Chef's Table at Brooklyn Fare – César Lucullus
„Julien,” – wir sind inzwischen per (amerikanischem) Du – „there are planes coming in from Tokyo every day. I can get everything I want!“ sagt César Ramirez, mit neuem Schnauzer, neuer Gelfrisur, neuem Restaurant und mit regelrecht kindlicher Freude. Seine Augen leuchten als hätte man einem kleinen Jungen ein neues Lego-Raumschiff geschenkt. Ich habe ihn gerade gefragt, wie es angehen könne, was er hier auf jeden der kostbaren „Hering Berlin“-Teller zaubert. Wie es angehen kann, dass diese kleinen, scheinbar simplen Speisen so perfekt und wohlschmeckend sind, dass sie mich jedes Mal die Fassung verlieren lassen.
Doch der üppig gedeckte Blankoscheck, den der mexikanische Wahl-New-Yorker von seinem Financier erhält, und mit dem er sich nicht zu schade ist, sogar Holzkohle aus Japan einfliegen zu lassen, um sie in seinem Binchotan zu verheizen, ist längst keine hinreichende Erklärung für die Großartigkeit, die an diesem Tresen in New York zu erleben ist. Die Erklärung, er könne sich einfach alles kaufen, was er will, ist fast schon bescheiden. Denn die Genialität, die es braucht, um die besten der besten Zutaten nicht nur zu kennen und zu beschaffen, sondern diese dann so klar und puristisch, aber auch nicht karg, und eben immer so ungemein wohlschmeckend zuzubereiten, spielt Ramirez mit einem geradezu naiven Understatement herunter, als wisse er gar nicht, dass er längst den Schlüssel zu einer gänzlich makellosen Küche gefunden hat.
In diesem Jahr ist Ramirez mit seinem Restaurant von Brooklyn nach Manhattan gezogen. Immer noch ist das Restaurant der namensgebenden Supermarktkette Brooklyn Fare zugehörig, aber dieses Mal ist das Restaurant wirklich in dem Supermarkt. Der Eingang ist ganz hinten bei den Nudeln. In einer Ecke steht dort ein kleiner Tresen mit einer Empfangsperson, dahinter öffnet sich die Tür zu Ramirez‘ neuem Reich.
Größer, heller und betriebsamer ist es geworden. Am weitläufigen Tresen finden jetzt um die zwanzig Gäste großzügig Platz, zusätzlich gibt es noch einige normale Tische. 38 Personen werden hier insgesamt pro Abend bekocht, aber es gibt nur noch ein seating, mit versetzten Uhrzeiten, aber ohne „Austausch“ von Gästen. Auch das berüchtigte Fotografierverbot hat Ramirez aufgehoben. Locker und entspannt soll es hier jetzt sein, sagt der Küchenchef, und genauso gibt er sich auch. Er wirkt entspannter in seiner neuen Wirkstätte.
Der erste Streich des Menüs (ca. € 300) ist eine Tartelette mit einer großzügigen Portion gewürfelter Makrele aus Japan, bedeckt mit hauchdünnen, knusprigen Fäden aus Seetang und mit Perillablüten gespickt. Neunzehn Monate ist es her, seitdem ich zuletzt eine Speise von Ramirez gegessen habe. Ich bin richtig aufgewühlt und zittere leicht vor Aufregung. Am Gaumen spürt man eine Explosion von Frische und Knusprigkeit. Ich muss sofort die Augen schließen, um mich auf alles zu konzentrieren, möchte keinen Sinneseindruck verpassen. Das Aroma erinnert interessanterweise an das von allerbestem Sushi, obwohl hier kein Reis im Spiel ist. Etwas Wasabi bemerke ich auch, sowie milde Säure, Meer und „Blumigkeit“. Es ist, wieder einmal, ein großartiger Auftakt. (9/10)
Es geht weiter mit einem Klassiker, Seeigel aus Hokkaido auf luftiger Brioche, darauf eine Scheibe schwarzen Trüffels. Die phänomenale Qualität der Meeresdelikatesse kann man sehen ‒ es ist ein einheitliches, leuchtendes Dunkelorange ‒, riechen ‒ es duftet nach Meer und Gischt ‒ und schmecken, wenn die großzügige Menge dieser exquisiten Zutat die Geschmacksnerven mit ihrer jodigen, kühlen Süße flutet. Man schließt die Augen und ist in einer Parallelwelt, in die man für ein paar Sekunden hineinblicken kann. (10/10)
Der nächste Streich aus dieser Parallelwelt ist ein Schälchen, das ein Tartar aus dem fettigen Bauchfleisch von Rotem Thun, dazu eine Art Auberginen-Pudding sowie „Kaluga Queen“-Kaviar enthält. Letzterer stammt aus der Zhejiang-Provinz aus China und zählt inzwischen zu einer der begehrtesten Sorten Störrogen. Die fast linsengroßen, grünlich-gräulichen Eier sind sanft salzig, weisen eine angenehm „schmelzige“ Textur auf und sind eindeutig der Protagonist eines luxuriösen Gerichts, das dennoch unglaublich zugänglich ist. Der Geschmackswelt des Seeigel-Gerichts folgend, erweckt auch diese Speise starke Assoziationen zum Meer. Alles ist rein und klar und animiert zum Augenschließen und Abtauchen. (10/10)
Der Zustand, in denen mich dieses Restaurant jedes Mal bereits nach kurzer Zeit versetzt, macht glücklich und süchtig. Im Glas ist jetzt gerade ein 2005er Pouilly Fumé „Silex“ von der Domaine Dagueneau von der Loire, ein großer Wein, wie alle, die hier in der Weinbegleitung ausgeschenkt werden. Mittelmäßiges gibt es in diesem Restaurant genauso wenig wie „Gutes“. Es gibt hier nur Großartigkeit.
Glänzender Schleimkopf (kinmedai), der dank meiner Besuche in den Spitzenrestaurants der USA und in Japan längst zu einem meiner favorisierten Fische zählt, gelangt für den nächsten Gang mit einem kühlen Püree von Winterrettich und einem kleinen Zweig Szechuanpfeffer auf den Teller. Mehr benötigt es nicht, um eine in sich perfekte, abgeschlossene Speise zu kreieren, bei der ich wirklich emotional werde. Die Temperatur des Fischs ist irgendwo zwischen lauwarm und heiß, schmeichelnd, die Qualität fast unbegreiflich, der Rettich kühlend und der zitrusartige Pfeffer stimulierend. Der prachtvolle Fisch kam heute erst aus Japan hier an. (10/10)
Die schmackhafte Warenkunde fährt fort mit einem Fisch aus der Familie der so genannten Laternenbäuche, hier schlicht bei seinem japanischen Namen Akamutsu benannt. Er stammt aus der Bucht von Chiba, östlich von Tokio, und schmeckt ganz deliziös. Das Filetstück ist dicht und schwer und weist einen recht hohen integrierten Fettgehalt auf, der perfekt den frischen, säuerlichen Geschmack eines beachtenswerten Jus transportiert, in dem der Fisch liegt. Leichte Röstnoten vom Holzkohlegrill sorgen für weiteres Wohlbefinden und ungläubiges Kopfschütteln. (10/10)
Hummer aus Stonington, Maine, gegrillt und ausgelöst, serviert Ramirez beim nächsten Gang mit einer Reduktion von Blutorangen aus Valencia. Diese seien dort gerade „very nice“, sagt er voller Freude, und erklärt weiter, dass es sich bei den gelben Blüten obenauf um Senfblüten handelt. Der Hummer ist von einer der allerbesten Qualitäten, die ich je probiert habe und ist perfekt zubereitet. Ramirez lehnt moderne Küchentechniken wie Sous-vide-Garung ab und röstet und schmort lieber in Kupferpfannen und über Holzkohle. Die Sauce auf Krustentierbasis bekommt durch die intensiv aromatische Blutorange einen säuerlich-fruchtigen Geschmack, während die Senfblüten im Hintergrund eine ganz leichte, ansprechende Bitterkeit mit einbringen. Ein Geniestreich. (10/10)
Aus Kanada stammt dann ein Filetstück vom Kohlenfisch, das in einem Sud mit Matsutake-Pilzen serviert wird, einem der in Japan begehrtesten Speisepilze, der Kilopreise im vierstelligen Eurobereich erzielt. Diese Exemplare stammen jedoch aus Oregon, was ihrem einzigartigen, nussig-waldigen Geschmack keinen Abbruch tut. Der Fisch ist gehaltvoll und rein im Geschmack; die Haut ist so fein, dass sie sofort einreißt, wenn man sich mit dem Löffel an sie herantastet, und dann am Gaumen schmilzt. Alles fügt sich zu einem harmonischen, wohlschmeckenden Ganzen zusammen. (10/10)
Das Niveau reißt nicht ab, Ramirez ist kompromisslos. Ein Kaisergranat aus Schottland ist ebenfalls auf Referenzniveau, doch damit ist es hier ja nie getan. Der Wohlgeschmack, der jeder einzelnen Speise hier innewohnt, ist faszinierend und zutiefst befriedigend. Auf diesem Teller sorgt ein süffiges, „schlotziges“ Risotto aus Koshihikari-Reis für weitere Genussmaximierung. Salz, Hitze, die Körnung vom Reis, die süße Nussigkeit des Krustentiers, all das ist nicht weniger als erneut grandios. (10/10)
Eine Wachtelkeule aus dem Südwesten Frankreichs (wo genau habe ich nicht erfragt, vielleicht aus dem Périgord) folgt, klassisch knusprig braun gebraten, mit einer glänzenden, duftenden Sauce, dazu gibt es Granatapfel und etwas Senf (etwas versteckt unter dem Geflügel). Ist es nicht großartig, dass Ramirez dieses köstliche Condiment nicht zu simpel erscheint? Aber es ist natürlich auch kein Dijon-Senf, sondern ein besonderer aus Japan. Nichts gegen Dijon-Senf, aber es gibt eben selbst von sehr guten Dingen noch Steigerungen. Hier erlebt man sie. Ich benutze Besteck und meine Finger, bis nichts mehr auf dem Teller übrigbleibt. (10/10)
Die Reise geht weiter mit Miyazaki-Rind der höchsten Qualitätsstufe A5, serviert auf einem glänzenden Saucenspiegel mit Pfeffer und Rettich. Das Fleisch ist so zart und buttrig, dass man kaum seine Zähne bemühen muss, um es zu zerkleinern, beinahe wie Fisch. Diese exklusive Delikatesse ist nicht mit einem Steak zu verwechseln. Das ist hier ist nichts für „Fleischliebhaber“, sondern für Liebhaber grandioser Produkte, ganz weit weg vom entbehrlichen Mittelmaß der allermeisten Fleischgerichte. (10/10)
Ein fruchtig säuerliches Grapefruit-Eis mit Sake-Gelée kühlt und beruhigt die aufgeheizten Sinne. Der Fruchtgeschmack ist intensiv, die Säure perfekt austariert, und der Sake sprenkelt etwas fernöstliche Exotik mit hinein. Die Grapefruit ist eine der besten, die ich je probiert habe. Süße, Säure, Frucht und Kälte sind hier perfekt im Einklang. (10/10)
Es folgt ein cremiges, weiches Eis mit intensivem Vanillegeschmack, das mit der dickflüssigen Karamellsauce bereits ein perfektes Dessert ergibt. Dünne Scheiben von weißem Trüffel setzen dem Erlebnis jedoch noch einen drauf. Die zuerst fordernde, dann vollends überzeugende Kombination aus dem geschmacklich intensiven Edelpilz mit dem leicht salzigen Karamell und dem kühlenden Eis ist zwar mehr als dekadent, aber geschmacklich ein unerwarteter Volltreffer. (10/10)
Und dann kommt noch ein Dessert. Noch ein Meisterwerk. Noch eine Referenz. Schokoladenpudding. Ich bin nicht der größte Freund von Schokoladendesserts, meist reizen mich Nachspeisen mit Früchten mehr. Die schillerndste Ausnahme ist der Schokoladenkuchen von Bernard Pacaud im L’Ambroisie ‒ und seit heute Abend auch dieser himmlische chocolate custard vom Chef’s Table in Manhattan. (10/10)
Das Dogma von Ramirez ist es, die Zutaten, die er für seine Gerichte ersinnt, in bestmöglicher Qualität zu beschaffen und sie so wohlschmeckend wie möglich zuzubereiten. Hierfür kann er auf scheinbar unerschöpfliche Ressourcen zurückgreifen sowie auf die vielfältigen logistischen Möglichkeiten dieser pulsierenden Metropole. Zur Zubereitung greift Ramirez auf die klassischen Methoden der japanischen und französischen Küche zurück, modernistische Techniken lehnt er dabei genauso ab wie Regionalität. Das ist ein hedonistischer, dekadenter, aber auch kosmopolitischer Ansatz, der perfekt zu New York passt und damit dann doch schon wieder ein bisschen regional ist.
Ich gehe spät, gehe hinaus in einen grell beleuchteten Supermarkt, durch Gänge mit Nudeln, Chips, Obst, Gemüse, Käse, hinaus auf die 37. Straße. Die Nacht ist klar und leuchtet, Sirenen heulen, Taxis hupen. Ich komme bald wieder. Mein nächster Termin steht bereits.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Chef's Table at Brooklyn Fare (→ Website) |
Chef de Cuisine: | César Ramirez |
Ort: | New York City, USA |
Datum dieses Besuchs: | 25.10.2017 |
Guide Michelin (New York City 2017): | *** |
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