Le Petit Nice – nachgeeicht
Vor fünf Jahren kam ich im Le Petit Nice in den Genuss einiger der für mich einprägsamsten Fischqualitäten. Eine Frische, zu deren genauerer Beschreibung am ehesten Attribute wie Klarheit und Reinheit passen, serviert unter dem Einfluss des azurblauen Lichts des Mittelmeers, brachte mich zur Wortschöpfung „Eichspeise“ und verlangte irgendwann nach einer Wiederholung.
Mein Anspruch bei einer Reise zu einer Restaurant-Institution wie dieser ‒ das Haus feiert gerade sein hundertjähriges Bestehen ‒ ist dann weniger, Neues zu entdecken, als vielmehr Gerichte, die mich bis zum heutigen Tag geprägt haben und von denen ich regelmäßig erzähle als hätte ich sie erst gestern genossen, erneut zu probieren. Dabei ist mir das Risiko bewusst, dass ich es bei diesem Mal ein bisschen anders empfinde (durch gewachsene Erfahrung) oder das Gericht heute tatsächlich eine Nuance „schlechter“ ist, die Hervorragendes von Denkwürdigem unterscheidet. Ich werde das gleich herausfinden.
Ein bisschen trübt der Service heute von Anfang an den Aufenthalt. Ich bin niemand, der penibel auf vermeintliche Fehler achtet und daran herummäkelt. Es geht mir in Summe um eine Grundeinstellung des Servicepersonals in einem solchen Haus. Gutes Personal, entgegen des oft kolportierten Sprichworts, erfüllt einem Gast nicht einfach alle Wünsche. Wirklich gutes Personal „holt den Gast ab“, versteht seine Präferenzen, ist dabei souverän, freundlich und authentisch. Ein gutes Beispiel dafür, in welcher Situation ich solche Attribute schätze, ist beispielsweise, dass ich bei einer Auswahl von Gerichten à la carte oft keine abschließende Auswahl treffen kann oder möchte, sondern lediglich meine Präferenzen eingrenze. Ich sage oft: „Mich interessieren besonders diese und jene Gänge, allerdings wäre das sicherlich zu viel …“. Gutes Personal hilft einem in einer solchen Situation ungefragt aus der Bredouille und kümmert sich um Portionsgrößen, Reihenfolgen, zeitliche Abläufe und die endgültige Auswahl entweder ganz von selbst oder weist den Gast souverän und mit fundiertem Wissen über die Gerichte in die richtige Richtung.
Wenn man diese und weitere Kriterien zugrunde legt, ist an diesem Abend kein gutes Personal im Le Petit Nice tätig. Unsere A-la-carte-Auswahl – wir sind zu viert ‒ wird von der Servicekraft in etwa so freudig entgegengenommen als würden wir ihr etwas Kompliziertes diktieren. Einen Dialog suche ich mit der Dame vergeblich, wohlbemerkt in ihrer Muttersprache. Bei vielen Gängen verdreht sie die Augen und muss in die Küche laufen, um irgendetwas nachzufragen. Das ist besonders deshalb so skurril, weil der einzige Sonderwunsch, nach dem ich mich erkundige, derjenige ist, dass wir gerne einen Gang Bouillabaisse probieren würden, wohl wissend, dass das eigentlich ein ganzes Menü ist. Nach weiterer Rücksprache mit der Küche geht das auch in Ordnung. Man würde uns dann aus dem Bouillabaisse-Menü nur den Suppengang servieren. Genauso hatte ich mir das vorgestellt, bin aber zu diesem Zeitpunkt noch ahnungslos davon, dass sie das mit dem Suppengang wirklich wörtlich meint. Letztlich steht aber die Bestellung, und die Dame aus dem Service hat es irgendwie geschafft, dass ich mich regelrecht schuldig fühle, hier zu essen.
Und apropos gutem Service. Auch die Terrasse meines Zimmers, eine wunderschöne Ecksuite hinaus zum Meer, hätte man ja vorher mal von vertrocknetem Vogelkot befreien können, zumindest auf den Sitzmöbeln. Aber dies nur am Rande. Schon letztes Mal schrieb ich, dass im Hause Passedat „der Charme bröckelt“. Dagegen hat bisher ganz offensichtlich niemand etwas getan. Es leuchtet mir ein, dass es nicht ganz einfach ist, gegen die fortwährende Belastung durch Gezeiten, Möven und Tauben anzuputzen, aber wenn die Plaketten der fünf Hotelsterne, der „Relais & Châteaux“-Mitgliedschaft und der drei Michelin-Sterne das einzige sind, was hier am Haus blitzt, dann bekommt Nachlässigkeit eine ganz eigene Dimension. Man verlässt das Haus immerhin mit einer saftigen Rechnung.
Als Snacks zum Aperitif gibt es einen kurzweiligen Vorgeschmack auf die Schätze aus dem Meer, die einen hier im Restaurant erwarten. Ein Stück sehr zart gegarter Tintentfisch wird auf einem Chip serviert und erhält durch eine Garung in Rinderjus ein besonders intensives Aroma; ein überfrisches Stück roher Bonito begeistert mit Basilikum und einem jodig-salzigen Schaum; gegrillte Aubergine mit Kaviar weist ansprechende Röstnoten auf; und zwei große, flache Gebilde entpuppen sich als unterschiedlich verarbeitete Häute von Seebrasse bzw. Rotbarbe und bieten salzigen Knabberspaß. Alles in allem ein exzellenter, frischer Auftakt, der aber an einigen Stellen noch etwas mehr Perfektion vertragen könnte, um großartig zu sein. (8/10)
Ein weiterer Auftakt ist ein (offenbar nur zu optischen Zwecken) in ein Feigenblatt eingerolltes Stück rohe Makrele von herausragender Produktqualität, das mit Sumach gewürzt ist, was man seltsamerweise nicht sieht, aber durch eine reizvoll exotische Säure umso mehr schmecken kann. Etwas Koriander komplettiert diesen durchaus merkwürdig präsentierten, aber hervorragenden Snack. (8/10)
Das letzte Amuse-Bouche ist eine optisch verschwommene Kreation in verschiedenen gelblichen bis roten Farbtönen, hinter denen sich dünne Scheiben von Seebrasse und Tomate unter einer Schicht Tomatengel verstecken. Anstatt hier die Zutaten für sich sprechen zu lassen, verschiebt die Verwendung von Mandelöl das Gericht leider in eine seltsam artifiziell schmeckende Amaretto-Marzipan-Richtung, die die feinen Aromen der anderen Zutaten unter sich begräbt. Die Qualitäten der Produkte sind anhand der Happen, die man ohne das Öl erwischt, erkennbar exzellent, aber der penetrante Geschmack dominiert das Gericht. (6,5/10)
Meine erste Vorspeise hört auf „Le Poisson de Roche“ (€ 95) und besteht überwiegend aus GroßemRotem Drachenkopf (rascasse), eine in lebendigem Zustand mindestens so auffällig wie dieser Teller aussehende Fischart aus der Region. Der Fisch ist roh aufgeschnitten und wird mit Meerfenchel, Algen und einem „jodierten Gel“ serviert, dessen Zubereitung auf Basis von eingekochten Fischknochen und Weißwein sich über mehrere Monate hinzieht und hierdurch einen intensiven Geschmack entwickelt. Der Fisch schmeckt dabei transparent und klar, fast flüchtig, und dient als angenehmer Texturmitspieler in dem von Frische und jodig-salzigen Meer-Aromen dominierten Gericht. Hervorragend, aber ein paar ‒ entscheidende ‒ Grad zu warm aufgetischt. (8/10)
Anschließend probiere ich „La Caravane“ (€ 100), ein Gericht mit kleingezupften Stückchen geräucherter regionaler Fische, u. a. Seebrasse, die zu einer Halbkugel geformt sind. Diese ist mit leicht knusprigem Bottarga gespickt sowie mit Kaviar dekoriert, Letzterer steht auch noch mal separat zum Nachnehmen daneben. Eine helle Sauce wird dazu noch angegossen. Dieses Gericht spielt gekonnt mit Räuchernoten und Salzgeschmack, und die Frische des Fischs dient auch hier als raffiniertes Bindeglied zwischen allen Komponenten. Trotz der hervorragenden Produkte empfinde ich die große Portion als recht monoton und die abermals eher zimmerwarme Temperatur des Gerichts auf hohem Niveau als verbesserungsfähig. (8/10)
Der „Loup Lucie Passedat“ (€ 120), benannt nach Passedats Großmutter, ist einer der absoluten Klassiker der französischen Spitzenküche. Die Streifen von Zucchini und Gurke, die das dicke Filet vom Wolfsbarsch nebst einer runden Trüffelscheibe schmücken, sind das optische Markenzeichen dieses simplen, aber eindringlichen Gerichts. Durch behutsame Dampfgarung über einem mit Gemüsen aromatisierten Fischfond sind die Filets bemerkenswert saftig und wohlschmeckend. Unterstützt werden diese Aromen von der Saucenbasis auf dem Teller, die sich aus viel gutem Olivenöl und mediterranen Gemüsen und Kräutern zusammensetzt, vorwiegend Tomate, Zitrone, Fenchel, Basilikum und Koriander, wobei jede einzelne Zutat herauszuschmecken ist. Wer sich in die Klarheit und den unverfälschten Geschmack der französischen Mittelmeerküche zum ersten Mal oder erneut verlieben möchte, für den ist dieses zeitlose, kanonische Gericht ein sicherer Treffer. Ganz wundervoll. (10/10)
Ein Salbeisorbet danach ist frisch und leicht bitter, sehr ansprechend. (7/10)
Dann wird ein Teller Suppe aufgetischt, eine raumfüllend duftende, hervorragende Fischsuppe, ohne jeden Zweifel. Aber eben nur diese Suppe. Und jetzt dämmert es mir allmählich, was die Dame, die am Anfang unsere Bestellung entgegennahm, mit „Suppengang“ meinte. Es ist ihr nicht übel zu nehmen, dass sie sich präzise ausdrückt. Allerdings war es völlig unmissverständlich, was wir an dieser Stelle des Menüs eigentlich essen wollten, nämlich eine Bouillabaisse. Dazu gehören zumindest ein paar Fische. Nach einiger Diskussion, die es in der Art, wie sie gerade von Seiten des Personals stattfindet, nicht in einem gehobenen Restaurant geben sollte, wird die (köstliche) Suppe (ich habe sie kurz probiert) wieder abgeräumt.
Lange Wartezeit später – das muss jetzt so sein ‒ gibt es das volle Programm. Verschiedene kleine Fischfilets auf einem separaten Teller erfreuen mein kulinarisches Auge mehr als jeder aufwändig dekorierte Teller. Die Fische, u. a. Seebrasse und Rotbarbe, schmecken herrlich, und garen in der erneut hervorragenden Fischsuppe sanft nach, ohne dabei ihren Gargrad nachteilig zu verändern. Sie saugen sich voll mit dem ätherischen, nach Safran und Krustentierfond duftenden Elixir und machen diese Suppe zu einer der besten Fischsuppen, die man sich vorstellen kann. Durch die herausragenden Fischqualitäten, die bis in die Suppe hineinverarbeitet sind, wird aus einem gutbürgerlichen Gericht ein absoluter, unvergesslicher Spitzenteller (€ 90). (10/10)
Eine Bouillabaisse aus diesem Haus eignet sich übrigens gut als eines von vielen Beispielen, wie unterschiedlich das Verständnis von Spitzenküche in Frankreich zu dem in Deutschland ist. Spitzenküche ist eben zunächst einfach nur die Perfektionierung bekannter Gerichte und Zutaten, die man durchaus auch zu Hause zubereiten würde, nur eben auf einem professionellen und qualitativ viel höheren Niveau. Man geht in ein Spitzenrestaurant, um dort eben eine ganz besonders hervorragende Bouillabaisse zu essen. Bei uns identifiziert man ein Spitzenrestaurant immer noch gerne damit, dass man dort etwas völlig anderes als zu Hause serviert. Auch Letzteres ist vollkommen legitim und auch in Frankreich üblich, aber die erstgenannte Brücke und damit das Verständnis, was eine Spitzenküche bedeutet, wurde bei uns nie geschlagen.
Für ein Dessert ist jetzt kein Platz mehr, und ein Tisch mit einer zwölfköpfigen, rein männlichen Tischgesellschaft, die feuchtfröhlich feiert, hat den Lautstärkepegel inzwischen auch auf ein weniger entspanntes Maß angehoben. Heiter ist gut, grölend ist nervig, und eine Flucht an die „Bar“ genannte depressive Sitzecke in einem Vorraum bietet die einzige Möglichkeit für eine Flucht, um den Abend in Ruhe ausklingen zu lassen. Schade, dass man „ein Glas Champagner“ dann noch mal dreist mit vierzig Euro abkassiert.
Service und Ambiente beiseite ‒ es war gut, wieder hier zu sein. Die Referenzqualitäten der Fischgerichte haben sich bestätigt, und ich habe sie ‒ vor allem in ihren jeweiligen Zubereitungsarten ‒ spürbar vermisst. Die französische Mittelmeerküste ist eine schroffe Gegend. Felsig, mit Steinstränden und vielen Bausünden. Aber es gibt unzählige Perlen. Dieses Haus ist bei weitem keine makellose Perle, aber die einmaligen Fischgerichte von Gérald Passedat sind es allemal.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Le Petit Nice (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Gérald Passedat |
Ort: | Marseille, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 01.10.2017 |
Guide Michelin (F 2017): | *** |
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