Noma ‒ die Zukunft ist ausverkauft
Eines der einflussreichsten Restaurants unserer Zeit schloss im Jahr 2016 seine Türen, um vor ein paar Wochen an einem neuen Ort, aber unter selbem Namen, wiederzueröffnen. Der Wallfahrtsort bleibt Kopenhagen, aber das neue Noma befindet sich jetzt am Rand des autonomen Stadtteils Christiania. Das ist schon aus soziologischer Perspektive interessant, denn autonome Linke dürften normalerweise einem Restaurant, in dem ein Menü dreihundert Euro kostet, skeptisch bis gewaltbereit gegenüberstehen. Man muss sich nur einmal vorstellen, eine solche Gentrifizierung fände im Hamburger Schanzenviertel statt.
Doch hier scheint es anders zu sein. Vermutlich ist man sogar stolz auf Landsmann René Redzepi, der ja auch alles andere als Teil einer regelkonformen Elite ist. Dennoch ist er kein Revoluzzer, sondern wahrhaftiger Revolutionär. Ohne Redzepi gäbe es heute vermutlich keine Restaurants, in denen tätowierte Köche mit gepflegten Vollbärten Gerichte direkt vom Herd an den Tisch bringen. Es gäbe auch kein Fine Dining ohne weiße Tischdecken und keine „brutal regionale“ Besinnung auf behütet erzogene Gemüsesorten.
René Redzepis kulinarische Innovationen sind so wegweisend wie die eines Auguste Escoffier oder Ferran Adrià. Um zu erörtern, ob eine Küche eine derartige Relevanz hat, reicht es aus, festzustellen, dass es eine kulinarische Ära vor und nach dieser Küche gab und dass andere Köche den Stil adaptieren. Zusätzlich zu dieser Pionierarbeit hat das Noma auch gastronomisch neue Maßstäbe gesetzt. Lässiger als an den schlichten Holztischen des ehemaligen Restaurants hatte man Spitzenküche noch nie erleben können. Das skandinavische Understatement war ein nicht unerheblicher Baustein von Redzepis Erfolg, denn die meisten Gäste priorisieren bei einem Restaurantbesuch nach wie vor das so genannte Gesamterlebnis. Wer einmal im früheren Noma gewesen ist (→ Berichte), hat sich spätestens am nächsten Tisch mit gestärkten Tischdecken und förmlich gekleideten Kellnern gefragt, ob das ganze Theater noch zeitgemäß ist. Die Antwort auf diese Frage findet man seit Jahren in den Speisesälen der ganzen Welt.
Nach über einem Jahr Bauzeit ist am neuen Ort, der nach wie vor unmittelbare Wassernähe hat, eine urbare Farm entstanden, deren Mittelpunkt das neue Restaurant ist.
Über einen gemütlich beleuchteten Weg, vorbei an Gewächshäusern und an eine Mischung aus „Apple Stores“ und Labore erinnernde Räume, in die man im Vorbeigehen flüchtige Einblicke erhascht, gelangt man ins Restaurant. Freundlich und gut gelaunt ist man hier, keine Spur von Förmlichkeit.
Umso wuseliger geht es hier zu. Auffällig viel Personal befindet sich im Restaurant, es gibt vermutlich mehr Servicekräfte als Gäste. Sie schwirren umher, servieren, erläutern, lächeln, schenken ein. Das macht zwar alles einen koordinierten Eindruck, aber zur Ruhe kommt man hier nicht so recht. Kein Vergleich zur lässigen Entschleunigung von damals.
Das kulinarische Konzept ist im neuen Noma etwas definierter als vorher. Dass es um Regionalität geht, muss nicht erwähnt werden, doch die Menüs stehen jetzt unter einem bestimmten Motto. Das Eröffnungsmenü namens „Seafood“ spricht für sich.
Es beginnt mit einer Meeresschneckenbrühe, die in der entsprechenden Schale des ausgekochten Tiers serviert wird. Die Brühe duftet heiß und aromatisch, appetitanregende Fettaugen leuchten einen an. Den Rand der Schnecke zieren einige säuerlich eingelegte Pflanzen. Dieser Auftakt ist heiß und wohltuend und schmeckt hervorragend. (8/10)
Verschiedene Muscheln sind Thema der nächsten beiden Gänge. Der erste präsentiert eine Venusmuschelart sowohl ganz pur als auch in Form einer buttrigen Creme mit Karamellnoten (7/10); der zweite beinhaltet Miesmuscheln, die mit einer Muschelcreme bedeckt sind, welche einen intensiven, angenehm marinen Geschmack in den Vordergrund stellt (7,5/10).
Beim nächsten Gericht findet man in einem Schälchen unter einem karamellisierten Cracker aus ausgekochten Garnelen, der leicht süß, würzig und „meerig“ zugleich schmeckt, klaren Muschelsud mit Tiefseegarnelen sowie verschiedene fermentierte Früchte, unter anderem Johannisbeeren. Das aromatische komplexe, ungewohnte Arrangement empfinde ich auf Anhieb als grandioses Zusammenspiel von Frucht und Meer. Die unkonventionelle Kombination ist dabei weder provokant noch aneckend, sondern ungemein wohlschmeckend und harmonisch. Aus den Köpfen von auf einem separaten Teller servierten Garnelen lutscht man dazu einen warmen, würzigen, buttrigen Fond aus ‒ purer Genuss. Das ist mit Abstand das beste Gericht, das ich von Redzepi bisher probiert habe. (10/10)
Danach bietet geräucherter Forellenrogen auf einer Emulsion von Eigelb und Kürbiskernöl, angerichtet in Form eines Seesterns, kurzweiligen Gaumenspaß. Die Reichhaltigkeit der Creme passt sehr gut zum leicht salzigen Geschmack der Fischeier. Sehr gut. (7/10)
Ein in der Speisekarte als Qualle tituliertes und auch so angekündigtes Gericht gibt mir keine Veranlassung zu denken, dass es sich nicht etwa um das transluzente Meerestier handelt. Die vier hufeisenförmigen Ringe sehen zudem täuschend echt nach den Innereien des Tiers aus. Tatsächlich handelt es sich, wie ich erst später herausfinde, offenbar um angedickten Tintenfischsud. Die Masse hat eine organische Textur (eher fest als geleeartig) und schmeckt leicht salzig. Die Algen hierzu sind deutlich salziger und leicht säuerlich. Flüchtig, an Meer erinnernd, überraschend gut. (7/10)
Der folgende Abschnitt des Menüs präsentiert erneut verschiedene Muschelarten.
Jakobsmuscheln mit ihrem Corail und einer rauchigen Creme sind perfekt temperiert ‒ leicht kühl ‒ und demonstrieren exzellente Qualität (7,5/10). In Scheiben geschnittene Islandmuschel befindet sich in einem leichten, säurebetonten Sud und ist mit eingelegten Kräutern kombiniert, was in Summe eindrucksvoll herzhaft und pfeffrig schmeckt (8/10).
Die Produktpräsentation fährt fort mit einer sehr großen, in Stücke portionierten Auster mit Petersilie und Stachelbeere ‒ ziemlich sauer, aber qualitativ überzeugend. (7/10)
Danach gibt es Seeigel von den Färöern mit Kürbiskernen, Sahne und Rosenöl, ein fantastisches Gericht mit viel Umami und einem geradezu poetischen Einsatz von Rose. (9/10)
Die nächste Kreation beinhaltet Seegurke in Form von getrockneten Innereien und frittierter Haut, serviert in mit weiteren Bestandteilen des Meerestiers aufgeschlagener Sahne. Die getrockneten Innereien präsentieren sich wie reichhaltige, salzige Cracker ‒ keinesfalls besonders „fischig“ oder streng schmeckend ‒, und die frittierte Haut ist knusprig, leicht fettig und erinnert mich an die frittierten Hasenohren, die es damals im El Bulli gab. Die dazu servierte Creme ist mit einer angenehmen kühlen Temperatur und leichtem Salzgehalt ein weiterer Baustein in diesem außergewöhnlichen und überraschend hervorragenden Gericht. (8,5/10)
Aufgeschnittener Tintenfisch begeistert dann wieder auf etwas konventionellere Art mit Algenbutter, Röstnoten und einer sensationellen Al-dente-Textur, die man eher von Pasta als von Meerestieren kennt. Einfache Produktperfektion. (8/10)
Der nächste Streich ist ein in Bienenwachs serviertes Arrangement mit Meeresschnecken und einem pikant-würzigen Salat mit Rosenblättern und Wasabiblüten. Die Schnecken sind zart und saftig, aromatisch erinnert das Gericht an getrocknete Tomaten und Koriander. Dazu gibt es viel Umami, Salz und Hochgenuss. Ich kratze den Wachstopf komplett aus. (9/10)
Das inzwischen vor allem durch ausgesprochen stimmige Geschmacksbilder und hervorragende Zutaten beeindruckende Menü fährt fort mit Simplizität auf höchstem Niveau. Gegrillte Stücke von saftigem Kabeljaukopf sind an sich schon ein Genuss, wenn man sie mit den Fingern von den dünnen Knochen knabbert. Noch besser wird das Ganze, wenn man sie mit den dazu servierten Condiments genießt: ein Pulver aus Inger und Safran; Rettichmilch; sowie eine Paste mit zerdrückten Ameisen. Die Insekten, die René Redzepi schon vor Jahren als valide Zutat in die Spitzengastronomie eingeführt hat, schmecken überraschend delikat nach einem fruchtigen, zitrusfrischen Aroma zwischen Yuzu und Zitronengras. Großartig! (9/10)
Wie bei dem zuvor in Bienenwachs servierten Gericht gibt es erneut Meeresschnecken und Wasabiblüten ‒ nun in Form einer kleinen Tarte mit Seetang. Leicht bitter und erfrischend. (7/10)
Den Beginn der Desserts macht eine Speise, die zunächst mit genialem Einfallsreichtum überzeugt. Eine Birne wurde hierzu über einen Zeitraum von zwei Monaten bei 60 Grad getrocknet. Bei diesem Prozess wandelt sich die Schale in eine schwarze, intensiv nach Süßholz und Umami schmeckende Membran um, die hier in die Form einer komplett essbaren Miesmuschelschale gebracht wurde. Gefüllt ist sie mit Eis von geröstetem Seetang und einer fruchtigen Komponente. Außergewöhnlich gut. (8/10)
Moltebeere, eine rare Zutat, die verschiedene skandinavische Länder behüten wie einen Bodenschatz, ist die Hauptzutat des nächsten Desserts und wird hier als Eis und als Sud serviert. Bei den tatsächlich wie eine Beere aussehenden Komponenten handelt es sich um fermentierte Kiefernzapfen, die komplett essbar sind und eine kaubonbonähnliche Textur und einen ätherischen Geschmack haben. Das ist ein klassisches Noma-Dessert: sehr sauer und herb und eher handwerklich interessant als ein wirklicher Genuss. (6,5/10)
Ein Törtchen mit karamellisiertem Seetang bringt dann eine willkommene Süße ins Spiel und schmeckt ganz leicht und flüchtig, fast wie die Qualle von zuvor. (7/10)
„Planktonkuchen“ ist ein weiteres ungewöhnliches Dessert, das an den Geschmack und die Textur von Zahnpasta erinnert und in meinem Empfinden zwischen Befremdung und Gefallen hin und her schwankt (6,5/10).
Damit endet das Menü im neuen Noma. Es präsentiert außergewöhnliche Zutaten in oft unkonventionellen Arrangements. Neu ‒ und begrüßenswert ‒ im Vergleich zu den mir bekannten Menüs im vorherigen Restaurant ist, dass geschmacksfördernde Parameter wie Röstaromen, Hitze, Fett, Umami und Salz zumindest in diesem Menü nicht zu kurz kommen und den aus dem Noma sonst bekannten Purismus um eine genussfördernde Dimension erweitern. Die folgenden Menüs ‒ das nächste ist dem Thema Gemüse gewidmet ‒ mögen natürlich völlig anders ausfallen.
Vom gastronomischen Erlebnis her war der Abend sehr unruhig, mit ständig umherschwirrenden Personal und viel zu schnell aufeinanderfolgend servierten Gerichten. Auch der Wein-Service war anstrengend und der Sommelier nur mit großer Mühe von seinem dogmatischen Kurs mit säuerlichem „Naturwein“ abzubringen. Dazu gehörte die skurrile Situation, in der ich eigentlich einen klassischen Burgunder aus der Weinkarte bestellen wollte, mir aber dennoch lieber ein komplizierter Liebhaberwein mit säuerlich-oxidiertem Geschmacksprofil aus dem Jura empfohlen wurde. Am Ende konnte das Thema aber noch zu meiner Zufriedenheit geklärt werden, wenngleich mir das Thema Wein heute Abend nicht so wichtig war.
Die Frage, ob das Noma empfehlenswert ist, stellt sich jedoch nicht. Niemand unternimmt die mit einem für einen Tisch im Noma erforderlichen Ticketkauf verbundenen Anstrengungen nebenher oder unüberlegt. Wer sich hier einen Platz erkämpft hat, erhält als Belohnung ein qualitativ eindrucksvolles und auch intellektuell ansprechendes Menü mit vielen Höhen und wenigen Tiefen, das sich ein bisschen so anfühlt als äße man in der Zukunft. Nur in der Zukunft hier zu essen dürfte schwierig werden. Die Plätze für die nächste Saison sind schon alle ausverkauft.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Noma (→ Website) |
Chef de Cuisine: | René Redzepi |
Ort: | Kopenhagen, Dänemark |
Datum dieses Besuchs: | 23.02.2018 |
Guide Michelin (Nordic Countries 2018): | noch nicht bewertet |
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