkt und eine handwerklich und geschmacklich vollkommene Sauce geht. In diesem Fall ist das eine Makrele aus Japan. Probiert man den ersten Bissen, wird man Zeuge einer Qualitätsstufe, die den meisten unbekannt sein dürfte. Man benötigt einige Sekunden, um zu verstehen, was da am Gaumen passiert. Der Fisch ist surreal saftig und zart, buttrig und heiß, fast schon eine Karikatur einer Delikatesse. Dazu gibt es eine Beurre Blanc, die prägnant mit einer Zitrusfrucht aromatisiert wurde, welche genau, kann ich nicht ausmachen. Die Haut des Fischs ist eine fragile Membran, die sich widerstandslos mit dem Löffel zerteilen lässt und geschmacklich eine Brise sommerlicher Grillaromen beisteuert. Alles ist im Gleichgewicht, es trifft mich wie ein Schlag als der schöne Hering-Teller leer ist. (10/10)
Dann, in einem Schälchen, folgt eine Kastanien-Custard mit Königskrabbe aus Norwegen, kleingehacktem schwarzem Périgord-Trüffel, Schnittlauch und einer weiteren elementaren Zutat: Hitze. Weit, weit weg vom lauwarmem Anrichtwahnsinn mancher Restaurants, kommen viele der Gerichte aus Ramirez’ Küche heiß zum Gast. Wie genussfördernd das ist, erlebt man bei diesem kleinen Meisterwerk, das durch die Hitze von einem verführerischen Aromabouquet umgeben ist. Auf dem Grund des Schälchens findet man die puddingartig gestockte, geschmacklich leicht nussige Kastaniencreme, darauf ein irgendwie gelierter Fond, der geschmacklich an ein Dashi erinnert, aber durch die intensiven Trüffeln und das Krebsfleisch eher französisch wirkt. Was für ein Genuss! (10/10)
„The diver has been on the boat this morning!” erklärt Ramirez dann zur Jakobsmuschel, Protagonist des nächsten Gangs. Es gibt keinen Grund, derartige Aussagen anzuzweifeln, man fragt sich immer nur, in welcher Ecke der Welt „heute Morgen“ war. In diesem Fall stammt das Exemplar aus Maine, also aus nicht allzu weiter Ferne. Die Qualität der kurz angebratenen Muschel ist eine neue Referenz, was bei diesem äußerst kritischen Produkt nicht einfach ist. Das zarte, an keiner Stelle wässrige, Muschelfleisch ist bemerkenswert süß und eine Nuance nussig, eine Sauce mit einem „mexikanischen Kraut, das wie Shiso aussieht“ ist angenehm pikant. Eines der besten Gerichte mit Jakobsmuschel, die ich je gegessen habe. (9/10)
Der entspannte, leise Rock- und 80s-Soundtrack spielt im Hintergrund gerade Say It Isn’t So von Daryl Hall & John Oates. Dazu gibt es Kinmedai (Glänzender Schleimkopf), einer der edelsten Speisefische überhaupt. Der Fisch stammt aus der Bucht von Chiba bei Tokio. Das Filetstück wurde kurz, aber heiß über japanischer Holzkohle gegrillt, entsprechende Grillabdrücke zeugen noch von der Methode. Dazu gibt es ein Petersilienwurzelpüree und eine schaumig-buttrige Sauce auf Krustentierbasis mit Safran, alles so einfach wie nötig angerichtet. Erneut läuft mir allein wegen der Hitze des gehaltvollen Fischs ein Schauder über den Rücken, dann kommt noch der konzentrierte Safran-Geschmack der Sauce hinzu ‒ und diese immer wieder so bewegende Schlichtheit der Gerichte. Die Zubereitung des Fischs erreicht hier ein Niveau, das sonst nur noch in Japan vorstellbar ist. Kaum zu fassen. (10/10)
Das trotz kleiner Portionen mächtige Menü geht weiter mit einer dekadenten, reichhaltigen, heißen Kombination von famos gebratener Gänseleber (aus dem Hudson Valley in New York), Kaisergranat (aus Norwegen) und einer Portweinreduktion. Das Gericht ist zusätzlich mit einem Petersilienschaum bedeckt, was der üppigen Kombination einen angenehm herben Kontrast entgegensetzt. Zutaten und Handwerk sind abermals am Anschlag hier, die gebratene Foie Gras, mit homogenem Schmelz und karamellartigen Röstaromen, ist sicherlich die beste, die ich je probiert habe. (9/10)
Und dann wieder eines dieser Gerichte, die der Grund dafür sind, dass ich mir neben meiner Bewertung für bereits vollkommene Gerichte auf Weltklasseniveau, wie das letzte Gericht, noch dieses Fünkchen Magie ausbedinge. Anders ist es nicht zu beschreiben, wenn Akamutsu, ein Barschverwandter mit ungemein saftigem Fleisch, auf perfekt gekochten Koshihikari-Reis und eine mehr als wohlgemeinte ‒ aber einzig wirksame ‒ Menge weißer Alba-Trüffeln trifft, in einer Qualität, derer man nur selten Zeuge wird. Am Fond des Tellers findet man neben dem wunderbaren Reis mit kleiner, dicker Körnung, der eigentlich der wahre Star des Gerichts ist, noch einen süffigen Sud mit nicht weiter identifizierbaren Komponenten. Ich glaube, dass etwas Seeigel mit dabei ist. Ein weiteres handwerkliches Meisterwerk, das César Ramirez’ Position als Fischgott in (einen weiteren) Stein meißelt. (10/10)
Inzwischen kämpfe ich ein wenig, was hauptsächlich auf meinen Jetlag zurückzuführen ist. Ich bin aufgewühlt und erschöpft, also, wenn man so möchte, im Zustand kulinarischer Glückseligkeit.
Der letzte herzhafte Gang ist eine fast schon provozierend große Portion Ferkelkoteletts, serviert, unter anderem, mit Kürbispüree, Pfifferlingen und einer glänzenden, mit Bratenjus vermengten dunklen Sauce. Bei dem Ferkel handelt es sich (natürlich) um ein Referenzprodukt, in diesem Fall um eines der zertifizierten Spanferkel aus Segovia bei Madrid. Diese werden in Spanien traditionell im Ganzen serviert und mit einem Teller zerteilt, was wegen ihrer Zartheit mühelos möglich ist. Hier in New York ist natürlich alles schon präpariert. Aufgrund der blassgrauen Färbung und der naturgemäß noch kaum präsenten Marmorierung des Jungtiers sieht man dem Fleisch seine Zartheit zunächst nicht an, aber die Stücke zergehen am Gaumen wie Koberind. Die französische Zubereitung mit der gehaltvollen, perfekt gesalzenen Sauce und dem süßlichen Püree hebt dieses Gericht in den Olymp aller Gerichte mit Schwein, die ich bisher probiert habe. (9/10)
Zu The Police serviert man einen „Gaumenreiniger“ in Form einer Eisspeise mit Birne (aus Washington State). Ungläubig probiere ich den ersten Löffel. Am Gaumen offenbart sich ein intensiver, aber sehr natürlicher Geschmack nach vollkommener, reifer Birne, in seidiger, cremiger Textur. Ein Gelee sowie geschabtes Eis bereichern das Dessert um weitere Texturebenen und bieten dadurch Abwechslung. Die einzige Konstante ist das außerweltliche Birnenaroma. Dass derartige, scheinbar einfache, Kreationen bei Ramirez so großartig sind, muss man erlebt haben, um meine Begeisterung zu verstehen. (10/10)
Das Niveau bleibt so. Ein Milcheis erinnert mich geschmacklich an „Mini Milk“ aus meiner Kindheit, aber die Parallelen enden abrupt. Dieses Eis ist verführerisch cremig und nicht allzu süß. Den erforderlichen Süßekick erfährt das Dessert durch eine sirupartige, göttliche Karamellsauce, der mithilfe von Sojasauce eine salzige Ebene hinzugefügt wurde. Das schmeckt nach Kino und unbeschwerten Sommern und wäre auf diese Weise schon ein großartiges, unverkopftes Dessert für alle Freunde feinster süßer Abschlüsse. Doch Ramirez hobelt hier noch weißen Alba-Trüffel drüber, der so gut dazu passt, dass man sich fragt, wie man bisher Eis ohne diese Zutat genießen konnte. Himmlisch! (10/10)
Der letzte Coup ist ein „gefrorenes Vanillesoufflé“, eine abenteuerliche Konstruktion in der Form eines Blumentopfs mit bestimmt einem halben Liter Volumen. Doch der größte Bestandteil der Masse ist Luft. Am Gaumen schrumpft jeder Happen des handwerklichen Meisterwerks auf eine kleine Menge zusammen; mühelos schaffe ich selbst nach all diesen Gängen noch diese Portion. Der Vanillegeschmack ist präsent, aber unaufdringlich. Es ist als erhaschte man den Duft eines angenehmen Parfums im Vorbeigehen. Transzendent. (10/10)
Es bleibt dabei. César Ramirez fängt da an, wo andere ‒ zu Recht ‒ längst aufhören würden. Außerhalb Japans dürfte Ramirez der einzige Koch sein, der eine im Kern weitestgehend französische Küche mit der Akribie eines Japaners umsetzt. Das Ergebnis ist eine Welt hinter der Perfektion. Hinter bereits bester Qualität, fehlerfreiem Handwerk und größtmöglichem Genuss. Dass man diese Welt über eine Hintertür in einem Supermarkt betritt, könnte keine bessere Metapher sein.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Chef’s Table at Brooklyn Fare (→ Website) |
Chef de Cuisine: | César Ramirez |
Ort: | New York City, USA |
Datum dieses Besuchs: | 27.12.2019 |
Guide Michelin (New York City 2020): | *** |
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