Uliassi ‒ schwarzes Meer
Drei Michelin-Sternen so unnachgiebig zu folgen wie ich es tue, hat viele Nebenwirkungen. Eine der schönsten davon ist das Reisen an Orte, die man sonst gar nicht auf seiner Agenda hätte. Senigallia ist so ein Ort. Die italienische Küstenstadt an der Adria ist nicht weit entfernt von dem für Vergnügungsurlaub der günstigeren Kategorie noch berüchtigteren Rimini.
Am kilometerlangen Strand von Senigallia bestimmt die Symmetrie Tausender aneinandergereihter Sonnenschirme und Liegen die Ästhetik des Orts. Dutzende bagni ‒ privat geführte Strandabschnitte mit Lounge-Musik, Umkleidekabinen und Imbissgastronomie ‒ wechseln sich alle paar Meter ab. Jeder Urlauber hat hier seinen Favoriten.
Anfang Juni hat die Saison noch nicht begonnen. Vereinzelt sieht man besetzte Liegen, aber insgesamt liegt eine etwas unbehagliche, wartende Atmosphäre über dem Ort.
Geht man den Strandabschnitt nordwärts ab, findet man ganz am Ende ein Drei-Sterne-Restaurant. Das ist so sonderbar wie selten. Ich kenne kein weiteres Restaurant dieser Kategorie, welches sich ‒ ohne dass es in einem größeren Gebäude beherbergt wäre ‒ in unmittelbarer Nähe von Laufpublikum befindet.
Manche Spaziergänger, die am Abend noch nach einem Restaurant suchen, blicken interessiert hinein oder fragen sogar nach einem Platz. Natürlich vergebens, das Restaurant ist ausgebucht.
Es ist sehr angenehm hier. Trotz des kühl wirkenden Steinfußbodens sorgen eine Balkendecke aus Holz und die dominierende Farbe Weiß für maritime Leichtigkeit. Das Blau des Meeres, das sich irgendwann über Orange zu Schwarz färbt, ist Teil des Ambientes. Die Frau des Küchenchefs und weiteres Personal sind alle sehr freundlich. Küchenchef Mauro Uliassi führt dieses Restaurant zusammen mit seiner Frau bereits seit 1990. Ungefähr alle zehn Jahre kam dann ein neuer Michelin-Stern hinzu, die Höchstauszeichnung ziert das Restaurant erst seit diesem Jahr.
Neben einer A-la-carte-Auswahl werden drei Menüs angeboten, die sich nicht im Preis unterscheiden (je € 180), sondern im Thema. Eines der Menüs dreht sich um die Klassiker des Hauses, ein weiteres um Wild und ein drittes um aktuellere Kreationen. Abgesehen von dem Wild-Menü, stehen Pasta und Meeresfrüchte im Mittelpunkt. Meine Wahl fällt schließlich auf das kreativere Menü, „Uliassi Lab 2019“.
Das Essen beginnt mit einigen Snacks und einem Kir Royal. Ich finde Konzepte, in denen man etwas kreativer mit der Aperitif-Thematik umgeht, immer angenehm unkompliziert. Ich brauche keinen Champagner-Wagen. Der erste Snack ist eine Waffel mit zwei Schichten getrüffelter Foie Gras. Der Neapolitaner-Waffeln nachempfundene Snack ist gekühlt und dadurch zunächst etwas fester ‒ ähnlich wie die bekannte Gebäckspezialität ‒, bis der betörende Schmelz der Foie Gras am Gaumen dann in den Vordergrund rückt (8/10). Eine mit Mandelsplittern umhüllte und mit Rindertatar gefüllte Olive schmeckt fein und leicht bitter, mit angenehmen Zitrusnoten (8/10). Ein Toast mit Sardellenpaste und gehobeltem schwarzem Trüffel schließt diese Snacks sehr gut ab, obwohl man Sardellen und Trüffeln nicht so intensiv schmeckt wie erhofft (7/10).
Inzwischen habe ich auch einen Wein aus der angenehm francophilen Karte gefunden, einen Chablis 1er Cru „Forêt“ von der Domaine Raveneau (€ 150).
Weitere herzhafte Snacks folgen. Ein Cracker mit Kichererbsencreme und Sesam schmeckt überraschend frisch ‒ sehr gut und sehr fein ‒ (7,5/10), luftig leichte Algen-Chips machen ebenfalls Spaß (6,9/10). Das war alles noch nicht aus dem obersten Regal des Machbaren, aber ich finde das bei Aperitif-Snacks nicht weiter tragisch. Zu etwas Prickelndem im Glas passt das alles hervorragend.
Der erste Gang setzt dann aber bereits optisch ein Ausrufezeichen. Dünne Scheiben von rohem Fangschreckenkrebs sind kreisrund angerichtet und in einer Sauce mit rosa Pfeffer und Passionsfrucht mariniert. Das seltene Krustentier ist phänomenal. Die weiche, aber dennoch bissfeste Textur ist eher mit dem Sashimi einiger Fischsorten vergleichbar als mit Krustentieren, die oft etwas „schleimig“ sind. Der Geschmack des Krebstiers ist leicht süßlich, das Meer kommt klar zur Geltung, und der blumige, ätherische Geschmack vom rosa Pfeffer wird großartig von der Fruchtigkeit der Passionsfrucht getragen. Ein fesselnder Auftakt voller Frische und Kraft. (9/10)
Eine Auster, zu der man pikantes Salami-Fett angegossen hat, ist die zweite Kreation. Die Intensität der Auster ist durch das Fett etwas abgemildert, was ihren Geschmack nach Gischt und Jod dennoch nicht camoufliert. Das fleischig-pikante Aroma der Salami macht aus der in zwei Häppchen portionierten Auster einen Snack auf höchstem Niveau. (8,9/10)
„Das ist Kunst“ höre ich viel zu oft, wenn Gäste komplexe Tellerarrangements vor sich haben, wenn es sich in Wahrheit meist nur um präzises Handwerk handelt. Der folgende Teller weist aber tatsächlich eine frappierende Nähe zu den Werken von Miró auf. Es macht ihn dadurch zwar auch noch nicht zu einem Kunstwerk, aber wunderschön und geheimnisvoll sieht das trotzdem aus. Die tiefschwarze Sauce auf dem Grund des Tellers stammt von der Tinte von Tintenfischen. Weiter findet man Stücke von Tintenfisch, Muscheln ‒ und Salatherzen. Das kühl servierte Arrangement schmeckt intensiv. Nach Salz, Jod und Schlamm. Nach Dunkelheit und Tiefsee, und manchmal nach einem Lichtstrahl, der sich seinen Weg nach unten bahnt. Ein grandioses kulinarisches Werk. (10/10)
Vom Steinbutt wird für das folgende Gericht kein Filet verwendet, sondern ein knorpelartiger Teil des Kopfes, der hier als corona (Krone) bezeichnet wird. Das normalerweise eher für einen Fond verwendete Stück wurde scharf gegrillt, wodurch das Kollagen aufweicht und ein zwar bissfestes, aber dennoch erstaunlich zartes Stück ergibt. Bedeckt ist der Fisch mit einer Schicht aus Kapern, Sardellen und Olivensamen. Zu diesen kräftigen Aromen bietet eine kühlende Creme mit Tsatsiki und Orange einen schlüssigen, wohlschmeckenden Kontrast. Trotz viel Kraft und der krossen Röstung wirkt das Gericht filigran und ausbalanciert. Große Klasse, wunderbar reduziert. (9/10)
Kutteln von Seeteufel und Kabeljau, Herz vom Steinbutt, Leber vom Tintenfisch, kurzum Fischinnereien, zieren den folgenden Gang. Ich bewundere schon jetzt die unbefangene Art, wie Küchenchef Uliassi hier Produkte verarbeitet. Von Tieren auch unübliche Teile zu verwenden, ist nicht nur im Einklang mit dem Zeitgeist, sondern ergibt gerade beim Thema Meer einen ausgesprochen interessanten Zusammenhang. Schließlich ist das meiste aus dem Meer für uns immer noch ein Geheimnis. Unbekannt, geheimnisvoll und unbehaglich ‒ genauso wie für manche vielleicht diese Zutaten. Doch es gibt keinen Grund, nicht in diesen Teller einzutauchen. Ist man erst mal drin, fühlt sich alles gut an. Sehr gut sogar, denn die Zutaten ergeben ein überraschend frisches, ätherisches, leicht pikantes Potpourri an Aromen und Texturen. Ich schmecke Salz und Meer, aber auch ganz viel Frische und Erleichterung, Ausatmen, Wind, Gänsehaut. Wie beim Moment des Auftauchens. Ein magisches Gericht. (10/10)
Die blaue Stunde ist voll im Gange. Der Speisesaal leuchtet in Gold, Weiß und Blau.
Das nächste Gericht thematisiert Seeigel. Viel davon. Eine Sauce des Tiers sowie dessen „Zungen“ bieten eine intensive, jodige Kulisse für die weiteren Zutaten. Knusprige Brotstückchen, ein grünes Gemüse und, vor allem, eine schaumige Mandelcreme aktivieren vor allem die bitteren Geschmacksrezeptoren. Die Intensität des Gerichts ist erneut nichts für schwache Essensnerven. Die fast schon medizinische Kombination aus Seeigel und Mandel, die von den Brotstückchen aufgesaugt und am Gaumen über ein kurzweiliges Kauvergnügen weiter verstärkt wird, ist jedoch frappierend gut. Das hier ist kein Strandspaziergang, das ist ein Tauchgang in dunkle Abgründe. (9/10)
Es geht etwas unverfänglicher weiter. Gegrillte Morcheln (mit etwas wenig Eigengeschmack) auf Pfirsichwürfeln, serviert mit einer Weißwein-Zitronen-Sauce, schmecken hervorragend ‒ fruchtig, salzig und herzhaft in feiner Balance. Dennoch lädt das Gericht eher zum kurzen Verschnaufen ein. (7,9/10)
Es folgt ein Pasta-Gericht mit Fusilli, „Oktopus-Speck“ und Rosmarin. Die Pasta ist sehr al dente gekocht, was ihr eine Textur wie ein Karamellbonbon verleiht; dünne Scheiben Oktopus, die langsam über den Nudeln schmelzen, fügen eine cremige Ebene hinzu ‒ sowie intensiven Rosmaringeschmack. Ein leicht pikanter Sud auf der Basis von aglio e olio und Peperoncino, sowie über das Gericht gehobelte Bottarga rahmen den Pastagenuss wohlschmeckend ein. Vielschichtig, überraschend, absolut hervorragend. (8,5/10)
Ein weiterer Teller mit Pasta folgt. Gobetti, eine schneckenförmige Nudelsorte, ist hier mit kleinen Schnecken, Schneckeneiern und einer intensiven Petersilie-Chicorée-Sauce kombiniert. Die Assoziation von schneckenförmiger Pasta zu tatsächlichen Schnecken ist nicht nur amüsant, sondern auch geschmacklich vortrefflich. Die Texturen von bissfester Pasta und etwas weicheren Schnecken wechseln sich am Gaumen auf kurzweilige Art ab, während erdig-waldige Aromen und etwas Bitterkeit für anspruchsvollen Wohlgeschmack sorgen. Eines der besten Pastagerichte, die ich gegessen habe. (9/10)
„Fisch oder Wild“ war die im Menü ansonsten nicht näher bezeichnete Wahl des Hauptgangs. Als nicht allzu großer Freund von Wild ‒ und natürlich wegen der Nähe zum Meer ‒ fiel meine Wahl auf Fisch. Es gibt entsprechend Steinbutt, serviert als quaderförmige Tranche mit kross gebratener Haut, gegrillten Tintenfischen und einer Sauce mit deren Tinte. Dem Teller entströmt ein intensiver Duft nach Grill und Zwiebeln, zum Augenschließen gut. Am Gaumen hält das Gericht die olfaktorischen Versprechungen nicht ganz. Zwar ist der Steinbutt saftig und perfekt gegart, und auch die Tintenfische sind makellos, doch dem Gericht fehlt es an der Intensität, mit der das Essen bisher so fesseln konnte. Sehr gut, aber nicht großartig. (7/10)
Das Pré-Dessert ist ein Granité mit säuerlichen Früchten. Herbe Orange, vielleicht auch noch Apfel oder Pflaume … Ich kann es nicht genau ausmachen. Aber immer wieder kommt diese wundervolle Orange zum Vorschein. Das schmeckt wie ein Wassereis im Sommer: unbeschwert, leicht, kühl, süß und fruchtig. Überraschend grandios. (9/10)
Ein Kuchen, der an eine Kreuzung aus Schwarzwälder Kirschtorte, Mille-feuille und Tiramisu erinnert, ist eines dieser himmlisch guten italienischen Desserts. Nicht besonders komplex angerichtet, handwerklich dennoch makellos ‒ und geschmacklich ein Traum. (9/10)
Eine Batterie an hervorragenden Pralinen (9/10) hält auch nicht allzu lange, dazu serviert man einen jahrzehntealten Fernet Branca. Erstaunlich gut!
Das Uliassi ist ein wunderbares Restaurant. Die Lage am Meer, das herzliche Personal und das traumhafte Essen machen das Lokal zu einem absoluten Wohlfühlort. Die Speisen sind ganz weit weg von Effekthascherei, Anrichtwahnsinn und Mittelmaß ‒ und dafür umso näher an geschmacklicher und qualitativer Perfektion. Ich verlasse das Restaurant glücklich und satt und blicke hinaus aufs Meer. Das hat sich inzwischen schwarz gefärbt, wie der Himmel und der Strand und das schwarze Gericht von vor einigen Stunden. Aufwühlend, alles.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Uliassi (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Mauro Uliassi |
Ort: | Senigallia, Italien |
Datum dieses Besuchs: | 01.06.2019 |
Guide Michelin (IT 2019): | *** |
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