Ernst ‒ 24 Jahre, 29 Gänge
Dylan Watson-Brawn ist ein leiser, bescheiden wirkender Koch, nicht mal Mitte zwanzig und aus Kanada. Seinen Lebenslauf dekorieren bereits Stationen in Kyoto, Tokio, Kopenhagen und New York. Nun hat er ein Restaurant in Berlin eröffnet. Es ist ein Tresenrestaurant mit zwölf Plätzen, die eine offene Küche übers Eck begrenzen. Bevor man auf einem der Stühle Platz nehmen kann, muss man ein Ticket erworben haben (€ 135) und an einer Tür klingeln. Vorhänge in den Fenstern kaschieren den Blick von innen nach außen ‒ und umgekehrt. Man kennt das alles, bis auf die Tickets, schon vom Nobelhart & Schmutzig. Auch die „Private Dinners“ vor der Restauranteröffnung fehlten bei Dylan nicht. Und auch die Idee, extrem regionale Küche zu servieren, klingt zunächst wie der Lebenslauf von Billy Wagners Speiselokal.
Ein großer Unterschied ist allerdings, dass man im Ernst mit Englisch am besten weiterkommt. Die Website und das Reservierungssystem sind auf Englisch, die Rückbestätigung und Nachfrage nach Unverträglichkeiten sind auf Englisch ‒ ich habe auch brav geantwortet, dass one in our party keine pigeon oder undercooked poultry isst ‒, und als ich im Restaurant mit „Hi! Welcome to Ernst. We’re happy to have you!“ begrüßt werde, habe ich Mühe, das nicht affektiert zu finden. Aber Dylan ist nun mal Kanadier und hat unter anderem auch Kanadische Kollegen mit an Bord. Haken dran.
Sprachlich anspruchsvoller wird es, wenn man den Erklärungen der Gerichte folgen möchte. Abgesehen davon, dass nur wenige Gäste einen so speziellen angelsächsischen Gastro-Wortschatz mitbringen dürften, dass sie Zutaten wie Schafgarbe, Kapuzinerkresse und Kartoffelhaut-Dashi auch auf Englisch verstehen, die auch noch sehr leise und nuschelig vortragen werden, muss man sehr viel Geduld aufbringen, bevor man das, was vor einem steht, auch endlich essen darf ‒ ob nun auf Englisch oder Deutsch vorgetragen.* Die halbe Lebensgeschichte der oft beim Vornamen genannten Zulieferer, die geologische Beschaffenheit der Böden, in denen jedes einzelne Gemüse gedeiht und die detaillierte Zubereitungsart jedes Gerichts hat man sich anzuhören. Das ist insgesamt eher lehr- als hilfreich, eher störend als genussfördernd. Am Ende des Abends wird man sogar wissen, dass ein gewisser Max die Deckenleuchten entworfen hat.
Eines der größeren Probleme solcher langen Vorträge ist, dass sie den Gast maßregeln. Sie maßregeln ihn dabei, innerhalb der Gesellschaft zu kommunizieren, mit der er im Restaurant ist, und sie maßregeln ihn dabei, zu genießen. Das Essen wird serviert, es sieht ansprechend aus, duftet vielleicht schon appetitanregend, aber man darf es eben noch nicht essen. Man muss erst artig zuhören, selten weniger als zwei Minuten. Das fällt insbesondere deshalb so krass auf, weil das Verspeisen des eigentlichen Gerichts dann selten länger als ein paar Sekunden in Anspruch nimmt ‒ oder wie lange man eben für zwei bis vier Gramm Speise benötigt, die hier einen Gang, grob geschätzt, ausmachen. Man hört hier also deutlich länger jemandem zu als man etwas verspeist. Nach dem zwölften Gang ist das ermüdend, nach dem neunundzwanzigsten eigentlich nicht mehr auszuhalten. Man hat dann ungefähr eine Stunde zugehört und sechs Minuten gegessen.
Man könnte die ausgiebige Warte- und Zuhörzeit natürlich damit verbringen, dem Bacchus eine Ehre zu erweisen. Aber auch diesem hedonistischen Anspruch wird ein Riegel vorgeschoben, denn die ‒ durchaus umfangreiche ‒ Weinkarte liest sich wie eine Zusammenfassung von Rudolf Steiners gesammelten Werken. Naturweine sind hier der Schwerpunkt, also Weine, die zugunsten eines übergeordneten spirituellen Weltbilds und auf Kosten des Geschmacks auf anerkannte und fundierte Techniken im Weinbau verzichten. Dieser Irrweg der Branche bringt gerne trübe, saure Tropfen zutage, zum Beispiel einen völlig untrinkbaren 2014 Nuits-Saint-Georges 1er Cru von der Domaine Prieure Roch für zweihundert Euro. Dieser Wein schmeckt ungefähr so als würde man auf einen Mandelkern beißen. Alles, was guten Pinot Noir seit Jahrhunderten anerkanntermaßen auszeichnet, fehlt bei diesem Wein. Am Ende des Abends stehen mehrere Flaschen auf dem Tisch. Richtig gut fand ich davon keine einzige, einige davon gingen dafür aufs Haus.
Wenn man es dann irgendwie schafft, sich durch dieses Dickicht an Ideologie, Esoterik und Hipstertum durchzuschlagen, kann man endlich einen Blick fürs Essen haben. Und das lohnt sich.
Es beginnt mit einer Zubereitung aus Frischkäse mit puddingartiger Textur in einem grünen Sud mit Fenchel. Geschmack oder Aroma fehlt der hübschen Speise zwar nahezu vollkommen, doch wohnt ihr eine Art japanische Ästhetik inne (sowohl kulinarischer als auch optischer Art), die man erst mal beherrschen muss. (6/10)
Frische Radieschen, von Dylan persönlich wenige Augenblicke vorher geschnitten – dieses Timing ist ihm wichtig ‒, kommen mit einem säuerlich frischen Dressing mit Holunderblüte. Die knackige Frische ist exzellent, das ist gelungene Produktküche. (7/10)
Sparsame Abschnitte von gerösteten Frühlingszwiebeln folgen. Aprikose und Sonnenblume spielen in einigen Creme-Tupfern eine Rolle, die geschmacklich interessanterweise an Sesam erinnern. Zusammen mit den Röst- und Räucheraromen schmeckt das überraschend japanisch und äußerst elegant. Die winzige Portion ist jedoch ein Problem. In einem Kaiseki-Arrangement, von denen diese kleinen Speisen vermutlich alle inspiriert sind, ist das etwas anderes, weil man dort ein Dutzend davon parallel verkostet. Die ein, zwei Gramm Essen, die man hier alleine auf dem Teller hat, finde ich etwas aus dem Kontext gerissen. Aus welchem, kann ich noch gar nicht genau sagen. Dennoch: geschmacklich sehr gelungen. (7,5/10)
Kirschtomaten von exzellenter Qualität mit, unter anderem, einem Sud mit Pfirsich, ergeben eine weitere hervorragende Mini-Speise (7,5/10); und sizilianischer, sehr gehaltvoller und cremiger Ricotta mit hauchdünnen, leicht knusprigen Kürbisblüten macht ebenfalls Freude (7/10).
Gegrillte Gurke mit Schafgarbe-Gelee bietet wieder knackig-frischen Spaß wie bei den Radieschen (7,5/10), und gegrillter Salat mit Petersilie bringt ansprechende Bitterkeit und Frische (7/10).
Sehr gut bisher. Wenig, aber sehr gut.
Geschichtete Kartoffelchips mit Petersilie sind fein gearbeitet und ebenfalls auf spürbar hohem Niveau (7/10); gegrillte Shishito-Paprika ist leicht pikant und ein weiterer angenehmer Snack (6,5/10).
Eine Paste aus eingelegten Ume-Pflaumen sowie Pfirsich ergänzen nachfolgend einen natursüßen Gang mit roter Bete. (6,9/10)
Minutiöse Abschnitte von Schinken vom Mangalica-Schwein in exzellenter Qualität (7,5/10) leiten über zu einem warmen „Dashi“ aus ebendiesem Schinken, in dem man gekochte sowie halbgetrocknete Tomaten findet. Sie bereichern den feinen, angenehm salzigen Jus um reichlich Umami und machen diesen Teller zu einem ganz feinen, ausbalancierten Genusserlebnis. Ganz ausgezeichnet. (8,5/10)
Die nächste Zutat ist eine geröstete Karotte. Sie liegt zerschnitten auf dem Teller (was wegen ihrer schwarzen Farbe recht spektakulär aussieht), stammt aus der Uckermark und ist dort in Quarzsandboden besonders langsam (und behütet) aufgewachsen, was ihr alles ein intensiveres Aroma verleihen soll. Zwei bis drei Stunden wurde sie hier dann noch über Holzkohle gegart. Das Resultat ist ein eindrucksvolles Produkt mit wachsartiger Textur und einem sehr intensiven, leicht süßlichen Karottenaroma. Einzelne Zutaten zu bewerten ist immer eine schwierige Aufgabe, diese hier ist definitiv „besser als sehr gut“, daher 7,5/10.
Beim nächsten Gang wurde ein sechs Stunden lang gegartes Eigelb mit gebratenem Wirsing kombiniert. Der kleine Snack kombiniert die Cremigkeit des Eigelbs mit den gebrannten Röstnoten des Kohls auf wunderbare Weise. Ein „volles“, feines Geschmackserlebnis, sehr präzise zubereitet. (8/10)
„Linda“-Kartoffeln mit deutlichem Biss ‒ das ist so gewollt ‒ und einem Zucchini-Jus spielen mit ihrer ambivalenten Textur zwischen roh und gar, der Sud ist süßlich-mild. Ebenfalls exzellent. (7,5/10)
Lauch mit recht stark gebundenem Kartoffelhaut-„Dashi“ setzt das Prinzip, kleine, spannende Portionen auf hohem Niveau aufzutischen, fort (7/10), leicht gegarter Spitzkohl mit Sahne ist etwas weniger interessant, wenngleich das Produkt von auffällig guter Qualität ist (6,9/10).
Ein kleines Stückchen Paprika in herzhaft-süßem Jus schmeckt gut und authentisch, aber das ist schon wirklich sehr krasser Minimalismus. (6,5/10)
Der nächste Gang ist Chawanmushi, eine Art japanischer Eierstich, der mit Muscheldashi zubereitet wurde, mit Mais und Schnittlauch serviert wird und in einer ganz milden Sojasauce zieht. Das Gericht ist großartig! Zum ersten Mal gibt es in diesem langen Menü ein etwas aufwändigeres und doch schlichtes Gericht mit mehreren, komplex ineinandergreifenden Komponenten. Süße und Salzigkeit sind perfekt aufeinander abgestimmt, die etwas kühlere Temperatur ist ebenfalls optimal. Das ist ein wahrhaftiges, vollständiges und präzise zubereitetes Gericht, das eindrucksvoll demonstriert, in welche Richtung es hier offenbar gehen kann. (9/10)
Ein Fleischgang besteht aus zwei ganz kleinen Scheiben einer vierzehn Jahre alten Kuh. Das intensive Aroma ist charakteristisch für gereiftes Fleisch von alten Tieren und in dieser Kategorie ganz hervorragend. (8/10)
Eine interessant zubereitete Tomate bietet exzellenten Umami-Geschmack (7/10), und der Aal, den ich dramaturgisch jetzt wirklich gutheißen würde, ist leider zu stark geröstet und hat seltsamerweise nur wenig Eigengeschmack (6/10).
Die „Desserts“ holen mich alle nicht ab, wie immer wenn es eher um Kälte und Säure geht als um Süße und schmeichelnde Aromen.
Eine Himbeertarte ist trotz guten Gebäcks eher mäßig (6/10); ein Apfelgranité mit Haselnuss ist extrem kalt, aber geschmacklich ganz gut (6,5/10).
Eine Speise mit Mirabellen spielt gefühlt erneut mit Temperaturen um den absoluten Nullpunkt (6/10), und ein Kuchen, dessen Zutaten ich nicht notiert habe, ist geschmacklich sehr zurückhaltend (6/10).
Ein Dessert mit Brombeeren ist puristisch gut (6,9/10), und ein optisch unscheinbares Eis aus Himbeerblättern mit Matcha-Tee ist überraschend exzellent und erinnert an Matcha-Tee, der zum Abschluss eines Essens in Japan serviert wird (7,5/10).
„Magalitza-Fudge“ ist dann der allerletzte Streich (6,5/10) dieses bemerkenswerten Menüs.
In Summe war das ein sehr gelungenes und in Deutschland äußerst eigenständiges Essen. Dylan Watson-Brawn schafft es, mit guten Produkten, wenig Ballast und bemerkenswerter Technik sehr präzise und nahezu immer gelungene Geschmacksbilder zu erzeugen. Mitunter wirken die Gerichte japanisch, sind aber wegen ihrer winzigen Portionen und wenigen Zutaten insgesamt schwer einzuordnen. Der extreme Minimalismus kommt auch mit einigen Fallstricken ‒ für Gast und Küche. Zum einen muss man sich erst einmal „leisten“ können, auf so vieles zu verzichten. Das geht in der Regel dann, wenn man ganz außergewöhnliche Zutaten auftischt ‒ sehr gut reicht dafür nicht ‒ und es damit schafft, abgeschlossene Gerichte zu kreieren. Serviert man, wie hier, eine so große Anzahl kleiner Probierportionen entsteht der Eindruck einer Experimentierküche, an der man den Gast teilhaben lässt. Das ist keinesfalls verwerflich. Aber wenn man sich mal ein etwas abgeschlosseneres Gericht aus dieser Küche, wie z. B. das Chawanmushi ansieht, erkennt man sofort, wohin die Reise gehen kann ‒ und vermutlich auch soll. Kaum vorstellbar, was passieren wird, wenn Watson-Brawn irgendwann mal „internationalere“ Zutaten wie feines Meerestier usw. zur Verfügung stünden. Denn ein weiteres dogmatisch regionales Restaurant brauchen wir in Berlin nicht. Laut Dylan möchte er das auch nicht sein, also stehen tatsächlich alle Möglichkeiten offen.
Das zweite Problem dieser kleinen Portionen ist ganz trivialer Art: ich spaziere nach vier Stunden hungrig aus dem Restaurant und freue mich gleich auf die Room-Service-Karte im Hotel. Das darf natürlich nicht sein, aber ich möchte darauf gar nicht so sehr herumreiten; mich hat heute in erster Linie das Essen an sich interessiert.
Watson-Brawn sollte auch überdenken, ob seinem Restaurant dieser ganze esoterische Berliner Überbau gutsteht. Damit meine ich die langen Predigten vor jedem Gericht aus ernsten Gesichtern, die Rudolf-Steiner-Weinkarte und eine Atmosphäre, die ich nicht in erster Linie mit Gastfreundschaft, Spaß und Genuss assoziieren würde.
Irgendjemand hat diesem ziemlich begabten jungen Koch eingeredet, dass man das im hippen Berlin wohl alles gerade so macht. Das ist fürs Erste auch in Ordnung. Die Aufmerksamkeit, die er verdient, ist ihm längst zuteil. Dylan wird es aber irgendwann schaffen, Berlin auch in Berlin hinter sich zu lassen, vor allem, weil er die internationale Erfahrung mitbringt. Dann wird das eine ganz große Sache.
*) Aufgrund einiger Nachfragen zu diesem Thema: Man kann den Abend im "ernst" natürlich auch ganz normal auf Deutsch verbringen. Das deutsche Personal spricht mit deutschen Gästen von vornherein Deutsch. Dennoch ist der sprachliche Auftritt des Restaurants eher ein englischer. Das ist auch überhaupt nicht weiter schlimm. In Skandinavien oder Hongkong spricht man in vielen Restaurants auch sofort Englisch, weil ein internationales Publikum erwartet wird. Ob also Englisch oder Deutsch: Dylan spricht ohnehin am besten mit seiner Küche.
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Dylan Watson-Brown wäre 23 Jahre alt. Tatsächlich war er zum Zeitpunkt meines Besuchs bereits seit einigen Wochen 24. Herzlichen Glückwunsch nachträglich!
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Ernst (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Dylan Watson-Brawn |
Ort: | Berlin, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 09.09.2017 |
Guide Michelin: | noch nicht bewertet |
Meine Bewertung dieses Essens | |
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