Ichimura at Uchū ‒ dreilagiger Thunfisch
Der zweitcoolste Eingang zu einem Sternerestaurant befindet sich in der Eldrige Street in Manhattans Lower East Side, zwischen mit Graffiti vollgesprühten Wänden und Müllcontainern. (Der coolste ist der Lastenaufzug zum Drei-Sterne-Restaurant Ultraviolet in einem Hinterhof in Shanghai.)
Sobald man die Tür zwischen den Müllcontainern geöffnet hat, betritt man eine andere Welt, ganz so, wie man es von japanischen Restaurants erwarten darf. Achtsamkeit, Ordnung und Ruhe bestimmen hier das Ambiente.
Küchenchef Eiji Ichimura ist in New York kein Unbekannter und hatte zuletzt eine sehr bewegte Karriere. Bis Ende 2018 führte er in David Bouleys Brushstroke einen eigenen Sushi-Tresen (Ichimura at Brushstroke), der eigens mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde. Nach der Schließung des Brushstroke eröffnete Ichimura ein eigenes Restaurant (Ichimura), bevor er dieses nach einem Rechtsstreit mit dem Inhaber wieder verließ. Das Restaurant wurde nach dem Streit in 69 Leonard Street umbenannt und heißt inzwischen Shoji at 69 Leonard Street, wo ein Amerikaner namens Derek Wilcox jetzt Kaiseki-Küche kocht. Ichimura hat inzwischen auch wieder ein Restaurant in einem Restaurant eröffnet (das Ichimura at Uchū) ‒ und auch dort wieder zwei Michelin-Sterne erkocht. Genau dort bin ich heute Abend.
Die Reservierung erfolgte mühelos online, das Menü kostet dreihundert Dollar (ca. € 270), ab März nun sogar dreihundertdreißig. New Yorks Top-Sushi-Restaurants bewegen sich derzeit alle ungefähr um dieses Preisniveau herum (meist etwas darunter), vom doppelt so teuren Masa einmal abgesehen.
Die Plätze um den schönen Tresen aus zweihundert Jahre alter Hinoki-Zypresse füllen sich rasch. Ich bestelle einen 2017er Pouilly-Fuissé von der Domaine Leflaive für umgerechnet € 207. Das ist ein saftiger Aufpreis für einen 50-Euro-Wein, aber ich bin erst vor ein paar Stunden in New York angekommen und möchte die Reise nicht gleich mit Verzicht eröffnen. Es geht ja auch immer ein bisschen darum, wie viel einem bestimmte Dinge gerade wert sind, und nicht um die Frage, um wie viel Aufpreis es sich handelt.
Ichimura taucht irgendwann rechts hinter einem Vorhang auf und wirft jedem Gast freundliche Blicke zur Begrüßung zu. Etwa sieben Minuten später beginnt das Omakase-Menü mit den otsumami, die japanische Form der Amuse-Bouches, die jedoch meist weit über ein paar kleine Snacks hinausgehen.
Den Anfang macht ein ästhetisch ansprechendes Gericht um die Hauptzutat Seeteufelleber. Dazu findet man eine leicht süßliche Creme mit Miso sowie frittierte Elemente, die ich nicht näher identifizieren kann. Die Speise begeistert am Gaumen mit einer betörenden Mischung aus eleganter Süße und cremiger Textur. Ein verblüffender Start mit einer Zutat, die exzellenter Gänseleber in nichts nachsteht. (8,5/10)
Es folgt Schneekrabbe, ausgelöst und in ihrer eigenen Schale präsentiert. Das Krebsfleisch ist von fabelhafter Qualität, dazu bietet Krebsrogen einen jodigen Kontrast und Shisoblüten ihr an Pfefferminz erinnerndes Aroma. Wundervoll. (8,5/10)
Im Anschluss bedient sich der Meister einer Schachtel Hokkaido-Seeigel. Die rare Delikatesse, die bei uns zulande wegen mangelnder Nachfrage praktisch nicht aufzutreiben ist, richtet Ichimura mit Kaviar und frisch geriebenem Wasabi als eine Art Sandwich an. Zwei Teigschälchen machen daraus so etwas wie einen Oreo-Keks, mit dem Unterschied, dass einem hier ein wachrüttelndes Aroma-, Geschmacks- und Texturpaket bietet, welches mit Ozean, Cremigkeit, Wucht, Süße und Schärfe nur grob skizziert ist. Der dekadente Seeigeltaler ist eigentlich ein Gericht für allerhöchste Weihen, hat jedoch ein winziges Problem: die Teighüllen schmecken genauso wie diese pappigen industriellen Eishörnchen, was eine Spur unauthentisch wirkt. Der Wermutstropfen ist jedoch winzig, der Genuss umso größer. (9/10)
Gelbschwanzmakrele folgt in Form von zwei dicken, leicht angeflämmten Tranchen. Das Tier sei im Winter am größten, erklärt Ichimura, und nur die größten Exemplare lieferten derartige Qualitäten. Die beiden Stücke Fisch sind am Gaumen butterzart und klar im Geschmack. Zusammen mit dem Wasabi, etwas Rettich sowie winzigen Gurken samt ihrer Blüte sind das zwei Häppchen von erlesenster Güte. (8,9/10)
Der letzte Appetizer ist ein heißes Potpourri mit, unter anderem, geriebener weißer Rübe, Meeraal, Königskrabbe und shirako (Fischmilch). Die Rübe dient dabei durchgängig als eine Art geschmacklicher roter Faden sowie als beruhigendes Element in einem ansonsten sehr spannungsvollen Arrangement. Eine überraschende Schärfe von Wasabi mischt sich unter die Hitze des Dashi, die cremige Fischmilch steuert etwas Süße hinzu, Umami und Salz sorgen für weitere Spannung. Das Gericht ist mal laut, mal leise, mal lebhaft, mal ruhig, wie Musik ‒ oder das Leben! (8/10)
Dieser Auftakt war hervorragend, aber mächtig. Zugegeben, der um sechs Stunden zurückgedrehte Tag wiegt jetzt um kurz vor zehn zusätzlich schwer, doch der Trend in New York ‒ wie ich es im Laufe der Reise öfter feststelle ‒ geht eindeutig in Richtung Völlerei. Dass sich bloß niemand über zu wenig Essen beschwert.
Der Akt Nigiri-Sushi beginnt mit „weißem Fisch“ (den japanischen Namen, der die Zutat genauer differenziert, habe ich nicht verstanden), gefolgt von Kinki fish (kichiji) aus Hokkaido, ein Skorpionsfisch. Letzterer ist seltsamerweise etwas bitter, ein Geschmack, der bei Sushi ‒ wie in der japanischen Küche im Allgemeinen ‒ sonst kaum eine Rolle spielt und deshalb hier auffällt. Recht markant ist auch der Wasabi. Beide Stücke sind handwerklich jedoch auf einem Niveau, das man in Europa nur an wenigen Adressen findet. (7/10)
Es folgen Japanischer Halbschnäbler (sayori), bei dem die geringe Säure und ein etwas „loser Halt“ des shari (Reis) auffallen, es überzeugt aber eine wunderbare Zitrusnote (7/10). Stachelmakrele (shima aji) ist noch besser (7,5/10).
Magerer Thunfisch (akami) ist exzellent und trotz des geringen Fettgehalts überraschend buttrig (7,9/10); eine Makrelenart (sawara) kommt ebenfalls in sehr guter Qualität und mit einem an Hering erinnernden Geschmack (7,5/10).
Ein Nigiri mit japanischer Streifengarnele (kuruma ebi) ist keine Referenzarbeit, weil die Garnele etwas zu trocken ist (in japanischen Spitzenrestaurants erfreut bei der Zutat ein Glanz das Auge!), und weil sie hier zu groß portioniert ist. Oft wird diese Nigiri-Art mundfreundlich zerteilt. Da es ein Fauxpas wäre, von dem Stück abzubeißen, ist das etwas befremdlich am Gaumen (6,9/10). Jakobsmuschel aus Hokkaido ist dann wieder deutlich besser und überzeugt mit einer Spitzenqualität, geeigneteren Proportionen und einem erfrischenden Wasabi-Kick (7,5/10).
Stolz präsentiert Küchenchef Ichimura einige der folgenden Zutaten.
Mittelfetter Thunfisch (chutoro) ist dann in der Tat von einer Spitzenqualität, buttrig schmelzend, keine Spur wässrig, dafür aber in einer dreifachen Schichtung etwas zu viel des Guten. Dennoch ein hervorragendes Stück Sushi (8/10). Seeigel (uni) aus Hokkaido ist ebenfalls generös portioniert, was bei diesem Happen kein Problem ist. Zum ersten Mal ist bei diesem Teil alles in perfekter Balance ‒ von einer Art, die Weltklassesushi vom gesamten Rest unterscheidet (9/10). Man meint fast, dass das hier ein Glückstreffer ist.
Fetter Thunfisch (otoro) folgt und ist abermals dreifach geschichtet. Diese Unverhältnismäßigkeit zwischen Fisch und Reis tut dem Sushihandwerk nichts Gutes, gleichwohl bleibt auch dieses Stück auf einem hohen Niveau (7,9/10). Aal (anago) ist das letzte Stück Sushi und trotz dichter Sauce und hohen Fettgehalts unerwartet leicht (7,9/10).
Tamago, das japanische Omelette, ist etwas unkonventionell obenauf karamellisiert, schmeckt damit aber hervorragend (8/10).
Hōjicha, ein gerösteter grüner Tee aus Japan, schmeckt naturgemäß etwas nach Getreide und Aschenbecher; ein fruchtiges Dessert mit Mango, Mangosorbet und Erdbeere, zu dem ein Mandel-Sake serviert wird, erfrischt dann noch zum Abschluss (6,9/10).
In Anbetracht des hohen Preises ‒ mit einem guten Wein wird man hier zu zweit knapp tausend Dollar ärmer ‒ war das Mahl vor allem bei den Nigiri schwächer als erhofft. Letztere waren sehr inkonsistent, mit nicht allzu streng ausgelebter Präzision, nur teilweise herausragenden Produkten und einem etwas unauthentischen „Mehr ist mehr“-Motto. Mir geht es danach auch nicht allzu gut, vielleicht ist der Jetlag schuld, vermutlich auch die Völlerei, aber eines ist sicher: wiederholungsbedürftig ist das ‒ bei den Alternativen in New York ‒ nicht.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Ichimura at Uchū (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Eiji Ichimura |
Ort: | New York City, USA |
Datum dieses Besuchs: | 26.12.2019 |
Guide Michelin (New York City 2020): | ** |
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