Auberge du Vieux Puits – Gute-Nacht-Geschichte
Das liebe ich ja am Reisen mit dem Guide Michelin. Ins Auto steigen, das Ziel einprogrammieren und sich dann von den Eindrücken überraschen lassen, die die Route für einen bereithält. Fast vierhundert Kilometer sind es von Michel Guérards Les Prés d’Eugénie bis zur Auberge du Vieux Puits, einmal quer durch Frankreich, parallel an den Pyrenäen entlang.
Die letzten zig Kilometer dauern dabei gefühlt am längsten. Die Straßen, die sich durch das Weinbaugebiet Corbières winden, wurden nicht mit diesem deutschen Mietwagen im Sinn gebaut; das zumindest suggeriert der ständig fehlende Meter Fahrbahnbreite. Die anspruchsvolle Strecke windet sich durch das Weinbaugebiet Corbières, über Brücken, durch Dörfer und schmale Gassen.
Dass am Ende einer solchen Strecke dann ein hervorragendes Restaurant auf einen warten und auch für die Reisestrapazen entlohnen soll, ist immer wieder ein spannender Gedanke. Solche Routen halten einem vor Augen, woher die Idee der drei Michelin-Sterne stammen und dass diese auch nach über hundert Jahren nichts von diesem Gedanken verloren haben.
Irgendwann, als ich schon glaube, mich vierhundert Kilometer weit verfahren zu haben, ist mein heutiges Ziel auf der linken Seite: eine für dieses winzige Dorf, Fontjoncouse, großzügige Hotelanlage, architektonisch unauffällig in die Landschaft integriert. Es gibt ein paar ausreichend komfortable Zimmer, die um einen kleinen Swimmingpool erschlossen sind.
Abends im Restaurant sitze ich zunächst in einem Vorzimmer mit besonders geschmacksverirrtem Interieur in unbequemen Sesseln und stöbere in der Karte. Es gibt drei Menüs (von € 110 bis € 190) und einen A-la-carte-Teil. Wir sind zu zweit, es herrscht unterschiedlicher Appetit und jeweils auch Interesse an verschiedenen Speisen. Diese vollkommen normale Ausgangssituation überfordert den Maître völlig. „Nein, das geht nicht“, „dann müssen das alle gemeinsam bestellen“, „Sie können dies nicht tauschen, jenes nicht machen, das nicht kombinieren“. Irgendwann bin ich ziemlich genervt von den ganzen Ausreden und klappe die Speisekarte erst einmal wieder zu. Gut organisierte Restaurants treten bei der Bestellung in einen Dialog mit dem Gast anstatt sich von ihm abzuwenden.
Ein Glas Wein muss erst mal her, und einige Amuse-Bouches stehen auch schon auf dem Tisch. Sehr fein gearbeitete tartelettes mit Aromen von Steinpilz, Trüffel, viel Wald und Erde. (8/10)
Es vergeht ziemlich viel Zeit, bis wieder jemand auftaucht. Dann passiert etwas Unerwartetes, denn wir werden auf einmal aus dem Vorzimmer in die Küche gebeten und an den Chef’s Table umgesetzt.
Der Küchenchef Gilles Goujon ist auch präsent, jeder ist freundlich, und man hört sich noch mal von vorne an, wonach uns der Sinn steht. Alles ist auf einmal kein Problem mehr. Ich bin überrascht, freue mich aber, dass es jetzt losgeht – womit und warum auch immer.
Es gibt zunächst warmes Weißbrot mit exzellentem Olivenöl sowie ein Amuse-Bouche mit der Bezeichnung „Nadel im Heuhaufen“. Man findet dort – nach lästiger Suche – ein paar dünne Gebäckstangen, wie Grissini, nach denen es sich nicht wirklich lohnt, gesucht zu haben. (5/10)
Es folgt eine sehr frische Tarbouriech-Auster mit einer essbaren „Perle“, die man mit einem kleinen Hammer aufschlägt und aus der dann Rauch entweicht. Das recht intensive Raucharoma steht der geschmacklich kräftigen Auster gut. Am Gaumen ergibt sich ein kraftvolles, frisches Ensemble, in dessen Vordergrund ein hervorragendes Produkt steht. (9/10)
Als nächstes wird ein Tablett mit bereits vorgegrilltem Rindfleisch und einigen Stangen von außen stark verbranntem Lauch präsentiert. Das sieht alles vielversprechend aus, doch das gibt es natürlich erst später.
Weitere Amuse-Bouches folgen: zwei Muscheln (Stab- und Miesmuschel), jeweils mit einer essbaren Schale. Sehr gute Qualitäten, aber der Gag mit der Schale wertet hier nichts auf. (7,5/10)
Der bisher durchaus kurzweilige, aber auch turbulente Abend, erfährt jetzt einen weiteren Szenenwechsel, denn es geht nun am Tisch im Speisesaal weiter. Das Interieur dort ist fensterlos und in kühles weißes Licht getaucht. Etwas Kargheit und der Verzicht auf Tischdecken sollen wohl zwanglose Urbanität vermitteln, doch diverse kitschige und verspielte Details – wie z. B. eine rote Öllampe auf dem Tisch, eine Einbuchtung in der Tischplatte fürs Schneidemesser (ich hoffe, die wird regelmäßig gereinigt), ein comicartiges Restaurant-Logo mit einem Fischskelett, dem drei Sterne aus dem Maul kommen – täuschen aber nicht über die provinzielle Lage des Restaurants hinweg.
Der erste Gang des Abends ist Jakobsmuschel in einer Geflügelbouillon mit Artischocke. Ein Püree (Blumenkohl?) ziert den Rand des Tellers in Form einer Muschelschale. Die Muschel selbst ist von ausgezeichneter Qualität – mit festem, saftigem Fleisch und prononcierten Röstspuren –, die Artischocke jedoch nur mäßig gut. Durch die flüssige Bouillon lassen sich die einzelnen Komponenten nicht sehr gut kombinieren. Man muss entweder „vorschneiden“ und dann löffeln, oder man probiert die Elemente einzeln und löffelt den Sud später aus. Einzig die Muschel setzt hier einen wirklichen Höhepunkt. (7/10)
Vierhundert Kilometer wurden heute abgefahren, eineinhalb Stunden schon im Restaurant in verschiedenen Räumen verbracht: da wünschet man sich jetzt mal Großartiges.
Ein Gericht, u. a. mit Hummer als Carpaccio und als Eis, folgt jetzt, und das kann überzeugen. Zucchini, die man sonst eher als verkochten, aromatischen Mitstreiter in Ratatouille und ähnlichen Gemüsezubereitungen findet, spielt hier eine zentrale Rolle. Mit ihrer beispiellosen, leicht knackigen Textur, die von getrockneten, hauchdünnen Blättern ihrer Blüte unterstrichen wird, schafft sie am Gaumen eine Bühne, auf der sich alle weitere Komponenten sehr elegant präsentieren können. Das Hummereis bringt noch eine passende, kalte Krustentiernote ins Spiel. Äußerst elegant. Wer allerdings auf extrem präzise Anrichtweisen wert legt (ich nicht), könnte eine solche hier vermissen. (8,9/10)
Für den folgenden Gang wird eine in der Salzkruste gebackene große Frühlingszwiebel an einem Beistelltisch tranchiert, was mir als Produktfanatiker nur gefallen kann. Noch mehr gefällt mir dann der Anblick des Tellers vor mir: hunderte Erbsen baden da in einem duftenden, bernsteinfarbenen Sud, in dem man auch noch Erdbeeren (!) sowie Salatknospen und einige Sprossen findet. Die tranchierte Zwiebel findet schließlich auch noch darin Platz. Die Produkte sind eine Wonne, und der Jus bringt mit einer Note Kardamom einen Hauch Exotik in diesen Gang. Das Geschmacksbild wird allerdings so stark von der (natürlichen) Süße der Erbsen und der Zwiebel dominiert, dass es mir schon fast zu viel des Guten ist. Dennoch: herausragende Produkte! (9/10)
Es folgt „verdorbenes Ei“, wobei „verdorben“ als „verwöhnt“ verstanden werden soll. Verwöhnt mit einem Überfluss an Trüffel in Form einer über das wachsweiche Ei gegossenen Trüffel-Sabayon und einem à part servierten Trüffelcappuccino. (Anderen Bildern im Internet nach zu urteilen, wird auch noch regelmäßig frischer Trüffel darüber gehobelt, aber das bleibt hier seltsamerweise aus. Also ist das Ei ja vielleicht noch nicht ganz verdorben.) Eine Brioche dient dann als Utensil, um die süffige, cremige Masse zum Mund zu führen. Die Kombination Ei/Trüffel ist eine sichere Bank, doch mir fehlt bei diesem Gericht Feinheit und Authentizität. Es ist von allem sehr viel. Viel Ei, viel Creme, viel Brioche und viel wässriger Cappuccino. Aber die erdige, ätherische Eleganz, die Trüffel eigentlich ausmacht und die mich verdorben hat (in Restaurants wie Flocons de Sel oder Pierre Gagnaire), die fehlt. (7,9/10)
Als nächstes folgt ein Gang mit Pilzen aus der Region, unter anderem auch eine große, aufgeschnittene Morchel, die mit sehr viel Erbsenpüree gefüllt ist, was ihr nicht besonders guttut. Die auch schon etwas erkaltete Masse ist sehr voluminös und kaschiert zudem auch das Aroma der Morchel. Aber der Rest begeistert. Kleine, geschmacklich und sensorisch aufregende Pilze verschiedener Sorten erzeugen zum ersten Mal bei diesem Essen Bilder im Kopf, hier die Vorstellung eines ausgiebigen Waldspaziergangs, bei dem verschiedene Überraschungen am Wegesrand auf einen warten. Ein frittiertes Stück Schweineohr sorgt für knusprigen Kauspaß, Austernblätter für jodige Frische, und ein hervorragender Jus mit Schweinefett für Zusammenhalt und süffige Tiefe. Eine herausragende Produktdarbietung mit viel Masse, aber auch Klasse. (8,9/10)
Das üppige Mahl fährt fort mit einer Bouillabaisse-ähnlich präsentierten Rotbarbe und steuert damit auch schon an den Rand meiner Kapazitäten. Doch spätestens beim Inhalieren der Aromen, die dem angegossenen Sud entströmen, ist mein Appetit wieder zurückgesetzt. Safran, Krustentier, Fisch, Muscheln und Lauch erzeugen allein durch ihren Duft vollendeten Hochgenuss. Am Gaumen dann feiert die sensationelle Rotbarbe ein Fest mit der öligen, sehr intensiven Suppe, die durch den leicht medizinisch-bitter schmeckenden Safran besonders spannend, anspruchsvoll und aufwühlend ist. Das ist ein unvergessliches Gericht. Dass ich die Serviette schützend vor mein weißes Hemd stecke wird man mir schon verzeihen. Es lebe das Schlemmen! (10/10)
Dann folgt das zuvor präsentierte Fleisch. Auf dem Teller liegen, ganz puristisch, ein paar Tranchen davon. Man erkennt bereits anhand der dunkelroten, homogenen Farbe und dem etwas dunkleren Fett, dass es sich um ein älteres Tier handelt. Auch die lange Reifung des Fleischs ist offensichtlich. Der Geschmack bestätigt das Gesehene: das Fleisch schmeckt nussig, aber auch etwas käsig-pikant. Zartheit steht hier weniger im Vordergrund als pure Authentizität. Ein leichter Bratenjus wird angegossen, mehr braucht es auch nicht. Die dazu servierte Lauchstange passt dazu gut und lädt zu einem kontinuierlichen Wechsel zwischen dem bissfesten, intensiven Fleisch und dem zart schmelzenden Lauch ein. Extrem, sehr gut, aber auch sehr puristisch. (8/10)
Als erstes Dessert probiere ich eine (Schein-)Zitrone, die ich in sehr ähnlicher Form auch schon mal im Epicure auf dem Teller hatte. Was dort ein intensives Genusserlebnis mit dem sommerlich-frischen Geschmack von Menton-Zitrone war, fällt hier nicht ganz so schmackhaft aus. Diese „Zitrone“ ist ausschließlich mit Schaum gefüllt, der auch nicht besonders nach Zitrone schmeckt und viel zu massig ist. Nicht ganz mein Fall, dennoch gekonnte Patisserie. (7/10)
Einem weiteren Dessert mit einer ähnlich gearbeiteten „Clementine“ und viel Schokolade fehlt es ebenfalls an Begeisterungspotenzial: recht gut, aber mehr auch nicht. (7/10)
Ein paar gute Petit-Fours (7/10) beenden das üppige Mahl, das ich an vielen Stellen faszinierend fand, in Summe aber zu inkonsistent für das vom Michelin attestierte Niveau (aber das ist natürlich keine Kritik am Restaurant). Um die Geschichte zu verstehen, die dieses Mahl erzählt, musste ich sehr genau hinhören. Sie wurde etwas leise erzählt. Aber soweit ich alles verstanden habe, war es eine Geschichte der Region. Eine Geschichte von feuchten Laubwäldern mit großen Pilzen, von lokalen Schlachtern mit alten Rindern, von Serpentinenstraßen und kleinen Dörfern. Und auf jeden Fall war das Mahl eines: eine gute Gute-Nacht-Geschichte.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Auberge du Vieux Puits (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Gilles Goujon |
Ort: | Fontjoncouse, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 18.05.2016 |
Guide Michelin (F 2016): | *** |
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