Jean Sulpice ‒ zwischen Gipfeln
Die Gebirgsküche der Savoyer Alpen hat einen ganz eigenen Charakter. Geprägt durch aromatische Kräuter, exzellente Speisefische und Krustentiere aus den Gebirgsseen und Flüssen sowie viele weitere Spezialitäten, ist die Küche dieser Region sehr eigenständig und wiedererkennbar.
Seit jeher findet man hier ‒ und weiter landeinwärts bis in die Auvergne hinein ‒ einige der besten Restaurants Frankreichs. Wer erinnert sich nicht an den Schlapphut tragenden, Kräuter sammelnden Marc Veyrat, der in der Haute-Savoie gleich zwei Restaurants mit jeweils drei Michelin-Sternen und zwanzig Gault-Millau-Punkten führte? Ich habe seine Restaurants damals leider nie besucht, werde das aber mit seinem neuen Restaurant, das inzwischen ebenfalls dreifach besternt ist, nachholen.
Eines der weiteren berühmten Häuser dieser kulinarisch reichen Region ist die Auberge du Père Bise in Talloires. Das Haus wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der Gastronomen-Familie Bise eröffnet; in den 1950er Jahren erhielt Tochter Marguerite für ihre Küche ‒ als bis dato erst dritte Frau ‒ drei Michelin-Sterne. In den 70ern führte Marguerites Sohn François die Küche weiter und hielt diese höchste Auszeichnung noch ein gutes Jahrzehnt.
Danach dünnt die recherchierbare Historie etwas aus. Zuletzt war Sophie Bise, Enkelin von Marguerite, Eigentümerin und Küchenchefin; Ende 2016 begann schließlich ein neues Zeitalter in dem traditionsreichen Haus. Küchenchef Jean Sulpice, ehemals Veyrat-Schüler und Inhaber eines in 2 300 Metern Höhe geführten Zwei-Sterne-Restaurants in Val Thorens, übernahm das Haus zusammen mit seiner Frau Magali. Als „Lebensprojekt“ bezeichnen sie das.
Das Lebensprojekt ist an einem traumhaften Ort gelegen. Zum Empfang gibt es keinen langweiligen Check-in an der Rezeption, sondern ein Glas Champagner auf der angenehm luftigen Terrasse mit atemberaubender Kulisse. Umzingelt von hohen Bergen, funkelt vor einem der Lac d’Annecy. Ein markantes Terroir, bei dem die süßen Früchte nicht an jedem Baum hängen.
Im Restaurant herrscht nahezu ununterbrochener Hochbetrieb. Zwischen dem Mittagessen auf der Terrasse, für das Gäste schon am Vormittag an- und erst am späten Nachmittag wieder abreisen, bis zum Beginn des Abendessens bleiben dem Serviceteam nur wenige Stunden Pause, um alles so aussehen zu lassen als wäre nichts passiert. Küchenchef Jean Sulpice ist immer zugegen, man sieht ihn von früh morgens bis spät in die Nacht.
Endlich Abend ‒ ich bin ein Freund der Dämmerung ‒, nehme ich im Restaurant Platz. Es ist gegen 20 Uhr noch leer, innerhalb der nächsten 45 Minuten jedoch bis auf den letzten Platz besetzt. Das stilsicher eingerichtete Interieur bietet geschmackvolle Farbakzente, die sich in edlem Bernardaud-Geschirr wiederfinden, runde Tische mit weißem Tischtuch und einen postkartenreifen Ausblick auf die Terrasse, den See, die Berge und einen unwirklichen Sonnenuntergang.
Die Entscheidung zwischen den Speisen à la carte (ca. € 50‒80) und einem Menü fällt mir in diesem Fall nicht allzu schwer, da das Menü „Horizon“ (€ 210) nahezu alle Speisen beinhaltet, die mich ohnehin besonders ansprechen.
Es gibt erste Snacks. Ein Röllchen aus Lauch mit einer Hülle aus Passionsfrucht hat einen gehaltvollen, sehr feinen Geschmack (8,5/10); eine Kreation mit karamellisierter Foie Gras, Granny Smith und Felchen ‒ einer der bekannten regionalen Fische ‒ ist ebenso hervorragend, mit jeweils sehr differenziert wahrnehmbaren Zutaten (8,5/10).
Ein Buchweizencracker mit Kräutern duftet so intensiv als würde man seine Nase in ein Kräuterbeet stecken und schmeckt wunderbar frisch (8,5/10); ein Stück Radieschen mit Kaffee und Sesam ist ebenfalls eine ganz glorreiche Idee (8/10). Die letzte Kleinigkeit ist ein zartes, kühles Roastbeef-Röllchen vom Montbéliard-Rind mit Kräutern, das hervorragende Produktqualität zur Schau stellt (8/10). In Summe ein sehr feinsinniger Auftakt.
Als Amuse-Bouche gibt es eine in einer Eierschale servierte Kreation. Diese Präsentationsform steht so gut wie immer für warme, süffige Speisen mit hohem Genussfaktor. So auch hier. Eine mit Ei aufgeschlagene, schaumige Sauce mit viel gutem Safran ist an sich schon großartig, kleine aromatische Flusskrebse darin verfeinern diese perfekte, klassische Speise. (9/10)
Die Farbe Grün beschreibt dann maßgeblich die Farbgebung des ersten Menügangs. Es gibt mit Kräutern zubereitete Polenta-Gnocchi, diverse Kräuter, noch mehr Kräuter und Forellenkaviar. Auch diesem Gericht entströmt ein einnehmendes Aromabouquet, fast wie ein Kräuterbad. Am Gaumen entpuppt sich die farbliche Monotonie als ein höchst abwechslungsreiches Vergnügen. Pikant, frisch, pfeffrig, salzig, ätherisch und leicht, manchmal ein wenig an Radieschen erinnernd, aber dennoch mit Substanz durch die Grießklößchen, ergeben ein lebendiges und geschmacklich farbenfrohes Gericht. (8,9/10)
Es folgt Seesaibling (omble chevalier), ein weiterer für diese Region charakteristischer Fisch. Zwei kleine, auf Holzzweigen angerichtete, nur ganz leicht gedämpfte Filetstücke, werden von einem heißen Stein, der sich direkt darunter befindet, behutsam nachgegart, während eine mit Kiefer aromatisierte Butter langsam über dem Fisch schmilzt. Die Produktqualität des Saiblings ist beispielhaft, doch in Summe ist das Geschmacksbild eher neutral, auch der innen noch kalte Fisch irritiert zunächst ein wenig. Sehr gut, vor allem qualitativ, aber nicht mehr. (7/10)
Die grün-weiß-gelbe Farbpalette des Menüs wird auch beim nächsten Gang eingehalten. Hecht findet man sowohl in Form eines kloßähnlichen Röllchens (wie quenelle de brochet) als auch leicht pochiert auf dem Teller. Dazu gibt es eine aromatisch komplexe Bärlauchsauce, die geschmacklich auch etwas an Erbsen und Minze erinnert. Eine Morchel aus dem Ort und eine schaumig-cremige Sauce sorgen für klassische Vollmundigkeit, Bärlauchblüten kontrastieren das Ganze mit punktueller Schärfe und ätherischen Aromen. Leicht, vielfältig, hervorragend. (8/10)
Es geht weiter mit Flusskrebsen, verschiedenen gedünsteten Gemüsen und frisch gezupfter Zitronenmelisse. Dazu gibt es eine Sauce auf der Basis von klassischem Krustentierjus und Kräuteröl. Trotz der qualitativ makellosen, an Kaisergranat erinnernden Krebse, sorgt vor allem die viele Melisse für einen etwas „dumpfen“ und monotonen Eindruck am Gaumen. Qualitativ überzeugend, geschmacklich etwas weniger. (7/10)
Beim Hauptgang fiel meine Wahl auf Kalbsbries (die andere Option des Menüs wäre ein Gericht mit Lamm gewesen). Das Bries ist hervorragend gebraten, außen knusprig, innen zart und ‒ das ist wichtig ‒ schön heiß. Dazu gibt es Karotten, tourniert und glasiert sowie als Püree, und einen mit regionalem, roten Bier akzentuierten Kalbsjus, der eine leichte Säure beisteuert aber von etwas mehr Bindung profitieren würde. Dennoch schmeckt das alles exzellent und präsentiert eine makellose Hauptzutat in optimalem Licht. (8/10)
Dazu passt auch der 2009er Vosne-Romanée von der Domaine Méo-Camuzet (€ 190) von der recht kompakten und sehr üppig kalkulierten Weinkarte.
Eine Auswahl vom Käsewagen sollte man sich hier keinesfalls entgehen lassen, schließlich stammen alle Sorten aus der Region. Tomme de Savoie, Comté, Saint-Nectaire und weitere sind alle sehr gut.
Als erstes Dessert gibt es einen choux pâtissier, also eine Art Windbeutel, gefüllt mit einer mit Echtem Mädesüß aromatisierten Sahnecreme. Etwas massig, aber handwerklich einwandfrei. (7/10)
Auch ein Schokoladendessert in Form von kleinen, mit Cremes gefüllten Schiffchen ‒ Blaubeere ist auch im Spiel ‒, verzichtet abschließend nicht noch einmal auf die Gelegenheit, ein bestimmtes Kraut vorzustellen, hier Beifuß. Das sorgt für ein ätherisches Aroma und passt gut zur Schokolade. Interessant, aber kein Meisterwerk. (7/10)
Zum Abschluss ‒ ich sitze mittlerweile im Bereich der Bar ‒ folgt noch eine Schokoladensphäre, die mit der regionalen Kräuterspirituose Chartreuse flambiert wird und ein Brombeersorbet zum Vorschein bringt. Das schmeckt ähnlich wie das Dessert davor, sehr gut, aber nicht mehr. (7/10)
Damit endet ein Menü, welches unverkennbar das Terroir der Haute-Savoie reflektiert, kulinarisch aber nicht ganz so viele Gipfel erstürmt hat. Dessen ungeachtet ist die Auberge du Père Bise ein traumhafter Ort, der zweifellos eine Antwort auf die Frage ist, wohin man die nächste Wochenend-Eskapade planen könnte. Ich habe jede der 48 Stunden vor Ort genossen, auch diese drei.
Informationen zu diesem Besuch | |
---|---|
Restaurant: | Jean Sulpice (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Jean Sulpice |
Ort: | Talloires, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 28.04.2018 |
Guide Michelin (F 2018): | ** |
Meine Bewertung dieses Essens | |
Diskussion bei Facebook: | hier klicken |