Ernst ‒ Teller 30‒63
Heute Abend bin ich zum zweiten Mal im Ernst, einem von an einer Hand abzählbaren Restaurants in Deutschland, die derzeit auch bei internationalen Essbegeisterten reges Interesse wecken. Das mag vor allem daran liegen, dass der kanadische Küchenchef, Mitinhaber und Mittzwanziger Dylan Watson-Brawn sehr viele Dinge anders macht als es das deutsche Gourmet-Publikum gewohnt ist.
Das beginnt beim Vorverkauf für die Plätze am Tresen, äußerst sich weiter in einem Kahlschlag von allem, was für grundlegenden Genuss entbehrlich ist und mündet in einem ‒ nicht „brutalen“, sondern konsequenten ‒ Fokus auf Qualität, Produkte, deren Zubereitung und Herkunft.
Während mir bei meinem ersten Besuch letzten Herbst zwar bereits die minimalistische Produktküche sehr gefiel, mir aber ein etwas ermüdendes Belehrungsprogramm beim Beschreiben der Gerichte ähnlich sauer aufstieß wie feinster „Naturwein“, ist das Erlebnis heute ein anderes. Man ist souveräner, das merke ich schon in den ersten Minuten. Und Souveränität ist ein weiteres Attribut, welches dieses Restaurant für Kosmopoliten interessanter macht als für Erbsenzähler.
Letztere könnte es bei einem Menüpreis von derzeit € 155 auch leicht die Sprache verschlagen. Da bekommt man woanders ja „Sterne-Menüs“, luxuriöses Ambiente und vom Service jeden Wunsch erfüllt ‒ anstatt einen Tresenplatz in kargem Ambiente mit Überraschungsmenü. Wer bei letzteren Dingen befremdet die Augenbrauen zusammenkneift, geht lieber nicht hierhin. Das Ernst ist ein Ort für Gäste, die, wie der junge Koch und sein Team, Qualitätszutaten an erste Stelle setzen, Genuss in Simplizität finden und Ästhetik in Schlichtheit suchen. Aber, Achtung, die Sterne kommen sicher noch. Und die Gerichte, die hier serviert werden, zählen für mich zu den schönsten weit und breit.
Das Menü an diesem Abend umfasst vierunddreißig dieser „Gänge“. Letztes Mal waren es neunundzwanzig, also beginnt der Abend mit meinem dreißigsten Gericht aus diesem Haus ‒ und das erst bei meinem zweiten Besuch.
Den Auftakt macht ein Teller mit puddingartigem Frischkäse in einem Erbsendashi, das deutlich aromatischer ist als ein ähnlich konzipierter Auftakt bei meinem ersten Besuch (7/10).
Danach gibt es Knabberspaß in Form von sechs gnadenlos frischen, saftigen Stücken Radieschen mit salziger Umepaste (7/10).
Es geht weiter mit einer hauchdünnen, knusprigen Tartelette aus Kartoffelteig mit hervorragenden Erbsen, Olivenöl und Deichkäse. Das Niveau ist schon jetzt sehr hoch. (7,5/10)
Gericht Nummer vier ist eine angenehm knusprige, von der Textur an gröbere Kartoffelchips erinnernde Schale von Topinambur. Diese ist mit einer Emulsion von Shiitakepilzen gefüllt und schmeckt leicht süßlich, etwas herzhaft, sehr fein. (7/10)
Postelein (Gewöhnliches Tellerkraut) ist begleitet von einem Apfelessig- Gelee und führt das Menü mit einer belebenden, wohlschmeckenden Frühlingsfrische fort, die man in diesen wenigen Kräutern gar nicht vermuten würde. Mehr Minimalismus auf diesem Niveau geht kaum. (7/10)
Als willkommener Kontrast sorgt dann Brioche, gebacken mit Mehl vom Chiemsee, geröstet in Nussbutter (dabei dennoch eine Nuance zu trocken) und serviert mit Ziegenkäse und Kräutern (Giersch, Tausendblatt und Wiesen-Kerbel), von denen man gerne noch mehr schmecken dürfte. Gut, aber in der Ausführung perfektionierbar. (6,9/10)
Eine von letztem Jahr „vergessene“ Frühlingszwiebel wurde für die nächste Kreation behutsam gegrillt und mit kleinen Tupfern Misopaste versehen. Diese verleiht dem zarten, saftigen Gemüse mit sehr wohlschmeckenden Röstaromen einen intensiven Umami-Akzent. (7,5/10)
Chawanmushi, hier nach einem Rezept aus Kyoto zubereitet, ist, wie bereits bei meinem letzten Besuch, auf Weltklasseniveau. Die herzhafte, warme Eierspeise ist dieses Mal kombiniert mit einer säuerlich-umami schmeckenden Ponzusauce mit belebenden Scheiben von Wasabistielen. Auf diesem Niveau ist ein solches Gericht in der westlichen Welt kaum anzutreffen. (9/10)
Einige sehr frische Blätter Spinat und eine Paste aus gerösteten Sonnenblumenkernen ergeben danach einen minimalistischen, würzig-frischen Fingersnack (7/10).
Hauchdünne, in Zitrone eingelegte Artischockenblätter in einem rauchigen Ponzu-Dashi kombinieren die geschmacklichen Welten Japans und des Mittelmeers auf beeindruckende Weise (8/10).
Die Artischockenherzen gibt es dann auch. Sie wurden ganz kurz gegrillt und mit einer Emulsion von Artischockenöl und Zitronenzesten betupft. Das Mittelmeer ist jetzt noch näher, ich bin gedanklich längst nicht mehr in Berlin-Wedding, sondern an der Côte d’Azur. (7,5/10)
Lauch, längs aufgeschnitten und gegrillt, ist mild-würzig und hat eine fast cremige Textur. Das schmeckt ähnlich wie die Frühlingszwiebel, ist aber hier noch puristischer. (6,9/10)
Ein Teller mit Charcuterie (ohne Foto, hier ein Foto vom Restaurant) bietet drei unterschiedliche Sorten Aufschnitt vom Mangalica-Schwein aus Österreich. Schinken von der Hüfte, Bauchspeck und Lomo, jeweils dünn aufgeschnitten und mit betörendem Schmelz am Gaumen. Absolute Ausnahmequalität. (7,5/10)
Speise Nummer vierzehn ist ein knackig frisches Ensemble von sizilianischen Cipollo-Zwiebeln mit Haselnussöl und einer Büffelmilch, die sich mit ihrem Fettgehalt als perfekter Geschmacksträger für den süßlich-herzhaften Geschmack der Zwiebeln entpuppt. Hervorragend. (8/10)
Chicorée in einem leichten Sud mit Nussbutter, Mayonnaise und Walnussöl ist sehr feinsinnig und mit weiterhin exzellenten Produkten umgesetzt, aber geschmacklich etwas unaufregend. (6,9/10)
Sehr beeindruckend ist dann wieder eine puristische Produktpräsentation. Es gibt Sashimi von einer Havel-Forelle, vier Tage gereift, mit etwas Sojasauce. „That’s it“, kommentiert Watson-Brawn mit seinem verschmitzten Nuschel-Englisch, sehr wohl um die überragende Qualität seines Produkts wissend. Die hauchdünnen Tranchen ‒ die Schnitttechnik ist gekonnt ‒ stellen einen Fisch zur Schau, dessen ganz außergewöhnlicher Geschmack eher an Wald und Wiesenkräuter erinnert als an etwas Maritimes. Außergewöhnlich gut. (8/10)
Beim nächsten Gericht elangen folgende Zubereitungen ins Spiel: ein wachsweiches, sechs Stunden bei 62 Grad gegartes Ei; eine milchige Flüssigkeit, die das Ergebnis einer Fermentation von Gerstengraupen mithilfe des Koji-Schimmelpilzes in Kombination mit Essig ist; und in Beurre monté pochierter Bärlauch. Das lauwarme Gericht ist leicht salzig, cremig und von beeindruckender Geschmackstiefe und Balance. (7,5/10)
Mit einem Tempura vom Hering demonstriert der Küchenchef abermals die handwerklichen Fähigkeiten, die er in Japan erlernt hat. Der in „Dinkelmehl aus der Nähe von München“ ausgebackene Fisch ist von einer hauchdünnen, krossen Hülle ummantelt, in der er heiß und saftig bleibt. Der Fisch wird lediglich mit einem Stück Zitrone serviert. Das ist meisterhaft umgesetzt und sehr wohlschmeckend. Von Japan einmal abgesehen serviert ein ähnliches Gericht (mit noch besserem Fisch und spannenderer Zitrusfrucht) auch gerade César Ramirez in seinem Chef’s Table at Brooklyn Fare. Wer kann, der kann eben. (8/10)
„Verkohlte“ Aubergine mit Wasabiblüten, angerichtet in einem wohlschmeckenden Niban Dashi, weist ausgeprägte, räucherige Grillaromen auf, bei denen die pikanten Wasabiblüten wie ein erfrischender Sommerregen wirken (7/10).
Danach gefällt der frische Geschmack von gebackenem Ricotta in einem Öl von gerösteten Zitronen (7/10).
Was die Weinauswahl betrifft, bin ich dieses Mal auch besser fündig geworden. Sommelier Christoph Geyler hat mich sicher durch das Minenfeld der von „Naturwein“ geprägten Karte manövriert. Der 2013er Chablis 1er Cru „Forêt“ von der Domaine François Raveneau (€ 183) bereitet genauso großen Trinkspaß wie der 2011er Blaufränkisch „Reihburg“ vom Weingut Uwe Schiefer (€ 82) aus dem Südburgenland in Österreich, der sich fast so elegant präsentiert wie ein Burgunder. Beide Weine sind fair bepreist, nah an ihrem aktuellen Marktwert.
Gewürfelte Kartoffeln der Sorte Linda wurden für Kreation Nummer einundzwanzig grenzwertig kurz gegart und befinden sich in einer üppigen, schaumigen Sauce von geräucherter Butter und Haselnussmilch. Die Butter und dünn gehobelter Périgord-Trüffel bewegen das Geschmacksbild in eine klassische Richtung. Der Gargrad der Kartoffeln und die Menge an Trüffeln wären vermutlich noch Stellschrauben für Optimierungspotenzial. (6,9/10)
Grünkohl, roh, mit 40-prozentiger Sahne und Grünkohl-Öl serviert schmeckt leicht süßlich und erinnert geschmacklich an Anis. Das ist ein ganz faszinierendes Geschmacksbild. (7,5/10)
Das folgende Gericht besteht aus einem Stück Forelle, das in Wasabiblättern gegart wurde. Die Blätter sind dabei so fragil wie der Fisch selbst und lassen sich mühelos zertrennen. Der zarte, dennoch heiße Fisch ist von herausragender Referenzqualität. Ein mit geräuchertem Fisch hergestellter Dashi fügt geschmackliche Tiefe in Form von Umami hinzu. Dieses Gericht ist komplett in Balance, verwendet außergewöhnliche Zutaten und lässt mich genussvoll die Augen schließen. Ich sehe kristallklare Bäche unter sommerlichem Schattenwurf von Bäumen; vermisse die Straßen von Kyoto und bin etwas aufgewühlt. Grandios und bewegend. (10/10)
Dicke Bohnen und Erbsen in einer Velouté ihrer Schalen ist ebenfalls hervorragend und bietet wohldosiertes Salz und ätherische Frische. (7,9/10)
Sechs Wochen trockengereifter Schweinebauch, erneut vom Mangalica-Schwein, wurde in einem aufwändigen Prozess, der unter anderem das Einreiben des Fleischs mit Bier vorsieht, zu einem Qualitätserlebnis allererster Güte verarbeitet. Das Fleisch ist äußerst zart und saftig, sehr aromatisch, dabei fast luftig leicht. Das Fett schmilzt im Mund wie Zuckerwatte. Eine knusprige, aber kaum kaubedürftige Kruste steigert dabei den Spaß am Gaumen. In Koji-Essig eingelegter Liebstöckel sowie selbiger Essig bringen dann noch ganz leichte, aber sehr genussfördernde Säureakzente mit und verwandeln diese kleine Speise in ein vollwertiges, ausgeklügeltes Gericht auf Weltklasseniveau. (9/10)
Geräucherte Blutorangen aus Sizilien mit Wacholder stellen ein weiteres phänomenales Produkt zur Schau. Ich kann mich nicht daran erinnern, in Deutschland so bewusst eine Zitrusfrucht dieser Güte probiert zu haben. Diese hier ist süß und leicht säuerlich, der Wacholder bringt eine geheimnisvolle Note mit. Großartig. (8,9/10)
Die siebenundzwanzigste Kreation ist eine Tranche vom Lammfilet, gewürzt mit Wildkräutersalz, einigen Trüffelscheiben und einem „Dressing“ mit Lammfett. Letzteres gleicht überwiegend aus, was dem Filet naturgemäß fehlt und lässt das herausragende Produkt in glänzendem Licht erstrahlen. Als Filetstück hat das Referenzqualität. (7,5/10)
Ein Wildkräutersalat mit einem verdünnten Kombu-Dashi schmeckt als hätte man seine Hand einmal durch einen überfrischen Kräutergarten gestreift und würde dann daran schnuppern. Begeisternde Simplizität. (8/10)
Eine Infusion aus Zitrusschalen und Thymian sowie, danach, ein Granité von gerösteter Zitrone mit sehr ausgewogener Säure und einer ansprechenden Textur durch flache und breite Eiskristalle (7/10) beruhigen die Geschmacksnerven, bevor das Menü mit einigen Desserts ausklingt.
Büffelmilch mit Navelorangen und in Nussbutter gerösteten Briochekrumen spielen genauso gekonnt mit einem Übergang zwischen Salzigkeit und Süße (7,5/10) wie das dann folgende, cremige Eis aus Erbsenschalen mit Wasserminze und Olivenöl. Das klingt forciert, schmeckt aber überraschend klassisch, weil keine Säure im Spiel ist (8/10). Beides exzellente, kreative, aber nicht verkopfte Desserts.
Noch besser ist in Schnaps eingelegte Himbeere als Frucht und Marmelade, serviert mit einer nur leicht aufgeschlagenen Sahne mit Kirschblütensalz. Das klassische Geschmacksbild „Beeren mit Sahne“ wird hier geschmacklich und qualitativ auf höchstes Niveau gehievt. Das Dessert schmeckt wie eine süße, fruchtige Wolke. (8,9/10)
Als letzten Gang gibt es Blutorange, die gleiche sizilianische Sorte wie bereits acht Gerichte zuvor, hier in Form eines perfektionierten Sorbets. Es schmeckt intensiv nach der aromatischen, süßen Frucht, ein Hauch Salzigkeit sorgt für einen geschickten Akzent (8/10). Das exzellente Niveau halten auch Pralinen mit Kaki und Karamell (8/10), die man eigentlich auch als fünfunddreißigsten Gang betrachten könnte.
Doch von „Gängen“ spricht hier eigentlich niemand. Dylan Watson-Brawn und sein passioniertes Team schaffen für ihre Gäste in erster Linie eine Möglichkeit, die Güte und den damit verbundenen Wohlgeschmack von einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Zutaten kennen zu lernen. Die kleinen Portionen sind dafür ideal geeignet. Und so puristisch die Teller auch sind, darf man sich nicht täuschen lassen: ganz unverarbeitet kommt hier fast nichts auf den Teller. Fermentieren, Räuchern, Braten, Dämpfen, Marinieren, Grillen, Backen … Den meisten Ingredienzen widerfährt eine aufwändige Vorarbeit, ganz abgesehen von der gewissenhaften Beschaffung der Zutaten bei sehr ausgewählten Erzeugern. Das Ergebnis auf dem Teller, das oft nicht mehr als aus zwei Komponenten besteht, rechtfertigt durchaus eine Betrachtung als jeweils eigenständiges, vollwertiges Gericht. Spätestens wenn Watson-Brawns Speisen auch nur einen Hauch komplexer werden, wird das nicht selten großartig.
Deutschland hat eine derart aufs Produkt fokussierte Spitzenküche ‒ denn nichts anderes ist das hier ‒ bitter nötig. Mit einem sehr souverän und fokussiert arbeitenden Team war auch das gastronomische Erlebnis heute Abend erfrischend angenehm. Letztes Mal wünschte ich mir etwas „weniger Berlin“ im Restaurant; heute Abend wehte ein kosmopolitischer Wind durch den Laden, dass ich glatt vergessen habe, nicht mit dem Flugzeug angereist zu sein.
Spätestens auf der Straße wird man dann aus dieser Illusion gerissen. Das Taxi benötigt gute zwanzig Minuten für die Anfahrt, und von bargeldloser Zahlung hat der Fahrer auch noch nichts gehört. Willkommen in Berlin des 21. Jahrhunderts.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Ernst (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Dylan Watson-Brawn |
Ort: | Berlin, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 21.04.2018 |
Guide Michelin (D 2018): | noch nicht bewertet |
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