Les Prés d’Eugénie – die alte neue Küche

Georges Blanc, Paul Bocuse und eben auch Michel Guérard: Sie sind, wenn man das so sagen darf, die drei „großen Alten“ der französischen Gastronomie, die man noch immer fast tagtäglich in ihren Restaurants sehen kann – seit vielen Jahrzehnten. Ähnlich lange halten ihre Restaurants drei Michelin-Sterne. Nachvollziehbar anhand des Qualitätsstandards auf den Tellern ist das nicht immer. Daher betrachten viele die drei Sterne der alten Meister häufig als Auszeichnung für ihr Lebenswerk. Andererseits erlebt man durchaus auch Großartiges bei ihnen, traditionelle Gerichte mit hervorragenden Zutaten und selten gewordenen Zubereitungsmethoden, die von den Speisekarten unserer Restaurants mit dem absehbaren Ableben ihrer Schöpfer verschwinden werden. Bevor man an diesen Sternen dreht, sollte man lieber ein paar andere Guides kräftig schütteln, z. B. die von Hongkong und Spanien, da sollten dann eine ganze Menge mehr Sterne herauspurzeln, die man anschließend getrost wegfegen kann.

Eugénie-les-Bains ist ein kleines Dorf im äußersten Südwesten Frankreichs mit knapp vierhundert Einwohnern, von denen vermutlich alle bei Michel Guérard arbeiten. Guérard ist einer der Urväter der Nouvelle Cuisine und hat sich besonders für einen leichteren, gesünderen Stil des Kochens ausgesprochen („Cuisine Minceur“, etwa: „schlankere Küche“).

Sein herrschaftliches Anwesen Les Prés d’Eugénie mit gigantischen Gartenanlagen sowie weitere Restaurants (La Ferme aux Grives, Mère Poule) dürften auch flächenmäßig den Großteil des kleinen Dorfs ausmachen. Guérard ist somit der De-facto-Bürgermeister hier, wenngleich dieses Amt angeblich das einzige ist, das er hier noch nie übernommen hat.

Als ich mittags hier ankomme, erfüllt ein eindringlicher, wohliger Duft nach lange geschmortem Kalbfleisch den gesamten Eingangsbereich. Fast wäre ich einfach meiner Nase gefolgt und wäre dann wohl in einem großen Kochtopf verschwunden anstatt im Hotel einzuchecken.

Doch nachdem das erledig ist, genieße ich kurze Zeit später das (nicht aus dem Sternerestaurant stammende) Tagesgericht Blanquette de Veau. Die Gemüse darin sind exzellent auf den Punkt gegart und sehr aromatisch, jedes einzelne Kraut bis hin zur Petersilie ist herausschmeckbar und leuchtend frisch. Das Fleisch ist von hervorragender Qualität, aber einen Hauch zu trocken, da dem Gericht zwar Reis, aber nur wenig Sauce beigefügt ist. Für das, was es sein kann und möchte, ist es sehr gut (7/10). Das kurze Mahl stimmt mich auf jeden Fall optimistisch hinsichtlich des Abendessens und hilft, die knapp sechs Stunden bis dahin zu überbrücken.


Bei einem Aperitif auf der noch sonnigen Terrasse entscheide ich mich dann für das Menü Palais Enchanté (€ 235), das einige Auswahlmöglichkeiten bietet, werde dazu aber noch einige Gänge zusätzlich probieren.

Die ersten Amuse-Bouches werden serviert.

Ein kleines Gebäck mit Frischkäse und ätherischen Kräutern (vielleicht Eisenkraut und Dill) ist leicht und hervorragend (9/10); eine kleine Pilztarte mit außergewöhnlich gutem Blätterteig schmeckt intensiv nach Pilz und duftet nach Lagerfeuer und Wald (10/10); eine kleine Kugel mit Roquefort und Birne muss sich als Aperitif-Snack ebenfalls nicht verstecken (8/10).

Die Sonne ist inzwischen verschwunden. Es wird Zeit, den Tisch im Restaurant aufzusuchen, das interessanterweise baulich kaum vom Eingangsbereich des Hotels getrennt ist und somit auch als Teil der Lobby wahrgenommen werden könnte.

Eine besondere Erwähnung verdient die Weinkarte, die für ein französisches Drei-Sterne-Restaurant ungewöhnlich faire Preise veranschlagt. Ohne die vielen Hundert Positionen alle studieren zu wollen, fällt meine Wahl schnell auf einen 1990er Château Cos d’Estournel für € 220, was nahezu dem aktuellen Marktpreis entspricht.

Ein Cornet mit weißemSpargel folgt als weiteres Amuse-Bouche, bei dem erneut ein hauchdünner, knuspriger Teig Eindruck schindet – genauso wie die deutlichen Aromen von sehr gutem schwarzem Pfeffer und einigen interessanten Kräutern. (9/10)

Noch immer vor dem eigentlichen Menü serviert die Küche eine kleine Version eines großen Klassikers des Hauses: Le Zéphyr de Truffes « Surprise Exquise » Comme un Nuage. Das Gericht besteht aus einigen Scheiben schwarzem Trüffel auf einer „wolkigen“, trüffeligen Creme, die in einer aromatisch sehr fein ausgearbeiteten Vichyssoise schwebt. Ein knuspriges Stück Parmesan gibt dem Ganzen etwas zusätzliches Volumen. Man schmeckt ganz intensiv den Lauch und die Kartoffeln und den Trüffel – und kann sich dieser harmonischen, angenehm kühlen Kleinigkeit nur hingeben. Wenn man sich überlegt, mit wie wenigen Zutaten sich ein solches Genusserlebnis herstellen lässt, sollten viele Köche einmal ganz besonders innehalten und sich fragen, ob sie an den richtigen Stellschrauben drehen. (9/10)

Das Menü beginnt dann offiziell erst jetzt, mit einer klassischen Kombination von Hühnerei und Kaviar. Dazu gibt es ein paar dünne Streifen Toastbrot, mit denen man sich die salzig-süffige Kreation nach Belieben zu Gemüte führen kann. Eine in Asche gegarte, recht intensiv nach Rauch schmeckende Kartoffel ergänzt dieses Gericht dann auf eine eher plumpe Art und wirkt dadurch unzugehörig. In Summe recht gut, aber an viele ähnliche Ei-Kaviar-Kreationen nicht heranreichend. (8/10)

Aus einem anderen Menü („Terroir Sublime“) probiere ich dann ein Gericht mit in „Vin de Tursan“ gekochtem Spargel und Bigorre-Schinken an einer Erbsen-Mousseline. Schnell stellt sich heraus, dass das Gericht mehrere Probleme aufweist. Das eklatanteste von allen: der Spargel ist zerkocht und die Spitzen matschig. Zudem lassen sich die Enden nur schwer mit dem grobkantigen Speisemesser schneiden. Der Schinken ist von sehr guter Qualität, kann sich aber geschmacklich kaum durchsetzen, weil er zu gering portioniert ist. Und auch die wenigen Scheiben Kumquat wirken eher wir eine verlegene Idee als eine souveräne Entscheidung. Trotz allem erhält man durchaus ein ansprechendes Geschmacksbild, wenn man alle Zutaten miteinander kombiniert (was aber aufgrund der ungleichen Verhältnisse nur zu Beginn gelingt) und noch etwas von der exzellenten Sauce aufnimmt. Insgesamt gibt das Gericht damit zwar eine gute, aber keine bemerkenswerte Produktdarbietung ab. (6-7/10)

Ganz anders eine Cremesuppe mit Morcheln, echtem Knoblauchschwindling und grünem Spargel. Der betörende Duft edler Wildpilze schwebt über dem Tisch. In der Tellermitte findet man einen mit Morchel gefüllten Ravioli, der durch seinen exzellent gearbeiteten Teig noch etwas zusätzliche Textur ins Spiel bringt. All dies ergibt ein leichtfüßiges Spiel mit frischen, erdigen Aromen, zusammengehalten von einem wunderbar cremigen Sud, von diesem allerdings etwas zu viel. Vergleicht man mein Foto mit einem eigenen von Michel Guérard, fällt das Ungleichgewicht auf: die leuchtenden, farbenfrohen Zutaten lachen einen dort förmlich an. Hier bedeckt sie der Sud komplett, wodurch die feinen Zutaten recht schnell nachgaren und sich mit Flüssigkeit vollsaugen. Das ist alles andere als ein großes Problem, aber gleichwohl eine kleine Nachlässigkeit in einem ansonsten perfekten Ensemble, dem man übrigens sein Alter gar nicht ansieht. Das Gericht wurde 1976 hier kreiert und steht noch immer auf der Karte! Gutes ist eben häufig zeitlos. (8-9/10)

Es geht weiter mit am Kamin geräucherten halben Hummer mit confierter Zwiebel. Der Hummer wurde dafür in mundgerechte Stücke zerteilt, wieder in seine Schale eingesetzt und mit recht großen Mengen an Petersilie und Basilikum drapiert. Um sich dem Gericht zu nähern, muss man das Basilikumsträußchen erst einmal entfernen, eine Notwendigkeit, die ich bei der Pasta Arrabiata eines Nachbarschaftsitalieners noch akzeptabel, aber in einem Drei-Sterne-Restaurant befremdlich finde. Ebenfalls befremdlich sind dann Probleme bei der Zubereitung und bei der Komposition in Summe. Der Hummer ist etwas zu weich und lässt damit die ganz leichte Al-dente-Textur eines frisch zubereiteten Hummers vermissen, und die im Ofen geschmorte und überbackene Zwiebel ist ebenfalls ein Kuriosum: das durch die lange Garung marmeladenartig gewordene Innere der Zwiebel schmeckt sehr süß, allerdings nicht nach Zwiebel, sondern nach Pfirsichsirup, offenbar irgendein Effekt der langen Garung. Nun streift man den Hummer durch eine makellose Buttersauce mit Kräutern und fragt sich, wohin mit der heißen, zwiebeligen Pfirsichmarmelade. Ich finde keine Verwendung. (6/10)

Gleichwohl genieße ich den Abend. Es ist nicht die Situation, in der ich irgendwelche Nachlässigkeiten anmerken würde.

Als nächsten Gang habe ich Perlhuhn bestellt („l’opulente pintade de Chalosse sur les braises“), eine Spezialität dieser Region. Selbst die Speisekarte ziert als Aufmacher ein Abbild dieses Vogels. Augenscheinlich perfekt gebraten mit schönen Röstfarben wird zuerst ein großes Stück des Tiers im Ganzen präsentiert, dann folgt noch ein Holunderblütengranité, um die weitere Wartezeit zu überbrücken. Ich bin kein Freund von Wassereis – nichts Anderes ist das ja –, aber dieses ist einwandfrei zubereitet.

Vom Perlhuhn werden wenig später drei breite Tranchen der Brust mit knuspriger Haut serviert. Sie sind mit Foie Gras und Kräutern farciert und in Bratenjus angerichtet. Die außerordentliche Qualität des Fleischs, die sich in bemerkenswerter Zartheit und einem feinen Eigengeschmack bemerkbar macht, ist über alle Zweifel erhaben.

Aber.

Auch beim allerbesten Huhn ist das Brustfleisch – so zart und saftig es auch zunächst erscheint – am Ende immer etwas trocken. Der Bratenjus allein reicht für die hier servierte Menge Fleisch nicht aus, um diesen Eindruck zu kompensieren. Die anderen Komponenten, eine Mischung (salpicon) aus Erbsenpüree, verschiedenen Pilzen und Kräutern sowie ein Stück frittiertes Lammbries, bringen zwar etwas Abhilfe, lenken dafür aber auch die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Produkt weg. Ich bin mir sicher, dass man dem exzellenten Huhn noch besser huldigen könnte, wenn man wollte. (8/10)

Ich probiere als Hauptgang auch den am Kamin gegrilltenLachs (saumon grillé à la cheminée), der mit verschiedenen Gemüsen in einem Geflügeljus und unter einer mit Rauch gefüllten Cloche serviert wird. Der Rauch ist extrem intensiv, ein bisschen zu viel des Guten, was sich dann auch im Aroma des Fischs niederschlägt und sein authentisches Aroma kaschiert. Die Qualität ist exzellent, auch die Gemüse sind auf den Punkt gegart, aber wirkliche Harmonie stellt sich hier, vor allem des Rauchs wegen, nicht ein. (7/10)

Als Dessert wähle ich den millefeuille pour Schéréhazade mit Sultan-Creme und karamellisierten Aprikosen. Für immer in Erinnerung wird mir dieser Blätterteig bleiben: so hauchdünn und knusprig, aber keinesfalls trocken, ist er wohl nicht weiter zu perfektionieren. Doch der Rest ist regelrecht banal. Sowohl dem Millefeuille im Ganzen als auch dem Himbeercoulis fehlt es an Süße, und die Schaumrolle auf der rechten Seite schmeckt so uninteressant wie sie aussieht. Ein Schock, immerhin ist Guérard ursprünglich Patissier. (6/10)

Ein weiteres Dessert, das ich probiere, trägt den Titel gâteau mollet du Marquis de Béchamel. Die mächtige Kreation ist ein Konstrukt aus Rhabarber-Eis, weichem Kuchen und Himbeeren. Natürlich hat dieses Dessert alle Attribute, um den Appetit nach Süßem zu stillen, doch eine Offenbarung aus der Patisserie ist das auch nicht. Und wer soll das alles aufessen? (6/10)

Ein ausgiebiger Spaziergang durch den zur Nacht geschmackvoll beleuchteten Garten hilft, die Gedanken zu sortieren. Tatsache ist, dass dieses Restaurant eine Küche bietet, die vor allem ein kulinarisches Erbe zur Schau stellt. Genau das habe ich hier gesucht und auch gefunden. Kritik an der Konzeption einzelner Gerichte wäre, wenngleich an einigen Stellen sicherlich angebracht, vermessen und käme auch vierzig Jahre zu spät. Doch was ich kritisieren muss, ist, dass grundlegende Aspekte einer Küche auf diesem Niveau heute Abend zu häufig nachlässig behandelt wurden. Verfehlte Garpunkte, unstimmige Proportionen und verräucherte Gerichte dürften auf dem vom Michelin attestierten Niveau von drei Sternen kein Thema sein. Stattdessen sollte man Präzision vorfinden: von der Produktauswahl bis zur Zubereitung. Und auch die Produkte: sie waren gut bis sehr gut, aber keine Offenbarung.

Die Nouvelle Cuisine ist alt geworden. Wenn man sie nicht mit größter Sorgfalt behandelt, kippt ein solches Mahl schnell. Dann vermisst man den Fortschritt, der in die Küchen eingezogen ist, und von dem man als Gast in fast allen Spitzenrestaurants unserer Epoche profitieren kann: präzise Aromen, akkurate Garpunkte, mannigfaltige Produkte, hohe Kreativität – und dadurch mehr Genuss.

Doch war ich hier nicht auf der Suche nach moderner Küche. Ich hatte kein anderes Ziel als dieses Restaurant zu besuchen und die Küche einer Kochlegende zu genießen. Und das habe ich, in vollen Zügen, von mittags bis in die Nacht, und am nächsten Vormittag gleich wieder im Mère Poule unten im Dorf zu einem wundervollen Gazpacho und herzhaften tartines als Stärkung für die Route. Fabelhaft!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Les Prés d’Eugénie (→ Website)
Chef de Cuisine: Michel Guérard
Ort: Eugénie-les-Bains, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 17.05.2016
Guide Michelin (F/MC 2016): ***
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