Le Clos des Sens ‒ von Seen und Gärten
Eines von Frankreichs jüngsten Drei-Sterne-Restaurants liegt in der kulinarisch verwöhnten Region der Haute-Savoie. Vom Flughafen Genf ist das zur Relais & Châteaux-Vereinigung gehörende Hotel mit dem Auto in einer knappen Dreiviertelstunde erreichbar.
Ich habe zwei Nächte hier geplant, was nicht die beste Idee ist, wie sich bald herausstellen wird. Warum es mir nicht in den Sinn kam, direkt am See bei Yoann Conte zu übernachten ‒ wo ich morgen ohnehin eine Reservierung zum Abendessen habe ‒ ist meinen übereifrigen Buchungsfingern im Zusammenhang mit den Attributen Drei-Sterne-Restaurant und Relais & Châteaux geschuldet ‒ üblicherweise ein Garant für Hotellerie auf höchstem Niveau.
Doch man ist hier nicht so ganz auf Hotelgäste spezialisiert, sondern offenbar nur auf das Restaurant. Jetzt im Sommer serviert man nahezu jeden Tag Mittag- und Abendessen. Als gerade ankommender Gast um die Mittagszeit ist es dennoch schwierig, überhaupt an etwas Verzehrbares zu gelangen. Mir ist gerade nur nach einem Glas Champagner, etwas Wasser und einer Kleinigkeit zu Essen, doch meine Begehren stoßen auf angestrengte Gesichter. Hinzu kommt, dass die wenigen Sitzgelegenheiten im Hotel alle „reserviert“ sind. Ein skurriler Empfang.
Mit viel Überzeugungskraft, dass es mir absolut recht sei, wenn der eine Tisch auf der Terrasse nicht wieder penibel eingedeckt würde, bekomme ich schließlich noch etwas Käse und ein Glas Wein. Ausnahmsweise. Morgen, so versichert man mir, käme eine große Gesellschaft ins Hotel, da wäre dann tagsüber wirklich nichts zu machen. Da bleibt mir als Hotelgast, der eigentlich nur ein entspanntes und ruhiges Wochenende hier verbringen möchte, schon mal der Käse im Hals stecken.
Am Abend ‒ mit Reservierung ‒ ist alles unkomplizierter. Der Speisesaal ist durch indirekt beleuchtete Holzwände und eine Öffnung zum begrünten Innenhof sehr gemütlich.
Was die Getränke betrifft, beginne ich mit einem 2016er Viré-Clessé „Quintaine“ von der Domaine Guillemot (Glas € 17), bevor es danach , ebenfalls weiß, mit einem 2014er Meursault 1er Cru „Goutte d’Or“ von der Domaine Comtes-Lafon (€ 250) ins Menü startet.
Eine klassische Speisekarte gibt es nicht. Stattdessen sind, neben diversen regionalen Lieferanten, dutzende Zutaten aufgeführt, die unter dem Leitmotiv „vegetarisch und aus den Seen“ in zehn (€ 210) oder sieben (€ 168) Gängen ‒ aber nicht unbedingt in der aufgeführten Reihenfolge ‒ zu verkosten sind.
Das Menü beginnt mit einer Reihe von Amuse-bouches, die nacheinander serviert werden. Flussbarsch, einer der typischen Fische aus den Seen der Haute-Savoie, gibt es einmal roh als Röllchen, sehr zart, mit Kräutern und Limetten-Kaviar. Daneben findet man ein ganzes, winziges Exemplar des Fischs, plattgedrückt, frittiert und im Ganzen zu verspeisen. Eine Blüte und etwas Frühlingslauch unterstreichen die Leichtigkeit dieser exzellenten Produktdarbietung. (8/10)
Eine Tartelette mit Mousse vom Hecht und seinem Kaviar sieht dann zunächst etwas eintönig aus, ist aber mehr als hervorragend. Die Aromen des geräucherten Fischs stehen im Vordergrund der Eindrücke, lassen aber auch dem Geschmack des feinen Gebäcks und dem Kaviar Raum. Bilder von kühlen Herbstmorgen an klaren Gebirgsseen schießen in meinen Kopf (8,5/10). Der letzte Snack ist eine äußerst filigrane Gebäckscheibe, die Champignon (aus Saumur) thematisiert. Der oft missverstandene Pilz hat ‒ in dieser Qualität und Frische ‒ Attribute von Trüffel, Wald und Erde. Ganz wundervoll (8/10).
Ein weiterer Auftakt ist ein Kräutersalat, der in einer kleinen, erneut sehr filigran gearbeiteten Tartelette serviert wird. Die ganz pur servierten Kräuter kommen in dieser Pracht natürlich ganz ohne Dressings aus und entfalten am Gaumen den Eindruck eines Kräuterbads. Eindrucksvoll intensiv. (8/10)
Das eigentliche Menü startet mit „floraler Polenta“. Eine entsprechende, etwas neutral schmeckende, Creme stellt die Bühne für geschmacklich faszinierende Blüten dar. Besonders die von Kohlrabi, Bärlauch und Radieschen entfalten pikante Aromen, die jeweils wie die „echte“ jeweilige Zutat schmecken, nur etwas schärfer. Eine Schicht Felchenkaviar fügt noch etwas Salzigkeit hinzu. Fantastische Aromen, aber etwas massig. (7,5/10)
Der Service ist zurückhaltend und professionell, aber in Bezug auf Charme und Souveränität spürt man auch ein wenig, in der Provinz zu sein. Das ist nicht despektierlich gemeint; jeder hier macht gute Arbeit, aber mehr eben auch nicht. Dafür ist der Meursault hervorragend und passt mit seinen lebhaften, „hellen“ Aromen wundervoll zu allem bisher Gekostetem.
Erneut gibt es Champignon, diesmal in Form eines spektakulär konstruierten Kegels, der wiederum aus vielen kleinen, zusammengerollten Kegeln hauchdünner Champignonscheiben besteht. Im Inneren der Konstruktion befindet sich ein weiteres, größeres Pilzexemplar mit karamellisierten Schalotten. Am Gaumen ergibt sich durch die Feinheit der kleinen Röllchen ein spannendes Texturerlebnis, welches die sehr intensiven, erdigen Aromen des Pilzes gut ausbalanciert. Der Champignon innen mit den Schalotten ist süffig und herzhaft, ein dazu serviertes Tässchen mit heißer Pilzessenz bringt dann noch einmal eine andere Temperatur- und Texturebene mit ein. Viel besser kann Champignon nicht mehr schmecken, wenngleich das Gericht stellenweise etwas massig wirkt. Dennoch große Produktküche. (8,9/10)
Es folgt eine umfangreiche Variation um das Thema Flusskrebs. Diese weitere regionale Spezialität wird in Form von mehreren Kreationen serviert. Den Auftakt machen drei Speisen, in der Mitte eine intensiv und leicht bitter nach Krustentier schmeckende Tartelette aus den Köpfen des Tiers (8/10), links ein geschmacklich weniger spannender Cracker aus den Karkassen (7/10), sowie rechts ein Schälchen mit einem mit Ei gebundenen Flusskrebstartar (8,5/10). Letzteres ragt geschmacklich heraus, mit einer angenehmen Kühle und pointierter Zitrusfrische.
Als zweiter Gang werden die ausgelösten und behutsam gegarten Flusskrebse in einer „mehrstöckigen“ Schale serviert. Darunter findet man eine Krustentier-Royale, die wiederum mit einem sehr konzentrierten Krustentierjus aufgegossen wurde. Bei dem Gericht gelangt die natürliche Süße der Krustentiere in den Vordergrund, die ein wenig an Honig erinnert. Das gesamte Flusskrebs-Thema ist insgesamt hervorragend umgesetzt, für wirkliche Großartigkeit fehlte mir aber ein wenig Abwechslung sowie ein einheitlich hohes Niveau aller Kreationen. Im Schnitt 8/10 für die beiden Gänge.
Die fingerdicke Tranche einer gelben, in Essig marinierten Tomate kommt beim nächsten Gang mit einem aus Ei hergestellten Ei ‒ außen mit einer leichten Hülle aus geschlagenem Eiweiß, innen mit flüssigem Eigelb ‒, Zwiebeln und diversen Kräutern auf den Teller. Die ungewöhnliche Kreation ist geschmacklich sehr harmonisch. Die Tomate ist fleischig und bietet viel Umami; Eigelb und Zwiebeln stellen ein wenig an Omelette erinnernde Süffigkeit her, während die exquisiten Kräuter dazu dem Gericht eine Art geheimnisvolle Persönlichkeit verleihen. Hervorragend, aber erneut nicht so, dass der größte Funken überspringt. (8,5/10)
Es geht weiter mit roter Bete, dünn geschnitten, mariniert und um eine Portion „Fischsalat“ angerichtet. Dieser besteht aus kleinen Würfeln von geräuchertem Felchen, karamellisierten Zwiebeln sowie Rettich, der etwas Schärfe beisteuert. Das Gericht spielt sehr elegant mit Herzhaftigkeit und Finesse, alle Zutaten sind differenziert wahrnehmbar und ergeben doch ein harmonisches Ensemble. Ein „Lagerfeueraroma“ ist auch vorhanden, aber eher wie ein Duft aus der Ferne. Sehr feinsinnig umgesetzt. (8,9/10)
Felchen (aus dem Lac d’Annecy) ist ebenfalls Thema des nächsten Gangs, hier exzellent gegart, sodass der Fisch unglaublich präsent wirkt, wie kühles, kristallklares Wasser. Der Fisch ist so zart, dass man ihn, inklusive der hauchdünnen Haut, mühelos mit Löffel und Gabel essen kann. Der Fisch ist mit einigen Aromaten bestreut, u. a. mit Abrieben von Zitrusfrüchten und Bottarga. Leicht betäubender Szechuanpfeffer mit blumigem Aromabouquet verleiht dem Gericht eine exotische ‒ aber nicht „orientalische“ ‒ Note. Herausragend. (9/10)
Der nächste Fisch, Döbel, wurde beim nächsten Gang zu einer Art Wurst verarbeitet. Dazu gibt es eine dichte, dunkle, leicht „sandige“ Sauce. Das schmeckt sehr intensiv, erinnert ein wenig an Blutwurst und vor allem auch an die extremen, aber grandiosen Gerichte aus dem Aponiente. Zu einer Rose aufgerollter Apfel lockert das Ganze etwas auf, während ein abermals intensiv „fischiger“ Cracker aus Flusskrebsen klarstellt, dass man es durchaus ernst meint mit der Intensität. Dessen ungeachtet besticht das Gericht durch hervorragende Qualitäten und makelloses Handwerk. Gewagt und gewonnen. (9/10)
Den Übergang zu den Desserts markiert spannenderweise ein weiterer Kräutersalat. Dieser ist überragend gut, Aromen von Estragon und pikanten Blüten stehen im Vordergrund des ätherischen Geschmackserlebnisses. Kleine, sehr aromatische Tomaten tragen zu etwas fleischiger Substanz bei. (8,9/10)
Das erste Dessert ist ein Sorbet mit Tomme Blanche, einer regionalen Käsesorte, serviert mit einer Hagebuttensauce. Säuerlich frisch, sehr kalt, exzellent. (8/10)
Es geht weiter mit Anis-Duftnessel, eine mit Eisenkraut verwandte Pflanze, aus der man Zubereitungen mit verschiedenen Texturen hergestellt hat, u. a. knusprige „Segel“, ein Eis sowie eine schaumige Creme. Der Geschmack dieser Komponenten lässt sich am ehesten wie eine Melange aus Veilchen, Anis und Fenchel beschreiben. Dazu gibt es auffallend aromatische Himbeeren. Die scharfkantigen Chips bleiben etwas unangenehm am Gaumen haften. Sehr gut, aber nicht mehr. (7/10)
Ein abenteuerlich klingendes Dessert folgt noch: ein Meringue-Törtchen mit einer Creme aus gerösteter Endivienwurzel. Erstaunlicherweise erinnert das Dessert, das zwar auch mit Bitterkeit spielt, aber durch eine vordergründige Süße durchaus seine Stellung als Dessert rechtfertigt, geschmacklich stark an Popcorn. Ich fühle mich in einen Kinosaal katapultiert. Außergewöhnlich gut. (8,9/10)
Madeleines mit Absinth sind warm, buttrig und ätherisch (8,5/10), weitere Petit-fours mit verschiedenen Gartenkräutern passen hervorragend dazu (8/10).
Am nächsten Mittag ergattere ich ‒ trotz der Bewirtungsprobleme im Haus durch die bereits angekündigte große Gesellschaft ‒ noch eine Forelle von traumhafter Qualität und Garung, serviert mit Schnecken, Kräutern, gegrilltem Fenchel und einer milden, wunderbaren Sauce. (8,9/10)
Die Fischgerichte waren hier stets am überzeugendsten, aber auch die typischen Kräuter der Region wurden oft hervorragend gut herausgearbeitet. In Summe war das Niveau der Gerichte etwas unbeständig und selten am Zenit des kulinarisch Machbaren. Gerade bei einem neu vergebenen dritten Stern wundert mich so etwas immer ein bisschen. Das ging mir bei Christophe Bacquié im Var, ebenfalls erst seit kurzem dreifach besternt, ähnlich. Dennoch ist das Le Clos des Sens ein hervorragendes Restaurant mit einer sensiblen, regionalen Küche, die das Terroir der Haute-Savoie genussreich, farbenfroh und kreativ auf die Teller bringt.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Le Clos des Sens (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Laurent Petit |
Ort: | Annecy-le-Vieux, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 18.07.2019 |
Guide Michelin (F/MC 2019): | *** |
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